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Zeitgestaltung
im erzählenden Text
Bausteine
•
Gliederung
für die Beschreibung der Zeitgestaltung
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Zeitdehnung und imaginäre
Zeit - Interpretationsansatz von Edgar Neis (1965)
Jaromir Hladik, Autor der unvollendeten Tragödie Die Feinde, einer
Ehrenrettung der Ewigkeit und einer Untersuchung der indirekten jüdischen
Quellen bei Jakob Böhme, träumte in der Nacht des 14. März 1939 in
einer Wohnung in der Zeltnergasse in Prag von einer großen Schachpartie.
[...] Es war früher Morgen; die Panzervorhut des Dritten Reichs rückte
in Prag ein.
Am neunzehnten ging bei den Behörden eine Denunziation ein; am gleichen
neunzehnten wurde Jaromir Hladik verhaftet. Man schaffte ihn in eine
aseptisch saubere, weiß gekalkte Kaserne am anderen Ufer der Moldau. Er
konnte keine einzige Anschuldigung der Gestapo widerlegen; der
Familienname seiner Mutter war Jaroslawski, er war jüdischen Blutes,
seine Untersuchung über Böhme war angejudet, seine Unterschrift
verzögerte die Schlussredaktion einer Liste von Proteststimmen für den
Anschluss. 1928 hatte er das Sepher Ye tzira für den Verlag
Hermann Barsdorf übersetzt; der überschwengliche Prospekt dieses Hauses
hatte aus Geschäftsgründen den Namen des Übersetzers in den Himmel
gehoben. Diesen Prospekt hatte Julius Rothe, einer der Gestapoführer in
dessen Händen Hladiks Schicksal lag, durchgeblättert. Es gibt keinen
Menschen, der nicht außerhalb seines Spezialgebietes leichtgläubig ist;
zwei oder drei Adjektive in gotischen Lettern genügten, um Julius Rothe
von Hladiks Bedeutung zu überzeugen - er befahl, ihn zum Tode zu
verurteilen, "pour encourager les autres". Die
Hinrichtung wurde auf den neunundzwanzigsten März, neun Uhr morgens,
festgesetzt.[...]
Er kleidete sich an; zwei Soldaten betraten die Zelle und befahlen ihm,
ihnen zu folgen.
Jenseits der Tür hatte Hladik sich ein Labyrinth von Galerien, Treppen
und Seitengängen vorgestellt. Die Wirklichkeit war nicht so reich; sie
stiegen über eine einzige Eisentreppe in einen Hinterhof hinab. Mehrere
Soldaten - einer in einem aufgeknöpften Uniformrock - untersuchten ein
Motorrad und diskutierten darüber. Der Sergeant sah auf die Uhr: Es war
acht Uhr vierundvierzig. Es hieß warten, bis es neun schlug. Hladik
setzte sich, mehr unbedeutend als unglücklich, auf einen Holzstoß. Er
bemerkte, dass die Augen der Soldaten seinen auswichen. Um ihm das Warten
zu erleichtern, streckte der Sergeant ihm eine Zigarette hin. Hladik
rauchte nicht; aus Höflichkeit oder Demut nahm er sie. Als er sie
anzündete, merkte er, dass seine Hände zitterten. Der Tag bewölkte
sich; die Soldaten sprachen gedämpft, als sei er schon tot. Vergeblich
versuchte er, sich an die Frau zu erinnern, deren Symbol Julia von
Weidenau war ...
Das Pikett1 formierte sich,
richtete sich aus. Hladik erwartete aufrecht vor der Wand die Salve.
Jemand äußerte Besorgnis, die Wand könnte Blutspritzer abbekommen; da
befahl man dem Delinquenten, ein paar Schritte vorzutreten. Absurderweise
musste Hladik an die langwierigen Vorbereitungen beim Fotografen denken.
Ein schwerer Regentropfen streifte Hladiks Schläfe und rollte langsam
seine Wange herab. Der Sergeant schrie den Schussbefehl.
Das physische Universum blieb stehen.
Die Gewehre waren auf Hladik gerichtet, aber die Männer, die ihn töten
sollten, waren unbeweglich. Der Arm des Sergeanten verewigte eine
unabgeschlossene Gebärde. Auf eine Fliese des Hofs warf eine Biene einen
festen Schatten. Wie auf einem Bild hatte der Wind zu wehen aufgehört.
