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Im deutschen Sprachraum, wo »Herder
(1744-1803), »Schiller
(1759-1805) oder »Forster
(1754-1794) u. a. schon längst essayistische Prosa verfassten, wird der
Begriff des Essays erst um 1859 von »Herman
Grimm (1826-1901) verbreitet. Unzählige Autoren haben sich seitdem am Essay
versucht und sogar "viele Romanschriftsteller haben die im Essayistischen
liegenden Möglichkeiten genutzt, um reflexionsbestimmte und diskursive Partien
ihrer Werke in essayistischer Manier darzubieten." (Nickisch
1996, S.361) Diese Tendenz zum Essayistischem im Roman kann, wie
Vogt (1990, S.241)
darstellt, Ausdruck des "Bewusstsein(s) von der historisch produzierten 'Krise
des Erzählens' " sein, das "zur unbestreitbaren Erweiterung und Vertiefung
seiner Verfahrensweisen" geführt habe, wozu neben einer reflektierten
Zeitgestaltung, Selbstthematisierung des Romans und seiner Formfragen auch die
strukturelle Integration essayistischer Prosa" gehört habe.
"Was ältere Romanautoren (wie »Wieland
(1733-1813), »Heinse
(1746-1803), »Goethe
(1749-1832), »Jean
Paul (1763-1825), »Keller
(1819-1890) oder »Stifter
(1805-1868) ) in ihre Erzählwerke noch als gedanklich-theoretische
Binnentexte, Digressionen
o. ä. einschalteten, wird in modernen Romanen - bei (zumeist auch als Essayisten
bekannten) Romanciers wie »Thomas
Mann (1875-1955), »Hesse
(1877-1962), »Musil
(1880-1942),
»Broch
(1886-1952),
»Frisch
(1911-1991), »Johnson
(1934-1984), »Peter
Weiss (1916-1982) und vielen anderen - zum integralen Bestandteil und
Strukturelement der epischen Präsentation; so gilt der 'Essayismus' geradezu als
essentielles Gestaltungsprinzip dieser Romane, als eine "erweiterte
Erzähler-Reflexion" (Bleckwenn
1974/1978, S. 124) der überdies als dominant
gewordener Erkenntnismodus 'alle gattungsspezifischen Grenzen sprengt.'
(Müller-Funk 1995, S.176)" (Nickisch
1996, S.361, Verlinkung und biografische Daten angefügt durch d. Verf.)
"Hier könnte, sollte
oder müsste geschehen" vs. "Hier
ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen" (Musil
(1952), Der Mann ohne Eigenschaften, S.16, Hervorh. d. Verf.)
»Robert
Musil (1890-1942), der in der Geschichte des Essays im deutschen Sprachraum
eine Sonderstellung einnimmt, gibt dem Essay über seine Bedeutung als
Gattungsbegriff hinausgehend mit seiner in seinem Roman "»Der
Mann ohne Eigenschaften" vertretenen "Utopie
des Essayismus" (Musil) "eine allgemeine poetologische und existentielle
Qualität im Sinne einer spezifisch modernen, reflektierenden Literatur- und
Lebensform, die sich durch ständigen Versuchscharakter auszeichnet." (Goltschnigg
(1997/2006, S. 106)
Die auf Musil zurückgehende, später auch von »Heinrich
Mann (1871-1950 ), »Thomas
Mann (1875-1955),
»Broch
(1886-1952),
»Hesse
(1877-1962), »Döblin
(1878-1957) u. a. individualistische Haltung schließt bei Musil an die
französische Tradition des Essays an, die
von »Michel
de Montaigne (1533 - 1592) begründet wurde und den Essay "nicht in gattungstypologischem,
sondern denkmethodischen Sinn, als Prinzip der Erkenntnissuche" (Nübel
2006, S.15) verstanden hat.
Musils "Utopie des Essayismus" basiert dabei auf einer literaturtheoretischen
Position, die in der "Verschränkung von Kunst und Wissenschaft, Phantasie und
Intellekt, Ästhetik und Ethik, Leidenschaft und Genauigkeit" (Goltschnigg
(1997/2006, S. 106) auf die Bewahrung des "Möglichkeitssinns" (Musil
(1952), Der Mann ohne Eigenschaften, S.16)(Musil) ausgerichtet ist, die sich
in der Fähigkeit des Menschen zeige, "alles, was ebenso gut sein könnte, zu
denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist." (ebd.)
Ähnlich wie Montaigne, der seine "Essais" auch gerne als "Hirngespinste"
bezeichnete, sieht Musil solche "Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in
einem feineren Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven". (ebd.)
Dabei bemühe sich die Gesellschaft im Allgemeinen darum, schon Kindern diesen
Hang auszutreiben und Erwachsene, die einen solchen hätten vor ihnen als
"Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler"
herabzusetzen, oder, wenn man darauf verzichtet, als "Idealisten" zu loben. (ebd.)
