Auktoriales Erzählen - Wenn der Erzähler alles weiß und
alles kann
Die
▪
auktoriale Erzählsituation
weist eine Reihe von
charakteristischen Merkmalen auf, die sie von anderen
▪
Erzählsituationen
unterscheiden. Von den ▪ drei
Konstituenten, die nach Stanzel das Erzählen ausmachen (Person,
Perspektive, Modus) dominiert hier der Pol der ▪ Außenperspektive.
Als Idealtypus ist die auktoriale Erzählsituation dadurch
charakterisiert, "dass ein allwissender Erzähler außerhalb der von
ihm erzählten fiktionalen Welt steht, über die er absolute Kontrolle
ausüben kann. Seine Allwissenheit und seine absolute Macht sind nnur
zwei Seiten einer Medaille: Wenn der Erzähler mal in die
Vergangenheit zurückspringt, mal in die Zukunft vorgreift, mal in
diese, mal in jene Figur hineinschaut, dann aber wieder einen
olympischen Panoramablick aufs große Ganze gewährt, dann ist dies
freie, gänzlich unlimitierte Schalten und Walten Ausweis und
Ausübung uneingeschänkten auktorialen Erzählens." (Bode
2005, S.165)
Der auktoriale Erzähler ist nicht identisch mit dem Autor
Auch wenn man das leicht verwechseln kann:
Der auktoriale Erzähler ist nicht identisch mit dem Autor,
sondern wird von diesem zur Darbietung der Erzählung auf eine
bestimmte Art und Weise gestaltet. Gewöhnlich kommt der reale Autor
in der Geschichte nicht selbst zu Wort, stattdessen tut dies der
fiktive Erzähler gewissermaßen als Stellvertreter. Die Beziehung
zwischen Erzähler und Autor lässt sich vereinfacht auf den Satz
bringen: "Der reale Autor erfindet, der fiktive Erzähler erzählt,
was gewesen ist." (Scheffel
2006, S.106)
Bei einer
Textinterpretation kann es also nicht heißen: "Der Autor XY
berichtet ...". Stattdessen muss es heißen: "Der Erzähler berichtet,
kommentiert, spricht an...".
Der auktoriale Erzähler ist quasi persönlich anwesend
Im Gegensatz zur ▪ personalen und ▪
neutralen Erzählperspektive, die
quasi erzählerlos daherkommen, hat auktoriales Erzählen einen
persönlich anwesenden Erzähler. Das bedeutet vereinfacht
ausgedrückt, dass man die Art und Weise, wie das Erzählte dargeboten
wird, einem konkreten Erzähler zuordnen kann, der die "Geschichte"
als Ganzes so präsentiert, wie er sie sieht und sie vermitteln will.
Anders ausgedrückt: Man spürt beim Lesen einen ausgeprägten
Gestus des Erzählens bei der Vermittlung der erzählten Wirklichkeit
(= "Distanz zum Erzählten"
Graevenitz
1982, S.93)
Und doch darf dies
nicht dazu verleiten, sich den auktorialen Erzähler als einen
konkreten Menschen, eine ganz konkrete Figur bzw. Person
vorzustellen. Wir sind deshalb schnell geneigt, dies zu tun, "weil
wir reflexartig jeder 'Stimme' jemanden hinzuimagieren, der da
spricht - eine Person." (Bode
2005, S.169). In Wahrheit ist der auktoriale Erzähler nicht mehr und
nicht weniger als ein "Text-Aspekt [...] also gar kein
Lebewesen und daher unsterblich." (ebd.,
S.171)
Aber auch das
bedeutet nicht, dass es auch in der auktorialen Erzählsituation
immer wieder Bestrebungen gibt, den auktorialen Erzähler quasi in
einer "Hybrid-Form" (ebd.,
S.175) stärker zu "verpersönlichen". Dann "(kommt) der auktoriale
Erzähler - eigentlich gar kein Mensch - (...) dem Leser nun
menschlich" und wird "durch die Art und Weise seines Erzählens,
seine Wortwahl, seine Kommentierung, seiner Wertungen usw. als
Person, als Mensch mit anggebbaren Konturen und Zügen vorstellbar" (ebd.).
Ein solcher "zur Person ausstafierter auktorialer Erzähler [...]
eigentlich ein Unding." (ebd.)
