In ihrem Roman »"Die Wand" (1962) gestaltet
»Marlen Haushofer
(1920-1970) den Erzähler als ▪
tendenziell auktorial.
Der Roman "Die Wand" (1962) erzählt das Leben der Ich-Erzählerin in einer außergewöhnlichen
Extremsituation.
Als einzige Überlebende einer Katastrophe, von der sie
annimmt, dass sie sich durch den Einsatz einer Geheimwaffe einer Großmacht
ausgelöst worden ist, beginnt die Ich-Erzählerin über zwei Jahre nach diesem
Ereignis einen Bericht zu schreiben.
Vor über zwei Jahren war sie übers
Wochenende mit ihrer Cousine und deren Mann sowie dessen Hund Luchs zur
Jagdhütte ihrer Verwandten gefahren. Als ihre Verwandten nach einem
abendlichen Spaziergang nicht mehr zurückkehren, macht sich die
Ich-Erzählerin anderntags mit dem Hund Luchs auf die Suche, stößt aber dabei
"etwas Unsichtbares, Glattes, Kühles", das sie am Weitgehen hinderte. (S.15)
Dieses "Ding" nennt sie fortan die "Wand" (S.16), die undurchdringlich, aber
durchsichtig ist, und das erstarrte Leben außerhalb von dem existierenden
Leben innerhalb des von der Wand umgrenzten Gebietes trennt.
Schon zu Beginn
ihres Berichts gibt die Ich-Erzählerin zu erkennen, dass sie die Geschichte
aus einer auktorialen Erzählperspektive in der
Retrospektive zu erzählen
gewillt ist. Zugleich zeigt sie sich der Tatsache bewusst, dass trotz ihrer
Bemühungen, das Geschehene anhand von
Notizen zu "reorganisieren",
ihre Erinnerung von späteren Wahrnehmungen, Erfahrungen und Einsichten
überlagert sein könnte ("dass
sich in meiner Erinnerung vieles anders ausnimmt, als ich es wirklich
erlebte.").
Mit der Preisgabe ihres vordringlichen
Motivs zur Abfassung des Berichts
thematisiert sie sich darüber hinaus als auktorialer Erzähler.
Der Umgang
mit der erzählten Zeit weist darüber hinaus darauf hin, dass der
Ich-Erzähler die Elemente seiner Geschichte eindeutig von einem zeitlich
späteren Standpunkt heraus erzählt ("Heute,
am fünften November", "im
Lauf des vergangenen Winters", "Zehn
Tage waren vergangen", "Schon
damals, am zehnten Mai", "noch
viel später", "heute"
).
Die Erzählergegenwart, die Zeitebene also beim Abfassen des Berichts,
erstreckt sich über nahezu vier Monate, beginnend mit dem 5. November und
endet am 25. Februar, an dem, wie die Ich-Erzählerin notiert, alles Papier
zum Schreiben aufgebraucht ist. (S.276)
Die
zweipolige Ich-ich-Struktur wird an den Reflexionen und
Kommentaren sichtbar, die die Ich-Erzählerin aus der Erzählergegenwart in
den Bericht an mehreren Stellen des Auszugs einfügt (z. B. "Wenn
ich heute an meine Kinder denke" bis "wenn
sie diesen Vorgang zur Kenntnis nähme?"; "Heute
frage ich mich manchmal" bis "warten
und versuchen, am Leben zu bleiben.")
"Heute,
am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles
so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht einmal,
ob heute wirklich der fünfte November ist.
Im Lauf des vergangenen Winters
sind mir einige Tage abhanden gekommen. Auch den Wochentag kann ich nicht
angeben. Ich glaube aber, dass dies nicht sehr wichtig ist. Ich bin
angewiesen auf spärliche Notizen; spärlich, weil ich
ja nie damit rechnete, diesen Bericht zu schreiben, und ich fürchte,
dass sich in meiner Erinnerung vieles anders ausnimmt, als ich es wirklich
erlebte.
Dieser Mangel haftet wohl allen Berichten an. Ich schreibe nicht aus
Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben
muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. [...] "(S.7)
"Zehn Tage waren
vergangen und nichts hatte sich an meiner Lage verändert. Zehn Tage
lang hatte ich mich mit Arbeit betäubt, aber die Wand war noch immer da
und keiner war gekommen, um mich zu holen. Es blieb mir nichts übrig, als
mich endlich der Wirklichkeit zu stellen. Ich gab die Hoffnung damals noch
nicht auf, noch lange nicht. Selbst als ich mir endlich sagen musste, dass
ich nicht länger auf Hilfe warten durfte, blieb diese irrsinnige Hoffnung
in mir; eine Hoffnung gegen jede Vernunft und gegen meine eigene
Überzeugung.
