In der ▪ rhetorischen Tradition der Antike drehte es sich bei
der Beschäftigung mit Stilistischem stets um die
Angemessenheit eines sprachlichen Ausdrucks im rhetorischen
Sprachgebrauch. Stilfragen waren Fragen, die vor allem mit der
sprachlichen Gestaltung der Rede zu tun hatten.
Im Zentrum der
antiken Rhetorik steht dabei der persuasive Redetext, ein Text
also mit dem man jemanden anderen in seiner Meinung, seiner
Einstellung und seinem Handeln beeinflussen will. (vgl.
Lewandowski 51990, Bd.2, S.790) Dieser durchläuft
bis zu seiner Fertigstellung mehrere Bearbeitungsphasen.
-
In der ersten
Phase, inventio genannt, geht
es um die Stofffindung.
-
In der
zweiten Phase, der sogenannten dispositio, soll der gefundene Stoff strukturiert
werden.
-
Die dritte
Phase widmet sich der sprachlichen Ausarbeitung und
Gestaltung (elocutio)
und beendet damit den Textproduktionsprozess.
In der Antike
kamen aber, da es sich bei den Texten stets um mündlich
vorgetragene Reden handelte, noch zwei weitere
Bearbeitungsphasen dazu, nämlich das Auswendiglernen der Rede (memoria)
und der Redevortrag (actio/pronuntiatio),
mit denen sich heute vor allem Mnemotechniken befassen. (vgl.
Plett 1975, S.140)
Die
sprachliche Gestaltung
(elocutio),
die als Ausformulieren von Gedanken verstanden wird, hat dabei
schon frühzeitig eine gewisse sprachliche Eigenständigkeit
erlangt und in der Folge wurden die
Begriffe Rhetorik und Stilistik oft gleichgesetzt.
Das wiederum
führte nicht zuletzt auch zu einer folgenschweren
"Ästhetisierung der rhetorischen Sprachformen" (ebd.),
bei dem "der aktuelle Persuasionszweck (...) zugunsten der
Zwecklosigkeit eines oratorischen Exhibitionismus aufgegeben
(wird)." (ebd.)
Dieser Vorgang, der in der älteren Literaturwissenschaft bis zu
den 1970er Jahren den Glauben an den ▪ "Stil
an sich" beförderte, wonach man annahm, im Stil "nicht
nur das Eigen- und Einzigartige eines Werkes fassen zu können,
sondern auch das, was das Werk zum Kunstwerk macht" (Anderegg
22006,
S.374), ist, wie Plett betont, auch nicht, weit weg von
»Roman Jakobsons (1896-1982) in seinem ▪
Sprachfunktionsmodell vertretenen
▪ Konzept der poetischen Funktion der Sprache, die unter
Vernachlässigung der Kontexte "vom Selbstverweisungscharakter
der poetischen Botschaft" (Plett
1975, S.140) ausgeht. Dementsprechend wurden die Kategorien
der elocutio, die traditionell als "Figuren" bezeichnet
werden, dazu benutzt, ihnen den Charakter "poetizitätshaltige(r)
Sprachformen" (ebd.)
zuzuschreiben.
Im Grunde
genommen hat dies bis heute die vom ▪
Abweichungsparadigma (Abweichung von der Alltagssprache)
"geprägte vorwiegend zeichensyntaktische Interpretation der
rhetorischen Stilfiguren" geprägt, die zu der traditionellen
Einteilung in
Wortfiguren,
Sinnfiguren
und Tropen mit
entsprechenden ▪
Wirkungsbereichen und
Wirkungsakzenten geführt hat. Dass bei einer derartigen
Klassifikation "das Ganze der semiotischen Stilmöglichkeiten" (ebd.,
S.141) mit ihren syntaktischen, semantischen und pragmatischen
Dimensionen außen vor bleibt, versteht sich.
Bei der sprachlichen Gestaltung
(elocutio) der persuasiven Redetexte,
die, wie schon erwähnt, als Ausformulieren von Gedanken verstanden wird,
werden in der antiken Rhetorik vier
Sprach- oder Stilqualitäten (virtutes
elocutiones) unterschieden.
grammatische
Korrektheit
(puritas) |
Verständlichkeit/ Klarheit
(perspicuitas, claritas) |
Angemessenheit
der Stilhöhe (aptum) /
Dreistillehre |
Schmuck
(ornatus) |
puritas = lat.