Der auktoriale Erzähler ist gegenüber seiner Geschichte "allwissend",
d. h. er ist nicht an den oder Wahrnehmungshorizonte der erzählten
Figuren gebunden, sondern initiiert und lenkt den Erzählvorgang, wie
er will. Deshalb hat man ihn auch immer wieder mal den "Gottvater
unter den Erzählinstanzen" (Bode
2005, S.149) genannt, weil nur dieser Erzähler einen
"gottgleichen Blick auf die Gesamtheit der erzählten Welt" (ebd.)
besitzt. Auch dies im Übrigen ein Hinweis darauf, dass der Erzähler
gar kein Mensch sein kann, denn eine allwissende Perspektive ist
eben für Menschen unmöglich, was anders ausgedrückt bedeutet: Wir
lassen uns den herausgestellten oder unterstellten Wahrheitsanspruch
der auktorialen Erzählsituation einfach gefallen (Wenn der
auktoriale Erzähler sagt, dass etwas so war, dann war es eben auch
so. (vgl. ebd.,
S.166). Zugleich beruht er aber darauf, dass die auktoriale
Perspektive eigentlich "unmöglich ist." (ebd.,
S.172)
Wenn man von der persönlichen Anwesenheit des auktorialen
Erzählers spricht, bedeutet dies allerdings nicht, dass sein Tun und
die Art und Weise, wie er erzählend handelt, immer offensichtlich
ist. Wie viel er nämlich von sich preisgibt, kann sehr
unterschiedlich sein und auch in einer Erzählung kann er sich mal
mehr, mal weniger zeigen. Dies
unterschiedliche Ausmaß der Selbstkundgabe ist dabei stets
ins Belieben des Erzählers gestellt bzw. des Autors / der Autorin,
die ihn gestaltet.
Dabei kann ein auktorialer Erzähler durchaus auch "Ich" sagen,
ohne dass es sich dann um Ich-Erzähler handelt, weil der Unterschied
zwischen einer Ich- und einer Er-Erzählung keine "grammatische
Demarkationslinie", sondern eine ontologische Grenze darstellt, "die
Seinsbereiche voneinander trennt." (Bode
2005, S.149) Wie beim Marionettenspiel, bei dem sich der
Erzähler der Geschichte immer räumlich außerhalb der Bühne befindet,
ist er eben auch ein ganz anderes Wesen aus Fleisch und Blut,
während die Figuren nur aus Holz geschnitzt sind. (vgl.
ebd.)
Erzählerstandort: Außerhalb der Welt der Erzählung
Der
auktoriale Erzähler steht außerhalb der
fiktionalen Welt der Figuren (▪ Außenperspektive).
Er ist keine handelnde Figur der erzählten Welt, sondern arrangiert
und organisiert diese nach Belieben. Sein
Point
of view liegt im Bewusstsein eines
außerhalb der erzählten
Welt befindlichen Erzählers.
So kann er z. B. die Chronologie der erzählten Ereignisse nach
Belieben gestalten, indem
Vorausdeutungen
und
Rückwendungen
einfügt, das erzählte Geschehen rafft oder dehnt. Er kann aber auch
trotz der generellen Außenperspektive, eben weil er alles kann, das
Innenleben von Figuren darstellen.
Dabei kann er seine wichtigen
Erzählentscheidungen
offenlegen oder nicht und dem Leser seine Auswahl erzählter
Ereignisse, z. B. bei Zeitraffungen, verdeutlichen oder nicht.
Innen- und Außensicht aller Figuren
Im Gegensatz zur ▪ personalen
Erzählperspektive kann der auktoriale Erzähler die inneren Vorgänge
(Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle) prinzipiell aller in der Erzählung
vorkommen Figuren wiedergeben (Innensicht).
Darüber hinaus kann er sie natürlich auch von außen betrachten (Außensicht).
Erzählerbericht und Erzählerkommentar
Der auktoriale Erzähler
erzählt im Modus des
Telling.
Darunter versteht man den summarischen
Erzählerbericht
i. e. S. und den sog. Erzählerkommentar. Das sind
eigentlich Erzählereinmischungen wie
die
Anrede des Lesers durch den
Erzähler, Exkurse, direkte Eingriffe in das Geschehen
durch:
Vorausdeutungen,
Rückwendungen,
fiktiver Diskurs mit den Figuren, (= "überlegene Distanz zum
Erzählten, um die Distanz zum Leser abzubauen"
Graevenitz
1982, S.93).
