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Traditionelle Parabel: Textauswahl

Der Zweifel

»Clemens Brentano (1778-1842)

 
FAChbereich Deutsch
Glossar
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Bausteine 

 Eine traditionelle Parabel interpretieren
Didaktische und methodische Aspekte
Quicke: So interpretiert man eine traditionelle Parabel
Überblick
Aspekte der Schreibaufgabe
 Überblick
Den Bildbereich analysieren
Elemente des Bildbereichs in einen Sachbereich übertragen
Die Textinterpretation strukturieren
  Formulierungshilfen
Typische Schreibaufgaben
Arbeitsschritte
Musterbeispiele
Textauswahl

Der Zweifel
Clemens Brentano (1778-1842)

Parabel aus dem siebzehnten Jahrhundert

Ein reicher Hausvater hatte einen einzigen Sohn, der seine Verlassenschaft erben sollte. Er hätte ihn gar gern glücklich verheiratet gesehen, aber der Sohn war schwer zu befriedigen, oder vielmehr gar nicht; denn er konnte sich auf keine Weise entscheiden und schwankte immer von einer Braut zur andern. Darüber war der Vater ungeduldig und sprach: "Jetzt, mein lieber Sohn, führe ich dir zum letzten Mal vier schmucke Bräute hintereinander vor, aber mit der Bedingung, dass du zu der, welcher du einmal den Korb gegeben, nicht wieder zurückkehren kannst; auch will ich sie dir nicht zugleich vorstellen, sondern eine nach der andern. Siehe zu, dass du die beste erwählest!" Der Sohn versprach, sein möglichstes zu tun. Da führte ihm der Vater zuerst eine schöne junge Dirne vor in einem grün und gelb bekleeten Röcklein; sie hatte veilchenblaue, sehnsüchtige Augen und einen Blütenkranz in den geringelten fliegenden Locken, ihre Wangen glühten wie die Wangen eines Kindes, das aus dem Schlaf erwacht, ihr Herzchen pochte freudig und kindisch, sie trat so leis einher, dass sie kein Gräschen krümmte, und die Nachtigall, die sie auf der Hand trug, sang überaus lieblich den Bräutigam an, der unentschlossen um die Jungfrau herumging und, als der Vater sagte: "Munter, munter! Willst du sie oder willst du sie nicht?", antwortete: "Ich zweifle, ob ihre Schönheit Bestand haben wird; sie ist zwar sehr schön, aber sie könnte doch bald verwelken." – So blieb er unentschieden, und die liebe Jungfrau ging von dannen. Nun ließ der Vater eine andere hereintreten, die war nicht minder schön, aber voller und freudiger; sie hatte ein grünes Kleid an, mit Rosen gestickt, ihre Wangen glühten wie rote Äpfel, ihre Lippen schimmerten wie Kirschen; sie trug einen Kranz von Ähren, mit breitem schattenden Laub durchwunden, auf den schwarzen Flechten, und ihre dunklen Augen blickten feurig umher, in der Hand aber hatte sie eine blanke Sichel, die in der Sonne blitzte. Der Sohn konnte sich wieder auf keine Weise entscheiden; er meinte, sie scheine ihm gar zu glänzend, sie möge der Pracht zu sehr ergeben sein, sie möge viel verschwenden; die erste sei doch wohl liebenswürdiger gewesen, sie gefalle ihm zwar ganz unendlich, aber – und in diesem Aber verließ ihn auch die zweite Jungfrau, und die dritte trat vor ihn hin. Sie war wohl nicht mehr so jung als die erste, nicht so freudig und strahlend als die zweite, aber schön war sie doch in ihrer reichen Mitgift, wie eine melancholische Braut. Sie trug einen vollen Fruchtkranz in ihren braunen Haaren, ein feierliches gelbes Gewand bedeckte ihren edlen Leib und war mit grünem und rötlichem Weinlaub gestickt; in der einen Hand trug sie einen goldenen Becher und drückte mit der andern ein Traube hinein. Ihr Blick war schwermütig, aber mild und betrachtungsvoll, ihre Wangen waren blass, und eine schnelle Röte flog über sie hin. Der Jüngling musterte sie von allen Seiten, er fand sie unvergleichlich, aber doch eigentlich noch mehr interessant als schön; er konnte sich auch zu ihr nicht entschließen, und meinte, er wolle sich doch lieber die vierte besehen; das Beste müsse wohl zuletzt kommen. Da sah ihn die Braut mit einem bedauernden, strafenden Blick an und verließ ihn. Nun trat die vierte Braut daher; sie kam mit einem großen Gebraus, trüb und stürmisch war ihr Wesen, sie trug eine Dornenkrone; ihr Angesicht wat bleich, sie klapperte mit den Zähnen, sie schimmerte von fern, als sei sie in Silberstücke gekleidet, aber es war alles Reif, Schnee, Eis und Kälte. Der Jüngling erschrak und sprach zurücktretend: "Weiche von mir" Ich zweifle sehr, ob du meine Braut bist!" Sie aber fasste ihn mit beiden Armen und sagte: "Nein, mein Geliebter! Es ist kein Zweifel, dass ich der Winter bin und deine Braut dazu; mir ist ganz verzweifelt kalt, und du sollst mich wärmen!" – Da sprach der Hausvater den Segen über die beiden, und der Zweifel musste die alte dürre, kalte, zänkische Frau haben sein Leben hindurch.

So geht es allen Freunden des Zweifels; sie müssen endlich bei dem Winter vorliebnehmen und zu Gast gehen!

 

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Dieses Werk (Der Zweifel, von Clemens Brentano, das durch Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.

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Didaktische und methodische Aspekte
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Textauswahl

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 31.03.2024

     
   
   Arbeitsanregungen:

Interpretieren Sie diese Parabel.

  • Untersuchen Sie den Bildbereich der Parabel und arbeiten Sie dabei heraus, wie der Vater eine Entscheidung seines Sohnes herbeiführen will? Aus welchen Motiven kann der Sohn zu keiner eigenen Entscheidung gelangen?
  • Auf welchen Sachbereich bezieht sich Ihrer Ansicht nach dieses Parabel?
  • Stimmen Sie dem letzten Satz zu?
  • Vergleichen Sie diese Parabel hinsichtlich ihrer Merkmale mit dem Prototypen / der Parabel ...
  • Hat diese Parabel und ihre Bedeutung auch heute noch eine Botschaft, die für Sie persönlich oder die Gesellschaft als Ganzes von Relevanz sein könnte?

 

 
 
 

 
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