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Essay als literarische Zweckform

Michel de Montaigne (1533-1592)

Die französische Tradition des Essay

 
 
 

Als literarische Form wird der Essay von dem französischen Politiker und Philosophen »Michel de Montaigne (1533 - 1592) begründet, der damit die französische Tradition des Essays begründet, die sich von der englischen Traditionslinie, die von Francis Bacon (1561-1626) ausgeht, unterscheiden lässt. (»Portraitgalerie im interdisplinären Forum montaigne studies an der University of Chicago)

Montaigne verwendet den Begriff Essay "nicht in gattungstypologischem, sondern denkmethodischen Sinn, als Prinzip der Erkenntnissuche" (Nübel 2006, S.15) und bezeichnet mit dem von ihm verwendeten Begriff "Essais" somit das methodische Verfahren seiner zu Papier gebrachten Reflexionen. (vgl. Metzler Literaturlexikon, S.139) Diesem Verständnis des Begriffs folgend wird der Begriff sowohl zur Bezeichnung eines Prinzips der Erkenntnissuche als auch des Schreibprozesses verwendet. (vgl. (Nübel 2006, S.15)
Dabei ist der von Montaigne verwendete Begriff "als ein Ausdruck der Bescheidenheit gemeint", das wie auch in Vorreden zeitgenössischer Dichtungen "selbstkritische Zurückhaltung" bekundet. (Stackelberg 1977, S.174) So scheinen die Texte Montaignes, "dem viel darauf ankam, nicht für einen Berufsschriftsteller gehalten zu werden", auch von den Zeitgenossen aufgefasst und aufgenommen worden zu sein. (ebd.) Man mag es als bewusstes Understatement sehen, wenn Montaigne selbst gern "von seinen Essais als Hirngespinsten (sprach), die nur für seine Freunde und Bekannten geschrieben, nur private Aufzeichnungen seien."  (ebd.)
In seinen "Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände" wie sein mehrbändiges Hauptwerk in französischer Sprache ("Essais") "in teutscher Übersetzung" aus dem Jahr 1797 heißt, äußerte er sich in einer betont subjektiven, geradezu unverbindlichen und offenen Art und Weise zu Problemen und Fragen aus den Bereichen Philosophie, Kultur und Literatur seiner Zeit und nahm Stellung zu Fragen der allgemeinen Sittlichkeit und einer sittlichen Lebensführung. Dabei ging es ihm darum, sich mit herrschenden Denkschablonen kritisch auseinanderzusetzen und in einem den gebildeten Leser stets einbeziehenden Dialog Fragen zu solchen Problemen aufzuwerfen und mitunter auch zu beantworten. (vgl. Hertweck/Langermann/Wuttke (2010, S.8)

