Einer der Gründe, weshalb dieses Gedicht von Fleming gerade zum
Kanon von Textzusammenstellungen zur Literaturepoche
▪ Barock, der
▪
Barocklyrik und insbesondere
der
▪
barocken Liebeslyrik gehört,
dürfte sein, dass sein Thema in den Bereich einer der
wichtigsten ▪
Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz fällt, nämlich den ▪
Umgang
mit Sexualität lernen. Probleme, die im Zusammenhang mit dem
Sich-Verlieben in einen Partner oder eine Partnerin stehen,
gehören dabei zu den wichtigsten ▪
Alltagsproblemen, mit denen sich Jugendliche beschäftigen.
Wo also besser anknüpfen?
Das Sprechen über Dinge, die damit zusammenhängen, insbesondere
das ▪
Sprechen über Sexualität, ist dabei, auch wenn es längst
nicht mehr "verklemmt" von statten geht, eine Problemzone der
Kommunikation. Selbst wenn mittlerweile, z. B. über die
unterschiedlichen sexuellen Orientierungen vergleichsweise offen
geredet wird, das Thema auch in den Schulen kein Tabu mehr ist,
und das Verständnis von der sozialen Konstruktion des sexuellen
Subjekts zugenommen hat, fehlen jungen Leuten oft einfach die
Worte, um sich individuell so über Sexualität ausdrücken zu
können, wie sie sich das eigentlich vorstellen. Das Angebot von
"Plastikwörtern", von Begriffen die "ausgelutscht" sind oder
einfach nur als unpassend empfunden werden, ist zwar groß, macht
das eigene Sprechen über Sexualität nicht leichter.
Unter den heutigen Bedingungen der Mediengesellschaft, dem
konsumorientierten Sexgebot und einer erzwungenen
Liberalisierung, einer Zeit, in der "die sexuelle Begierde neu
konstruiert (wird): als Wunsch nach Nähe und Geborgenheit in
einer Gesellschaft, in der die Sexualmoral abgeschafft und durch
eine Verhandlungs- bzw. Konsensmoral ersetzt wurde; als
Verlangen nach Echtheit in einer Erlebniswelt, in der es mehr
Befriedigungsangebote als Wunschpotentiale gibt und in der die
Übersexualisierung dazu führt, dass erotische oder sexuelle
Stimulationen an Wirksamkeit verlieren" (Eder
2002, S.225) kommt der Sprache als Mittel der Verständigung
und Hilfe, sich im Bereich der Sexualität zu verstehen, eine
besonders große Bedeutung zu.
Zieht man diesen Kontext in Betracht, dann wird schnell klar,
dass ein Text wie das Kussgedicht von Paul Fleming viele
Leser*innen zu einer schnellen und bequemen Identifikation
führt und damit eine einer Lesart fördert, die das Fremde dieses
Textes nicht erschließen kann und damit der Erfahrung von Alterität aus dem Weg geht. Die Leichtigkeit, mit der Fleming,
das Thema "Knutschen" behandelt und die pointierte Antwort, die
er am Ende gibt, deckt sich mit dem, was ▪
viele Jugendliche über das Küssen denken, ein
Identifikationsangebot besser geht's kaum.
Während andere Texte aus dem Barock bei der Lektüre
bei zahlreichen Leser*inneneine »kognitive
Dissonanz auslösen können, weil man das, was man gelesen hat,
einfach nicht so kognitiv verarbeiten kann, wie man das gewohnt ist,
dürfte dies bei Flemings Kussgedicht also kaum der Fall sein.
Allenfalls ist davon auszugehen, dass eine gewisse Verwunderung
darüber entsteht, wie man vor vierhundert Jahren schon so witzig
und frei über das Thema hat sprechen können
Vielleicht ist aber genau dieser Anflug ▪
struktureller Fremdheit das, was zum Anknüpfungspunkt der
Spurensuche werden kann, zu der im didaktischen Setting des
Literaturunterrichts hingeführt werden soll, um die ▪
literarästhetische
Rezeptionskompetenz zu entwickeln und zu fördern und es u.
a. darum geht, ▪
subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander
ins Spiel bringen (vgl.
Abraham/Kepser
(42016, S.27, S.117f.)