Schon
damals, am zehnten Mai, schien es mir sicher, dass die Katastrophe von
riesigem Ausmaß war. Alles sprach dafür, das Ausbleiben der Retter, das
Schweigen der Menschenstimmen im Radio und das wenige, das ich selber
durch die Wand gesehen hatte.
Noch viel später, als fast jede Hoffnung
in mir erloschen war, konnte ich noch immer nicht glauben, dass auch meine
Kinder tot wären, nicht auf diese Weise tot wie der Alte am Brunnen und
die Frau auf der Hausbank.
Wenn ich heute an meine Kinder
denke, sehe ich sie immer als Fünfjährige und es ist mir, als wären sie
schon damals aus meinem Leben gegangen. Wahrscheinlich fangen alle Kinder
in diesem Alter an, aus dem Leben ihrer Eltern zu gehen; sie verwandeln
sich ganz langsam in fremde Kostgänger. All dies vollzieht sich aber so
unmerklich, dass man es fast nicht spürt. Es gab zwar Momente, in denen
mir diese ungeheuerliche Möglichkeit dämmerte, aber wie jede andere Mutter
verdrängte ich diesen Eindruck sehr rasch. Ich musste ja leben und, und
welche Mutter könnte leben,
wenn sie diesen
Vorgang zur Kenntnis nähme?
Als
ich am zehnten Mai erwachte, dachte ich an meine Kinder als an kleine
Mädchen, die Hand in Hand über den Spielplatz trippelten. Die beiden eher
unangenehmen,
lieblosen und streitsüchtigen Halberwachsenen, die ich in der Stadt
zurückgelassen hatte, waren plötzlich ganz unwirklich geworden. Ich
trauerte nie um sie, immer nur um die Kinder, die sie vor vielen Jahren
gewesen waren. Wahrscheinlich klingt das sehr grausam, ich wüsste aber
nicht, wem ich heute noch etwas vorlügen sollte.
Ich kann mir
erlauben, die Wahrheit zu schreiben; alle, denen zuliebe ich mein
Leben lang gelogen habe, sind tot.
Im Bett
fröstelnd, überlegte ich, was zu tun wäre. Ich konnte mich umbringen
oder versuchen, mich unter der Wand durchzugraben, was wahrscheinlich nur
eine mühevollere Art des Selbstmords gewesen wäre. Und natürlich konnte
ich hier bleiben und versuchen, am Leben zu bleiben.
Um ernstlich an Selbstmord zu denken, war ich
nicht mehr jung genug. Hauptsächlich hielt mich auch der Gedanke an
Luchs1
und Bella2
davon ab und außerdem eine gewisse Neugierde. Die Wand war ein Rätsel und,
und ich hätte es nie fertig gebracht, mich angesichts eines ungelösten
Rätsels davonzumachen. [...]
Über die Wand zerbrach ich mir nicht allzu sehr den Kopf. Ich nahm an, sie
wäre eine neue Waffe, die geheim zu halten einer der Großmächte gelungen
war; eine ideale Waffe, sie hinterließ die Erde unversehrt und tötete nur
Menschen und Tiere. Noch besser freilich wäre es gewesen, hätte man die
Tiere verschonen können, aber das war wohl nicht möglich gewesen. Solange
es Menschen gab, hatten sie bei ihren gegenseitigen Schlächtereien nicht
auf die Tiere Rücksicht genommen. Wenn das Gift, ich stellte mir
jedenfalls eine Art Gift vor, seine Wirkung verloren hatte, konnte man das
Land in
Besitz
nehmen. Nach dem friedlichen Aussehen der Opfer zu schließen, hatten sie
nicht gelitten; das ganze schien mir die humanste Teufelei, die je ein
Menschenhirn ersonnen hatte.
Ich konnte nicht ahnen, wie lange das Land unfruchtbar bleiben würde, ich
nahm an, sobald es betretbar war, würde die Wand verschwinden und, und die
Sieger würden einziehen.
Heute frage ich mich manchmal,
ob das Experiment, wenn es überhaupt etwas Derartiges war, nicht ein wenig
zu gut gelungen ist. Die Sieger lassen so lange auf sich warten.
Vielleicht gibt es gar keine Sieger. Es hat keinen Sinn, darüber
nachzudenken. Ein Wissenschaftler, ein Spezialist für Vernichtungswaffen,
hätte wahrscheinlich mehr herausgefunden als ich, aber es hätte ihm wenig
genützt. Mit all seinem Wissen könnte er nichts anderes tun als ich,
warten und versuchen,
am Leben zu bleiben." (S.39ff.)
1Luchs:
Hund, der mit der Ich-Erzählerin überlebt hat
2Bella:
Kuh, die mit der Ich-Erzählerin überlebt hat
(aus: Marlen Haushofer, Die Wand, Frankfurt/M.: Ullstein
1990, S. 7, S. 39ff. gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023