Seine Textproduktion umhüllt Montaigne "mit der Attitüde eines lockeren und assoziativen, unsystematischen und ziellosen Spaziergangs" (Goltschnigg 1997/2006, S.107). Nichtzuletzt diese Attitüde ist es, die Stephan Maus (1998), den Rezensenten der von Hans Stillet 1998 besorgten Übersetzung der "Essais",  von einer "Chaos-Bibliothek" sprechen lässt, einem "frohe(n) Durcheinander", das alle Formen in einer "Füllhorn-Ästhetik" mit riesiger Spannweite einfach nebeneinander stellt: "Eine Bibliothek der Klassiker, der Alltäglichkeiten, des Unsinns, der hohen und der niederen Themen. Anekdoten, Erzählungen, Übersetzungen, Traktate, antike Texte im O-Ton, Sentenzen, Aphorismen", ein "Mix" eben "nur noch zusammengehalten von dem lesenden, denkenden und fühlenden Michel de Montaigne." Und doch sind Montaignes "Essais" kein Sammelsurium von Texten zur bloßen Selbstfindung des Autors und bei aller Selbstbeobachtung, die er mit vielen Anekdoten aus seinem eigenen Leben in seinen "Essais" niederlegte, keine "eitle Selbstbespiegelung eines «Chateaubriand", sondern das Ich des Autors wird darin zu einem anthropologischen Studiengegenstand. (vgl. Stackelberg 1977, S.175). Das erklärt, so Stackelberg, auch, warum er häufig zu einer "ungenierten Berichterstattung über sich selbst" neigt, was den "Essais" auf der anderen Seite aber auch "die bunte Lebensfülle" schenkt, "die sie zur reizvoll-abwechslungsreichen Lektüre machen." (ebd.) In jedem Fall jedoch ist nicht "das Persönliche, das Anekdotische und die »Lebensfülle« nicht die Hauptsache an ihnen. Auch die aphoristische Darstellung und die unsystematische Denkweise sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es im Grunde mit einem Gedankenwerk, wenn man so will: mit Philosophie zu tun haben." (ebd.)
Der Vorwurf einer "Chaos-Bibliothek" (Stephan Maus 1998) trifft indessen, so sehr sich einem dieser Eindruck auch aufzudrängen vermag, den Kern der Sache nicht. Denn insbesondere Montaignes erste Essays tragen noch »humanistische Züge. "Es sind humanistische Exempelsammlungen, mosaikartig zusammengestellte Lesefrüchte, die dürftig genug vom eigenen Kommentar zusammengehalten werden. Montaigne sammelte Kuriositäten, wie viele andere Humanisten auch. Die Gepflogenheit, sich aus älteren Schriftstellern beispielhafte Maximen und Sentenzen herauszuschreiben, sie nach Themen zu gruppieren und auch wohl mit eigenen Erfahrungen zu versehen, war in der italienischen »Renaissance von spätantiken Autoren vie »Valerius Maximus oder »Aulus Gellius übernommen und schließlich zu einem mnemotechnischen Schulungsverfahren entwickelt worden, ohne das die Bewegung des «Humanismus, und damit der kulturelle Beginn unserer Neuzeit nicht zu denken wäre." (Stackelberg 1977, S.172).Solche humanistischen Florilegien vermittelten mit den kompilatorisch gefügten Sprichwörter- und Exempelsammlungen eine sehr anschauliche Kenntnis der alten Welt. Und, so betrachtet, ist auch "das Exzerpieren und Gruppieren alter Sprüche" (ebd.) nicht primär "ein frohes Durcheinander" (Maus 1998), sondern ein äußerlich mechanisch anmutendes Mittel einer epochalen Bildungsreform, ein "Hebel (...) mit dem die Renaissance das Mittelalter aus den Angeln gehoben hat. Im Verhältnis zum bisherigen Usus, die Gehirne der Lernenden vorzugsweise mit den verschiedenen Formen des Syllogismus anzufüllen, war dies ein bedeutender Fortschritt." (Stackelberg 1977, S.172) Die "Lebenshilfe", die solche Texte auf der Grundlage der humanistischen Erziehungslehre mit ihrem Hauptziel der Herausbildung einer selbständig-urteilenden und weltoffenen Persönlichkeit boten (vgl. ebd. S.170), machten auch Montaignes "Essais" mit ihrer "unsystematischen Philosophie", ihrer "nicht resignativen, sondern wissensdurstigen Skepsis" ( ebd.) zu einem Wegbereiter des modernen Denkens in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. (»Aufklärung)
In der Essayistik des österreichischen Schriftstellers »Robert Musil (1880-1942) hat die von Montaigne begründete französische Traditionslinie einen seiner modernen Vertreter im 20. Jahrhundert gefunden, allerdings mit einer Sonderstellung in der Geschichte des Essays in diesem Jahrhundert. Musil , der  die "Verschränkung von Kunst und Wissenschaft, Phantasie und Intellekt, Ästhetik und Ethik, Leidenschaft und Genauigkeit"  betont, vertritt eine über den Gattungsbegriff hinausgehende "Utopie des Essayismus" (Hervorh. d. Verf.), die "eine allgemeine poetologische und existentielle Qualität im Sinne einer spezifisch modernen, reflektierenden Literatur- und Lebensform" darstellt, "die sich durch steten Versuchscharakter auszeichnet." (Goltschnigg 1997/2006, S. 107)

Montaigne entwirft seine Methode in den "Essais" in einem quasi programmatischen Konzept:

"Ich stelle die menschlichen Einfälle und meine persönlichen Einfälle einfach als Gedanken dar, die zum menschlichen Bereich gehören. und trenne sie scharf von denen des anderen Bereichs. Es sind keine Gedanken, die als durch göttliche Inspiration festgelegt und im Voraus geregelt anzusehen sind und die deshalb jeden Zweifel daran und jeden Streit darüber ausschließen würden. Ich trage keine Glaubenssätze, sondern unverbindliche Meinungen vor, über die man nachdenken soll; ich trage vor, was ich mir mit meinem Verstand so ausdenke, nicht was ich nach Gottes Weisung zu glauben habe; wie ich es sage, ist ganz unkirchlich, nicht theologisch, aber immer sehr fromm. Wie Kinder ihre 'Versuche 'hinzeigen': Sie wollen daran lernen, nicht andere damit belehren." (Michel de Montaigne, Die Essais, Leipzig 1953, S.132f., zit. n. Rundum Essays (2012), S.7)

In jedem Fall, da wird man Maus (1998) beipflichten können, kann man Montaigne "als einen Autor lesen, der den Formen seiner Zeit eine besonders originelle hinzugefügt hat. Die Religionskriege hatten am Ende des 16. Jahrhunderts die Hoffnungen des Renaissance-Humanismus zerstört. Dörfer und Weltbilder lagen in Trümmern. Wie soll man in so einer krummen Welt noch gerade schreiben? Montaigne schreibt in der Tradition des Textkommentars, der optimistisch eine humanistische Gelehrsamkeit verbreitete. Dieser Tradition gibt er ein neues Gesicht. Er sammelt mit Leidenschaft widersprüchliches Material, merkwürdige Bräuche, komische Traditionen, absonderliche Meinungen und macht daraus eine Collage, aus der die Lust an Verwirrung, Widerspruch und mobilem Sinn spricht." So gewinnen seine "Essais" den Charakter eines Gedankenexperiments und werden ein Mittel zur Schulung von Urteilskraft, die Umwege zulässt, Raum für weitere Gedankenexperimente des Lesers gewährt und diesen zu eigener Urteilsbildung ermuntert. (vgl. Hertweck/Langermann/Wuttke (2010, S.8)

 

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 29.09.2013
 

 

 
     
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