▪ Leitfragen zur Analyse der
Zeitgestaltung in einer Erzählung
Kriterien zur Differenzierung von Rückwendungen (Analepsen)
Bei der
▪ Rückwendung wird ein Ereignis nachträglich im Bezug auf den Zeitpunkt
des aktuellen erzählten Geschehens in die
Basiserzählung eingefügt. Oft wird
dies auch als Rückgriff, in der
Erzähltheorie
von »Gérard
Genette (1930-2018) (1972,
dt. 1994/1998)
Analepse,
sonst auch Retrospektion
genannt.
Dabei kann die Analepse eine unterschiedliche
Reichweite und einen verschiedenen Umfang haben.
Ferner kann sie sich im Zeitfenster der
Basiserzählung befinden (=
interne Analepse) oder über diese hinaus bis in die vor der eigentlich
erzählten Geschichte liegende Vorgeschichte zurückgreifen (= externe
Analepse).
Reichweite und Umfang der Rückwendung
Grundsätzlich kann man beide Hauptformen anachronischen
Erzählens, die ▪ Vorausdeutungen ebenso wie
die ▪ Rückwendungen, nach den Kriterien der
Reichweite und des Umfangs unterscheiden (vgl.
Genette, 2. Aufl. 1998, S.31ff.):
-
Mit der
Reichweite bezeichnet man den "zeitliche(n)
Abstand zwischen der Zeit, auf die sich der Einschub bezieht, und
dem gegenwärtigen Augenblick der Geschichte" (Martínez/Scheffel
1999/2016, S.37). Auf der Basis des Kriteriums der Reichweite
lassen sich die externen und internen Analepsen unterscheiden, "je
nachdem, ob der Punkt, bis zu dem sie zurückreichen, außerhalb oder
innerhalb der Zeitfeldes der
Basiserzählung liegt." (Genette,
2. Aufl. 1998, S.41)
-
Mit dem
Umfang bezeichnet man "die im Rahmen es
entsprechenden Einschubs erfasste, mehr oder weniger lange Dauer der
Geschichte" (Martínez/Scheffel
1999/2016, S.37
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Interne und externe Analepsen (Rückwendungen)
Mit Analepsen (Rückwendungen) lassen sich die Lücken, die zeitliche
Sprünge - Genette nennt dies Ellipsen - beim
Erzählen hinterlassen haben, ebenso im Rückblick (Retrospektion)
füllen wie jene Fakten einer Erzählung, die vom Erzähler zunächst einmal
einfach beiseite gelassen worden sind (Paralipse).
Einschübe, die sich mit der Funktion zeitliche Lücken auf der temporale
Erzählebene der
Basiserzählung zu schließen (Ellipsen), stellen "zeitlich
gesehen eine zweite Erzählung" (Genette,
2. Aufl. 1998, S.32) dar. Sie lassen sich nach ihrer Stellung zu dem
Zeitgefüge der Basiserzählung unterscheiden.
-
Gehört das
in der Rückwendung (Analepse) dargestellte Geschehen zu dem in der
Haupthandlung bzw. "Basiserzählung" (Genette,
2. Aufl. 1998, S.32) erzählten Zeitabschnitt, handelt es sich um
eine interne Analepse, (vgl.
ebd.),
"deren Zeitfeld in das der Basiserzählung fällt" und leicht Gefahr
laufe, "redundant zu sein oder mit bereits Erzähltem zu kollidieren."
ebd.,
S.33). Dabei lassen sich interne Analepsen noch danach
unterscheiden, ob sie einen Strang der Geschichte bzw. Inhalt der
erzählten Welt betreffen, der sich von dem, was die
Basiserzählung ausmacht, unterscheidet (heterodiegetische
interne Analepse) oder "den Handlungsstrang der Basiserzählung
betreffen" (ebd.,
S.33) (homodiegetische
interne Analepse).
-
Homodiegetisch interne Analepsen können
kompletiv
sein, Genette nennt diese Form "Rückblenden" [renvois]" (ebd.,
S.34), wenn sie frühere zeitliche Lücken der Erzählung schließt,
die beim Erzählen schon mal als "Risse im Zeitkontinuum" (bei
Genette Ellipsen) provisorischer Weise ausgelassen worden sind.
-
Homodiegetische interne Analepsen müssen indessen nicht immer "ein
einziges Ereignis an einem einzigen Punkt der vergangenen Geschichte
- und eventuell der früheren Erzählung - " (ebd.,
S.35) unterbringen. Genauso gut kann es auch ein Ereignis oder
ein Geschehen sein, das in der Vergangenheit immer wieder
vorgekommen ist. Dies ist z. B. der Fall, wenn bestimmte immer
wiederkehrende Gewohnheiten, Handlungen in einem nur vage bestimmten
Zeitfenster (z. B. beim Weihnachtsessen kommt immer wieder ein
Karpfen auf den Tisch) vom Erzähler immer wieder aufgegriffen
werden. Diese Art von Analepsen, die sich oft als Reminiszensen
(Rückerinnerungen) zeigen, werden von Genette
repititive Analepsen (dt.
Rückgriffe, frz. rappels) genannt. (vgl.
ebd., S.36)
-
Gehört das
in der Rückwendung (Analepse) dargestellte Geschen nicht zu dem
in der Haupthandlung bzw. "Basiserzählung" (Genette,
2. Aufl. 1998, S.32) erzählten Zeitabschnitt (vgl. Abb.
?), handelt es sich um eine
externe Analepse. (vgl.
ebd.
S.33), die nie Gefahr laufe "sich mit der Basiserzählung zu
überschneiden". Ihre Aufgabe bestehe nämlich ausschließlich darin, die
Basiserzählung zu ergänzen, um den Leser über das eine oder andere
'frühere Ereignis' zu unterrichten." (ebd.)
Paralipsen
können faktische Lücken füllen
Es gibt aber
auch Auslassungen, die nur bedingt temporal verstanden werden können,
die also im Grunde keine zeitlichen Lücken bzw. Sprünge (Ellipsen)
darstellen, sondern darin bestehen, dass der Erzähler ein bis zur
Erzählgegenwart nicht erwähntes oder gar absichtlich verschwiegenes
Faktum an einer vergleichsweise Sie können an einem späteren Zeitpunkt
der Erzählung vergleichsweise unabhängig vom eigentlichen Zeitverlauf
dann eingefügt werden, wenn es dem Erzähler opportun erscheint. Diese
Form der Retrospektion wird auch
Paralipse genannt (vgl. ebd.).
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.12.2023
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