Hladik versuchte einen Schrei, eine Silbe, die Drehung einer Hand. Er
begriff, dass er gelähmt war. Kein noch so schwacher Laut erreichte ihn
mehr aus der lahm gelegten Welt. Er dachte: Ich bin in der Hölle, ich
bin tot. Er dachte: Ich bin wahnsinnig. Er dachte: Die Zeit
ist stehen geblieben. Dann überlegte er, dass in diesem Fall ja auch
sein Denken mit stehen geblieben wäre. Er wollte die Probe machen: ohne
die Lippen zu bewegen, sagte er sich die geheimnisvolle vierte Ekloge von
Vergil2 vor. Er meinte, die schon
fern gerückten Soldaten müssten sein Angstgefühl teilen; es drängte
ihn, sich mit ihnen ins Benehmen zu setzen. Es erstaunte ihn, dass er
keinerlei Ermüdung empfand, nicht einmal ein Schwindelgefühl durch das
lange unbewegliche Stehen. Nach einer unbestimmten Zeit schlief er ein.
Als er aufwachte, war die Welt noch immer unbeweglich und taub. Auf seiner
Wange dauerte der Wassertropfen, im Hof der Schatten der Biene; der Rauch
der Zigarette, die er fortgeworfen hatte, kam nicht dazu sich zu
verflüchtigen. Es verging ein weiterer Tag, bevor Hladik begriff.
Ein volles Jahr hatte er von Gott erbeten, um sein Werk zu beenden; ein
Jahr gewährte ihm seine Allmacht. Gott vollbrachte für ihn ein geheimes
Wunder: das Blei der Deutschen würde ihn zur bestimmten Stunde töten,
aber in seinem Geist würde ein Jahr vergehen zwischen dem Befehl zum
Feuern und der Ausführung des Befehls. Von der Bestürzung ging er zu
fassungslosem Staunen, von dem Staunen zur Ergebung, von der Ergebung zur
Dankbarkeit über.
Er verfügte über kein schriftliches Zeugnis außer seinem Gedächtnis.
Das Abwägen jeden Hexameters3 ,
den er hinzufügte, nötigte ihn zu einer vorteilhaften Strenge, von der
jene nichts ahnen, die vorläufige und verwaschene Sätze aufs Geratewohl
hinsudeln und vergessen. Er arbeitete nicht für die Nachwelt, nicht
einmal für Gott, über dessen literarische Lieblingskost er wenig wusste.
Peinlich genau, unbeweglich, geheim spann er in der Zeit ein hohes
unsichtbares Labyrinth. Zweimal überarbeitete er den dritten Akt. Er
tilgte das eine oder andere allzu deutliche Symbol: die wiederkehrenden
Glockenschläge, die Musik. Kein Einzelumstand machte ihm zu schaffen. Er
ließ fort, kürzte, erweiterte; in einem Fall kam er auf die erste
Fassung zurück. Er gewann schließlich den Hof, die Kaserne lieb; eines
der Gesichter ihm gegenüber änderte seine Auffassung vom Charakter
Roemerstadts. Er entdeckte, dass die grellen Missklänge, die Flaubert4
so erschreckten, bloßer Augenaberglaube sind: Schwächen und Beschwerden
des geschriebenen, nicht des klingenden Wortes... Er beendete sein Drama:
nur die Frage eines einzigen Beiwortes galt es noch zu lösen. Er fand es:
der Wassertropfen rollte über seine Wange herab. Er stieß einen Schrei
aus, wandte sein Gesicht, die vierfache Salve warf ihn nieder.
Jaromir Hladik starb am neunundzwanzigsten März, um neun Uhr zwei
Minuten.
(aus: Jorge Luis Borges, Sämtliche Erzählungen. Aus
dem Spanischen überragen von Karl August Horst sowie von Eva Hessel und
Wolfgang Luchting, München 1970: Carl Hanser Verlag, S. 243 - 250)
*Jorge
Luis Borges; 1899-
1986; argentinischer Schriftsteller; Gegner des Peronismus; verlor
mit 39 Jahren nach Unfall teilweise das Augenlicht; seit Ende der 50 er
Jahre gänzlich erblindet
Worterklärungen:
1Pikett:
Vorposten, Kompanie, Bereitschaft
2Vergil:
röm. Dichter, 70 v. Chr. - 19 v. Chr.; beeinflusst mit seinem Werk »Äeneis«
nachhaltig die europäische Epik
3Hexameter:
Vers bestehend aus 6 Versfüßen (meist Daktylen)
4Flaubert:
Gustave Flaubert, frz. Schriftsteller 1821-1880; Klassiker des frz. Romans
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