Den Unterschied zwischen dem Wirklichkeits- und dem Möglichkeitssinn
verdeutlicht der Gedanke an einen bestimmten Geldbetrag: "Alles, was zum
Beispiel tausend Mark an Möglichkeiten überhaupt enthalten, enthalten sie doch
ohne Zweifel, ob man sie besitzt oder nicht; die Tatsache, dass Herr Ich oder
Herr Du sie besitzen, fügt ihnen so wenig etwas hinzu wie einer Rose oder einer
Frau. Aber ein Narr steckt sie in den Strumpf, sagen die Wirklichkeitsmenschen,
und ein Tüchtiger schafft etwas mit ihnen;" (ebd.,
S.17) Daraus zieht Musil den Schluss: "Es ist die Wirklichkeit, welche die
Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. Trotzdem
werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten
bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche
Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen
Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie. (ebd.)
(»Wo es den
Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben (Erstes Buch, Erster
Teil, Kap.4)
Tendenzen des modernen Romans, Kunst und Wissenschaft einander anzunähern, haben
die epische Fiktion und den Essay nicht nur näher aneinander gerückt, sondern
oftmals miteinander verschränkt. So werden Textpassagen, mit denen der
Autor/Erzähler dort "Totalität im Roman" vermitteln will, "wo die exemplarische
Begrenztheit jeder Handlung als unzureichend empfunden wird" (Bleckwenn
1974/1978, S.124) als "erweiterte Erzähler-Reflexion" (ebd.)
aufgefasst, die sich als "essayistisches
Erzählen" (ebd.)
bezeichnen lässt. Die zunehmende Verbreitung des essayistischen Erzählens mit
seiner "spielerisch-experimentellen Möglichkeitserwägung im Kontrast zur
erstarrten empirischen Realität" (Goltschnigg
(1997/2006, S.108) ist indessen auch kritisiert worden. Gegen die "Essayfizierung"
(Th. Mann) des Romans, der den modernen Roman allerdings selbst als "Pseudo-Essayistik"
(Thomas Mann zit. n.
ebd.)
verteidigte, äußerten neben einem selbstkritischen Musil, auch »H.
von Doderer (1896-1966) und »Walter
Jens (geb. 1923) in seinem Werk "Herrn Meister" (1963) ihre Bedenken. (vgl.
ebd.)
Als prototypische Werke essayistischen Erzählens zählen neben Musils "»Mann ohne
Eigenschaften", Thomas Manns "»Zauberberg" (1924) und Brochs
"»Schlafwandler" (1931-32).
Musils "»Mann ohne
Eigenschaften" (begonnen 1921), der die traditionelle Romanform
aufsprengt und mit "Reflexionen, Kommentaren, Erörterungen, Abschweifungen usw.
überwuchert" (Stephan
1989/1992, S.365), wählt dabei eine
dekonstruktive Erzählform, welche die "Reduktion, Dekonstruktion oder
Selbstliquidation des Romanhelden" (Waldmann
2003, S.162) befördert. Der "Mann ohne Eigenschaften" in Musils Roman
besitzt nämlich durchaus Eigenschaften und Fähigkeiten wie die anderen Menschen
auch, ihm ist "aber die Möglichkeit ihrer Anwendung (...) abhandengekommen" (Musil
(1952), Der Mann ohne Eigenschaften, S.48. zit. n.
Waldmann 2003, ebd.)
Dies führt, wie Waldmann
(2003, S.162) ausführt, dazu, dass dieser Protagonist, "wie der
essayistische Charakter des Romans anschaulich belegt, die Eigenschaften fehlen,
Romangeschehen im konventionellen Sinn zu bewirken."
Während in Thomas Manns "Zauberberg" jedoch das Essayistische gänzlich und
unauflöslich mit dem Erzählen verbunden bleibt (vgl. Goltschnigg
(1997/2006, S.108) ),
stellt die systematisch gegliederte und logisch-diskursiv angelegte Essayistik
Brochs im dritten Teil des "Schlafwandlers" ein "Extrembeispiel" der
abgeschlossenen Erzähler-Einlage dar, "funktional einem Montage-Element
vergleichbar". (Bleckwenn
1974/1978, S.124) Broch setzt die essayistischen Textpassagen so "schroff
von der epischen Fiktion" ab (Goltschnigg
(1997/2006, S.108), dass
Bleckwenn (1974/1978,
S.124) darin nicht nur eine "Tendenz zur epischen Desintegration" sieht, sondern
auch "eine andersartige Erzählform", welche "die Auffassung des Autors
unmittelbar und eben nicht mehr als Reflexion eines Erzählers wiedergeben."
Gert Egle,
zuletzt bearbeitet am
29.09.2013
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