Reinheit, Unschuld; auch latinitas = lat.
reine lateinische Sprache korrekter und
regelkonformer Sprachgebrauch |
perspicuitas =
lat. Durchsichtigkeit; claritas = lat.
Deutlichkeit, Klarheit gedanklich klarer,
sinnvoller, verständlicher und gut nachvollziehbarer
Gedankengang im Gesamtaufbau der Rede |
aptum = lat. das
Angemessene Gestaltung der Rede und ihrer
verschiedenen Elemente im Rahmen der jeweiligen
Kommunikationssituation möglichst zu einem
harmonischen, aufeinander abgestimmten Ganzen, damit
sie die gewünschte Wirkung erzielen können
DREISTILLEHRE
niederer Stil
(genus humile): schlichter, leichter Stil
des alltäglichen Lebens, der der Absicht des
Belehrens angemessen ist;
Schmuck: keine Tropen, wenige
Figuren
mittlerer Stil
(genus mediocre oder genus medium):
Stil der gepflegten Konversation, Mittel des
Redners, um seine Zuhörer zu unterhalten oder
leichte Affektregungen auszulösen;
Schmuck: funktionaler Einsatz
von Tropen und Figuren, die allerdings nur gemäßigte
Affekte hervorrufen
gehobener Stil
(genus grande oder genus sublime
oder stilus gravis):
Stil bei feierlichen Anlässen, Mittel des Redners,
um leidenschaftliche Affekte auszulösen bzw. zu
erschüttern;
Schmuck: Pathos, mitunter
überreiche Verwendung von Schmuckelementen |
▪
Tropen (ornatus
in verbis singulis):
Bedeutungs-veränderungen von Worten, z. B.
Archaismus,
Neologismus,
Tropen
i. e. S. als alle in übertragenem Sinn gebrauchten
Ausdrücke, die die "eigentliche" Sprechweise durch
einen bildhaften (uneigentlichen) Ausdruck mit Hilfe
verschiedener Übertragungsoperationen ersetzen (z.
B.
Metapher,
Metonymie,
Synekdoche,
Allegorie,
Hyperbel,
Litotes,
Symbol)
▪
Figuren (ornatus
in verbis coniunctis): besondere
Verknüpfungen von einzelnen Wörtern oder
Wortgruppen, z. B.
Geminatio,
Anadiplose,
Anapher,
Asyndeton,
Ellipse,
Aposiopese,
Inversion,
Hysteron Proteron,
Hyperbaton,
Parallelismus,
Antithese,
Oxymoron,
Ironie
etc.)
Topoi: i. e. S.
überlieferte Denk- und Ausdruckschemata (z.B. Motive
wie das »Goldene
Zeitalter, der liebliche und der schreckliche
Ort (▪ locus
amoenus und locus horribilis) |
Insbesondere der Redeschmuck (ornatus) wurde dabei nie als
Selbstzweck verstanden, bloßes rhetorisches Blendwerk war
verpönt. Wer seine Rede mit rhetorischen mit
Tropen,
Figuren
oder Topoi
schmückte, sollte dies mit einem klaren funktionalen Bezug zu
den Zielen tun, die er mit der Rede verband und damit dem
Anspruch der
Angemessenheit (aptum) Genüge tun.
Ab dem 18.
Jahrhundert verliert die antike rhetorische Tradition bei der
Beschäftigung mit Stilfragen zusehends an Bedeutung. Stilistik
verliert als allgemeine Theorie der Beredsamkeit an Bedeutung
und wird mehr und mehr zu einer "Anleitung zum angemessenen
Gebrauch der Schriftsprache" (Czapla
2007, S.516)
Im Zusammenhang "mit dem nun
aufkommenden Interesse sowohl am Individuellen als auch am
historisch Charakteristischen bei der Beschäftigung mit Kunst
und Literatur" (Anderegg
22006, S.375) wurde "unter dem Einfluss des
Geniekultes und der durch ihn beförderten Individualisierung des
Werkbegriffs (Originalität) die präskriptive Stilistik abgelöst
von einer persönlichkeitsgebundenen, nach heutigem Verständnis
'deskriptiven' Auffassung der Stilistik." (Czapla
2007, S.516)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023