Aus der Distanz des auktorialen Erzählers zum Erzählten
resultiert auch zum Teil die häufige Verwendung der
indirekten Rede und des
▪
Konjunktiv.
Die geistige Physiognomie des auktorialen Erzählers (Franz K. Stanzel)
Franz
K. Stanzel, auf den die traditionelle Unterscheidung von Erzählsituationen zurückgeht, betont den
prinzipiellen Unterschied zwischen Autor und Erzähler, indem er die Rolle
des Erzählers als einer Art "Zwischenträger"
zwischen Autor und Leser betrachtet.
Außerdem hebt er hervor, dass die
Sicht des Erzählers auf das von ihm dargestellte Geschehen stets subjektiv
ist, die Geschichte, wenn man so will, lediglich als Konstrukt des
Erzählers aufzufassen ist. Dadurch scheine auch die "geistige
Physiognomie" des auktorialen Erzählers durch.
"In jedem Fall jedoch bedeutet auktoriales Erzählen
Selbstkundgabe eines persönlichen und außerhalb der dargestellten Welt
stehenden Erzählers, der sich mit seiner Selbstkundgabe im Erzählakt
auch der Interpretation stellt. Wichtige Anhaltspunkte dafür, wie sich
der Leser zu ihm einzustellen hat, liefert bereits die vom Erzähler
angenommene Rolle, [...].
Daraus sind bereits Schlüsse auf die Lage seines Standpunktes, seine
Perspektive und die Weite seines Beobachtungshorizontes zu ziehen […] Aufschlussreicher als die Rolleneinkleidung des auktorialen Erzählers sind
seine Einmengungen, seine Zwischenrede und seine
Kommentare zum erzählten
Geschehen. In diesen Einschaltungen zeichnet sich nämlich die
geistige
Physiognomie des auktorialen Erzählers ab, seine Interessen, seine
Weltkenntnis, seine Einstellungen zu politischen, sozialen und
moralischen Fragen, seine Voreingenommenheit gegenüber bestimmten
Personen oder Dingen.[…]
Seine Einmengungen üben [...], während
sie das Geschehen erläutern und kommentieren, einen vom Leser nicht immer
bewusst wahrgenommenen Einfluss auf ihn aus. Sie regen seine Erwartung bezüglich
der Geschichte in einer ganz bestimmten Richtung an, lenken sein Interesse,
pflanzen Keime für Zweifel im Hinblick auf das Verhalten eines Charakters,
steigern den Eindruck der einen Szene und dämpfen den einer anderen usw.
Der Leser ist also den auktorialen Suggestionen in viel größerem Maße
ausgeliefert als ihm im allgemeinen bewusst wird. Wenn der "geschätzte"
oder "aufmerksame" Leser vom Erzähler ins Vertrauen gezogen wird,
etwa über eine Frage, wie wohl dies oder jenes Ereignis am besten
darzustellen sei, oder über ein Problem, das die Gedanken des Erzählers
persönlich und ganz unabhängig von der Erzählung zu beschäftigen
scheint, so geschieht dies nicht zuletzt mit der Absicht, einen guten
Kontakt zwischen Erzähler und Leser herzustellen, was wiederum die
Voraussetzung dafür zu sein scheint, dass sich der Leser den
unterschwelligen Anleitungen des Erzählers gegenüber öffnet. [...]
(aus:
Franz K.
Stanzel (1979), Typische Formen des Romans, Göttingen: Vandenhoek
&Ruprecht 9. Aufl. 1979,)
Erzählperspektiven können
sich auch innerhalb eines Textes ändern
Ein literarischer Text
muss keineswegs das Erzählte nur aus einer Erzählerperspektive
darbieten, auch wenn viele Texte das tun. In der modernen Literatur
werden die Erzählperspektiven aber auch häufig innerhalb ein und
desselben Textes geändert. Daher lassen sich bestimmte
Erzählperspektiven oft unbedingt zur Charakterisierung eines gesamten
Werkes oder auch nur eines größeren Abschnitts heranziehen, "sondern
lediglich zur Klassifizierung kleinerer Erzähleinheiten" (Vogt
1990, S. 52)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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