Der eher rezeptionsgeschichtlich orientierte Ansatz des
Romanisten Hans Robert Jauß und der wirkungsästhetische Ansatz
des Anglisten Wolfgang Iser werden nicht selten unter dem Begriff
der Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik
zusammengefasst.
Historische Einordnung
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Ende der sechziger Jahre sehr verbreitet Unzufriedenheit mit der
tendenziell geschichtslosen Deutungspraxis der
werkimmanenten
Interpretation und ihrem geradezu klassizistischen
Stimmigkeitsideal
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Zusammentreffen dieser Unzufriedenheit mit einer gesellschaftlichen
Bewegung, die Forderungen nach Emanzipation und Teilhabe an allen
gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen erhob
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Daraus resultierender Wunsch nach einer klaren
wissenschaftstheoretisch und ideologiekritisch fundierten
Literaturwissenschaft, die sich fortan auch stärker mit dem Leser und
seinem Umgang mit Texten aller Art befassen sollte.
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Ausdifferenzierung rezeptionsorientierter Ansätze seit Ende der
sechziger Jahre.
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Hermeneutische
Wirkungsästhetik von Wolfgang Iser
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Hermeneutische
Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß
(Rezeptions- und Wirkungsgeschichte)
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Empirische Literaturwissenschaft von Siegfried J. Schmidt und
Norbert Groeben
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Seit Ende der siebziger Jahre als Forschungsansatz etwas in den
Hintergrund getreten, wenngleich einige rezeptionsästhetische
Grundansätze zum Grundbestand literaturwissenschaftlicher Methoden
gehören.
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Große Bedeutung rezeptionsästhetischen Denkens in der
Literaturdidaktik seit den neunziger Jahren durch die Verdrängung
begriffsbestimmter Textanalyse bzw. Textinterpretation durch die
Gestaltung der individuellen Lektüreerfahrung mit Hilfe
textproduktiver Verfahren (produktive
Textarbeit). (vgl.
Richter
1996, S.517ff.)
Grundannahmen
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Bei der Rezeption eines Textes wird er
Leser zum Beteiligten am
Erzählgegenstand.
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Das literarische Werk entsteht erst dadurch, dass es in der
Begegnung mit dem Leser
realisiert wird.
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Als schematisiertes Gebilde steuert der Text mit seinen Strukturen
die Realisation durch Leser, der den Text mit seiner eigenen
Vorstellungsleistung vervollständigt.
Als Grundkonsens sämtlicher Richtungen, die sich mit Rezeptionstheorie
befassen, kann nach
Richter
(1996, S.517) gelten:
"dass die Bedeutung eines Textes nicht einfach in ihm enthalten
ist wie etwa ein bestimmter Stoff in einer chemischen Verbindung, der
gleich von wem unter welchen Umständen mit Hilfe einer einschlägigen
Analyseprozedur herausgelöst werden kann. Vielmehr werde die Bedeutung
immer erst während der Rezeption gebildet, und zwar im Wechselspiel
zwischen dem Text und der Aktivität des Lesers. Sowohl dieses Entstehen
der individuellen Auffassung eines Textes »Realisation«
genannt."
Ziele
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Bewusstmachen, welchen Anteil der Leser bei der Entstehung
(Realisation) des literarischen Werkes besitzt;
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Darlegen, dass der Sinn eines Werkes sich nicht allein aus den
Textstrukturen ableiten lässt (Darstellungsästhetik) oder in der
einfachen Widerspiegelung gesellschaftlicher Wirklichkeit erschöpft
(Produktionsästhetik);
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Aufzeigen, dass die Sinnbildung stets das Resultat eines komplexen
Konstruktionsprozesses im Bewusstsein des Lesers darstellt
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Einbeziehung des historisch und kulturell vermittelten
Erwartungshorizontes
bei der Rezeption;
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023
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