Die ▪
moderne Parabel gewährt dem Leser einen
großen Freiraum, um zu eigenen Deutungen und Textkonkretisierungen
zu gelangen, da sie ihm im Gegensatz zu den ▪
traditionellen Parabeln mit ihrer didaktischen Funktion keinen
Sinn anbietet.
Auf der anderen
Seite versucht sie ihn aber auch ohne jedes Sinnversprechen dahin zu
bewegen, das Erzählte, so irritierend, sperrig oder verstörend es
auch sein mag, für sich selbst in einem konstruktiven Akt der
Sinnfindung aufzulösen. Wie das geschieht, ist damit auch
individuell sehr verschieden und von textseitigen aber auch
textexternen Faktoren abhängig. Im Grunde genommen muss diese
Sinnkonstruktion ihre Plausibilität ja nur in der Verständigung mit
anderen Lesern über den Text erweisen, und auch die, das sei an
dieser Stelle gesagt, ist wiederum Ergebnis unterschiedlichster
Faktoren.
Dabei ist durchaus weiterhin strittig, wie sehr und auf welche
Weise der Parabeltext die Anzahl und Richtung möglicher
Interpretationen einschränkt.
Moderne Parabeln
verfügen in der Regel im Vergleich zu vielen ▪
traditionellen Parabeln über keine expliziten
Transfersignale, die direkt ausdrücken, dass das Dargestellte im
Analogieschluss auf einen anderen Bereich bezogen werden soll, oder
sogar angeben, auf welchen Bereich das, was im Text steht,
übertragen werden soll.
Dass ein Rezipient
beim Lesen überhaupt den Eindruck gewinnt, "dass der Text eine
'andere' Bedeutung hat" (Zymner 1991,
S.88) ist weder text- noch leserseitig garantiert. Oft zeigt sich
die "globale Uneigentlichkeit" (vgl.
Zymner 1991, S.87-96) von Parabeln nur dadurch, dass die eigene
Sinnfindung auf lokaler und globaler Textebene einfach nicht
funktioniert oder anders ausgedrückt, das die konkrete Leseerfahrung
nicht in die schon erworbenen Schemata des Textverstehens integriert
werden können und damit die Herstellung eines
Bedeutungszusammenhangs empfindlich "gestört" ist.
Dass
dabei auch das individuelle Management von
Fremdheitserfahrungen mit solchen Texten, die einem
alltäglich und
strukturell, in manchen Fällen auch
radikal fremd vorkommen können, eine Rolle spielt, sei nur der
Vollständigkeit halber erwähnt. Gerade ▪ moderne Parabeln verweigern sich
häufig allen Formen von Sinngebung und sorgen damit dafür, dass "sich strukturell Fremdes" aller möglichen Kontextualisierungsbemühungen zum Trotz "nur bedingt auflösen lässt." (Šlibar
2005, S.82, zit. n.
Leskovec (2010)
Andererseits kann auch nicht übersehen werden, dass es immer wieder
vorkommt, dass das gedankliche Konzept, mit dem ein Text zunächst
einmal verstanden wird, genau so gut auch bewirken kann, dass
bestimmte "Stolpersteine" einfach überlesen und semantische
Inkohärenzen auf der lokalen Textebene einebnen und glätten können.
Was also vielleicht als "Stolperstein" gedacht war, wird dann
einfach assimlierend in vorhandene Wissensschemata "eingelesen",
ohne dass es zu einer Anpassung des Schemas kommt. In jedem Fall ist
das Erkennen einer über den über den Buchstabensinn hinausgehenden
Bedeutung nicht einfach eine Frage, die nur über eine möglichst
genaue Erfassung eines Parabeltextes beantwortet werden kann.
Das schließt in der
Konsequenz auch ein, dass einem
Leser, insbesondere wenn ein Text kein explizites Transfersignal
aufweist, das ihn auffordert, das Erzählte auf auf einen Bereich
außerhalb des erzählten Geschehens zu übertragen, sich bei seiner
Rezeption mit dem "vordergründigen" Handlungssinn begnügt und damit,
zumindest bei der Rezeption von Parabeln, Mustern folgt, die eher bei der
Interpretation von ▪
Kurzgeschichten angebracht sind.
Damit ein Text
überhaupt als Parabel verstanden werden kann, muss er selbst
irgendwie darauf aufmerksam machen, dass es dabei nicht allein um
das geht, was auf der Textebene dargestellt ist. An irgendeiner oder
an mehreren Stellen gibt es im Text, wie man bildlich sagt, "Stolpersteine",
deren Sinn sich auf der Textebene allein nicht erschließt. Trifft
man beim Lesen auf sie, dann lösen sie - vorausgesetzt man nimmt sie
überhaupt als solche wahr - eine gedankliche Suchbewegung aus, die
z. B. in der Frage münden kann: Was könnte mit dem "Stolperstein" in
einem übertragenen Bedeutungszusammenhang gemeint sein?
