Im Zusammenhang mit der Literatur der ▪
frühen Neuzeit, der
Renaissance, des Humanismus und des ▪
Barock taucht immer wieder der Begriff des "gemeinen Mannes" auf. Auch
im 18. Jahrhundert ist er noch weit verbreitet.
Wo der Begriff auftaucht,
kann er aber durchaus Unterschiedliches bedeuten. Nie ist damit aber das
Volk als Ganzes gemeint, sondern immer ein bestimmter Teil, der sich von
anderen aufgrund bestimmter Merkmale abgrenzen lässt.
Eine der
Bedeutungsvarianten des Begriffs »"gemein",
den wir im Alltag häufig mit bösartig oder hinterhältig verbinden, wenn wir
z. B. von einer "Gemeinheit" sprechen, besteht darin, keine besonderen
Merkmale zu haben bzw. durch nichts herausragen. In diesem Sinne wird der
Begriff z. B. auch in der Militärsprache des 19. und 20. Jahrhunderts
verwendet, wo man einen »dienstgradlosen,
"einfachen" Soldaten als "Gemeinen" bezeichnete.
Unter diesem
Blickwinkel ist "gemein" ein Begriff, der in Opposition zu dem steht,
was eben nicht nur "gemein", im Sinne von allgemein üblich, ist, dem
Besonderen eben, dem über das Gemeine Herausragende.
In der frühen Neuzeit,
der Renaissance, des Humanismus und des ▪ Barock tritt der Begriff
häufig als Attribut in dem Ausdruck "gemeiner Mann" auf. Abgesehen
davon, dass er zeigt, dass wir es damals mit einer noch ungebrochenen
patriarchalischen Gesellschaft zu tun haben, der das "Gendersternchen"
noch so unbekannt wie die Mondlandung war, zielt die Bezeichnung
natürlich darauf, sich von dieser Gruppe von Menschen abzuheben.
Dazu gingen, die die sich als etwas Besonderes
fühlten, dazu über, die
"gemeinen Leute" als homogene Gruppe oder soziale Schicht zu
betrachten. Zugleich benutzten sie den Begriff mehr und mehr abwertend im Sinne von ungebildet,
ungehobelt etc.. Mit der heute noch üblichen Formulierung
von den "kleinen Leuten" hat sich diese Bedeutung etwas gewandelt und
den Akzent auf ihre politisch, soziale und kulturell geringere
Wirkmächtigkeit gelegt.
In der damaligen Zeit
meint man mit dem "gemeinen Mann" in der Regel nicht die Gesamtheit der
Menschen, die in der Ständepyramide ganz untern stehen. Meist sollen
damit nicht die Unterschichten bezeichnet werden, die in der
vorindustriellen Agrargesellschaft der Zeit zu 90% als Bauern,
Landarbeiter und Tagelöhner auf dem Land lebten. Die
"tumpen" Bauern hat
man nicht im Blick, denn auf dem flachen Land lebten bis weit ins 18.
Jahrhundert hinein die Analphabeten, und dort hatte man demgemäß
"seinerzeit noch kaum Fühlung mit der Welt der Bücher" (Willems
Bd. I 2012, S.71).
Allerdings musste man ▪
in
dieser Zeit auch nicht unbedingt selbst lesen können, um am allgemeinen
Lesen von Büchern teilzuhaben. Lesen war nämlich vor allem
Oral Poetry und damit meistens an die soziale
Praxis des Vorlesen gebunden.
Stilles Lesen, wie wir es heute kennen,
war noch kaum verbreitet.
Wer also nicht lesen konnte und sich auch kein
Buch leisten konnte, wurde Rezipient der
frühneuzeitlichen sozialen
Hörbuchpraxis: Er oder sie hörte einfach zu, wenn, wie üblich vorgelesen
wurde. Das war keine Schande, "denn Lesen, Vorlesen und Zuhören standen
als Rezeptionsweisen relativ gleichberechtigt nebeneinander." (vgl.
Schneider 2015,
S.745)
Im Übrigen blieb vielen potentiellen Leserinnen und Lesern, die
jeden Tag in einem harten Arbeitstag von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang
ihren oft kümmerlichen Lebensunterhalt sichern mussten, kaum Gelegenheit.
bei Tageslicht Zeit mit Lesen zu verbringen. Wenn, dann war dies am
ehesten in den Wintermonaten der Fall, in denen gerne in der Familie
vorgelesen wurde
Wenn aber vom "gemeinen
Mann" die Rede ist, sind damit das Bürgertum und die Handwerker gemeint,
die in den Städten lebten, und schon in Berührung mit Bildung gekommen
waren. Sie konnten, vor allem wenn sie wohlhabender waren, auch schon
mal eine ▪
größere Anzahl von Büchern besitzen. Das war meist eine bunte
Mischung volksmedizinischer Schriften mit Anleitungen für Diäten oder
sonstigen Therapieanleitungen, Arznei- und Kräuterbücher, aber u. U.
auch von "schöner" Unterhaltungsliteratur wie z. B. Epen,
Prosabearbeitungen antiker Dramen, Schwank- und Legendensammlungen,
Prosaromanen mit mittelalterlichen Stoffen wie »Herzog
Ernst, »Die schöne
Melusine), Eulenspiegeleien und anderen Historien und Schwankromanen (vgl.
Schneider 2015,
S.743). Damit erreichte man in den Städten lesende Frauen, die im
Übrigen auf
Erbauungsliteratur und den Katechismus zur Lektüre zurückgreifen
konnten.
Dass diese Literatur
der "gemeinen Leute" nicht die Literatur der humanistischen Gelehrten
war, die vorwiegend in Latein abgefasst war, versteht sich. Sie
nahmen ihre "hohe" wissenschaftliche und poetische Literatur zum Anlass,
auf die des "gemeinen Mannes" sehr verächtlich herabzusehen, wenn es
sich nicht gerade um religiöse Stoffe handelte, die man in Deutsch und
in dieser "gemeinen" Sprache an den "gemeinen Mann" und an die "gemeine
Frau" bringen wollte.
Taucht das Wort
"gemeiner Mann" in einem Text auf, muss man aber
immer den Kontext
berücksichtigen, um die jeweilige Bedeutung erkennen zu können
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.11.2021