Stolpersteine
dieser Art werden als Transfersignale bezeichnet. Dies sind
Wörter oder Formulierungen, denen ein kompetenter Leser eine
Suchanweisung entnimmt. Sie veranlassen ihn, den eigentlichen
Sinn des Textes außerhalb des Textes zu konstruieren.
Implizite
Transfersignale, sind dabei "Merkmale der Binnenebene des
Erzähltextes" und keine Merkmale der "Rahmenebene" (Zymner
(1991, S.93 f.) wie die expliziten Transfersignale, die " klar
unterscheidbar und abgegrenzt sind von der Parabel-Erzählung" sind.
(ebd.)
die wie das
explizite Transfermerkmal Der Zusammenhang und die Funktion der
gleichgerichteten Textelemente wird durch die fiktionale Triftigkeit
und durch gewisse narrative Formationsprinzipien gewährleistet."
Solche
Transfersignale dienen quasi als "Stolpersteine" beim Textverstehen
und sorgen im Idealfall dafür, dass wir unser bis dahin gewonnenes
Textverständnis korrigieren und ihm eine andere Richtung geben.
Dabei "(hängt) die Wahrnehmung entsprechender Transfersignale (...)
also entschieden davon ab, in welcher Weise. d. h. auf der Basis
welcher gedanklichen Konzepte bis zum Auftreten der in der
Textstruktur angelegten semantischen Inkohärenz Bedeutung
konstruiert wurde." (ebd.)
Und so funktioniert
es: Im Verlauf eines fortschreitenden Textverstehens werden dadurch
semantische Inkohärenzen des Textes erfahrbar, "wenn neu
hinzukommende Informationen in Widerspruch zum bisher generierten
mentalen Modell treten und deren Integration 'nicht auf der Basis
eines wörtlichen Textverständnisses" (Nickel-Bacon
2012, S.92) bzw. nur in Anwendung massiver
Assimilationshandlungen möglich ist." (Heins
2017, S.211)
Die neue
Bedeutungsrichtung bzw. ein neuer Sinn kann sich aber gewöhnlich
erst dann ergeben, wenn die vorhandenen Transfersignale gemeinsam in
die gleiche Bedeutungsrichtung weisen.
Dementsprechend
steht für
Zymner (1991, S.93 f.) fest, dass ein implizites Transfermerkmal
"nicht ein singuläres Element (wie etwa die expliziten
Vergleichsaufforderungen) (ist), sondern ein
Komplex gleichgerichteter und Impliziter Textmerkmale eines
episch-fiktionalen Textes."
Dabei müssen seiner
Ansicht nach diese Textmerkmale deshalb gleichgerichtet sein,
weil sie im Zusammenhang und zusammengenommen die Mehrsinnigkeit des
Erzähltextes indizieren und dadurch zum Transfer auffordern." (ebd.)
Dabei "(wird) der Zusammenhang und die Funktion der
gleichgerichteten Textelemente (...) durch die fiktionale
Triftigkeit und durch gewisse narrative Formationsprinzipien
gewährleistet." (ebd.)
Das Stolpern allein,
das Registrieren des Stolperns bei der Textverarbeitung und das Identifizieren solcher Transfersignale,
sagt natürlich oft recht wenig darüber aus, welche Analogien
zwischen dem Bildbereich auf Textebene und dem Sachbereich in einem
neuen Bedeutungszusammenhang bestehen.
Sie sind zunächst nicht mehr
als Aufforderungen, den Sinn des Textes jenseits der Textebene zu
konstruieren, legen aber damit keineswegs fest, dass ein bestimmter
Text nur eine, ihm beim jeweiligen Transfer zugewiesene Bedeutung
haben kann. Die prinzipielle Deutungsoffenheit von Parabeln und die
normative Zuschreibung eines bestimmten Spielraums der
Sinnkonstruktion oder zulässiger Lesarten von Parabeln lässt sich
damit aber wohl kaum begründen.
"Uneigentlichkeit"
ist Texten, die man als Parabeln bezeichnet, ist diesen Texten nämlich nur in geringem Maße
"eingeschrieben". Worauf eine Parabel
verweist oder anders ausgedrückt: welche Bedeutung ihr zugesprochen
wird, ist also nicht einfach in die Reihenfolge der sprachlichen Zeichen
"eingraviert". Und dementsprechend ist die Tatsache, ob man auch
erkennt, dass ein solcher Text über sich hinausweist, nicht einfach
davon abhängig, wie genau man einen solchen Text liest.
Allerdings
macht es aber schon einen Unterschied, ob man einen solchen Text nur überfliegt z.
B. ▪
orientierend bzw. ▪
diagonal
statt ▪
intensiv, also auch mehrfach liest, weil man beim Überfliegen
einfach auch manches überliest.