Wenn also hier von den Tücken des großen
Identifikationspotentials die Rede ist, das der Text entfalten
kann, soll diese Feststellung indes nicht heißen, dass solche Lesarten
nicht möglich und legitim sind und auch unter didaktischen
Aspekten ist gegen solche Zugänge, die von solchen
Erstleseeindrücken
des Gedichts ausgehen, natürlich nichts einzuwenden.
Die Orientierung am Oberflächensinn des Gedichts, der kurz
gefasst, darin besteht, dass trotz aller Unklarheiten darüber,
wie man eigentlich "richtig" küsst, die Frage allein von den
Liebenden selbst zu beantworten ist, kann, darf und muss
vielleicht sogar als erster Zugang zum Text möglich sein. Eine
solcherart aktualisierende Rezeption, die den Text zwischen
einer witzig daher kommenden Schilderung von Techniken beim
Küssen und seiner der romantischen Verortung in der Innigkeit
einer Liebesziehung sieht, hat also durchaus eine didaktische
Berechtigung, wenn man diese Lesart unter dem Blickwinkel der
möglichen Anschlusskommunikation betrachtet, die das Thema Liebe
im weitesten Sinne, und vor allem das Sprechen über Liebe,
Erotik und Sexualität, möglich machen.
Geht
es aber um die Dekonstruktion des Textes, dann kann die Analyse
des Gedichts von Fleming eben nicht dabei stehen bleiben. Wer
sich genauer damit befasst, wird auch schnell feststellen, dass
das Gedicht eben mehr hergibt, als im Kontrast mit anderen
Gedichten, die die Vergänglichkeit allen Daseins (Vanitas, memento mori) thematisieren, das Motiv des barocken
Lebensgenusses (carpe diem) literaturdidaktisch "abzudecken".
Die Schüler*innen für die "Spurensuche" zu motivieren und sie
dabei zu unterstützen ist eine große und äußerst wichtige
didaktische Aufgabe, die weit über das Vermitteln von Epochen-,
Gattungs- und Genrewissen hinausführt, in den Bereich der
Erfahrung und den Umgang mit Alterität. Das Zulassen von ▪
Fremderfahrung,
das Fremde in diesem Text zu erschließen, um es dann in seiner
spezifischen Eigenart auf das Eigene beziehen zu können, das ist
das Ziel der Spurensuche mit Hilfe des Gedichts von Paul
Fleming.
Bei
dieser Spurensuche müssen, wie immer bei Texten aus dieser entrückten Zeit,
sprachliche Hürden überwunden werden, aber es geht auch stets darum, sich
mit den "Lebensformen,
die sich deutlich von dem unterscheiden, was ein heutiger Leser gewohnt ist",
auseinanderzusetzen. Der "Alltag der Menschen in einer Welt, die noch nichts
vom Fortschritt, von moderner Wissenschaft, technisch-industrieller
Produktionsweise und bürokratischem Rechts- und Sozialstaat wusste, die in
allem auf Tradition und Religion setzte, in ständische Hierarchien
gegliedert war und von Landwirtschaft und Handwerk lebte," (Willems
2012, Bd. I,
S.29) ist eine in vielem andere, ja geradezu fremde Welt und wird es
durch den rasanten technologischen und sozialen Wandel im 20. und 21.
Jahrhundert immer mehr.
Und
so bekommt man es auch bei Paul Fleming mit einem Autor zu tun, der für ein
Publikum geschrieben hat, "dessen Welt- und Menschenbild wesentlich durch
die christliche Religion und das Erbe der Antike geprägt war
und das insofern in einem Maße mit den Geschichten, Lehren, Bildern und
sprachlichen Wendungen der Bibel, mit den Viten der Heiligen und den Dogmen
und Normen der christlichen Theologie sowie mit den Mythen, den Götter- und
Heldengeschichten vertraut war" (ebd.
S.29), das heute den meisten Menschen abgeht.
Vom
besonderer Bedeutung sind dabei auch unsere Maßstäbe, wenn wir mit Bildern
und Texten dieser Zeit in Berührung kommen, die in irgendeiner Weise Themen
wie ▪ Liebe, Erotik, Sexualität und
Schamgefühl betreffen. Bei diesen kommen nämlich oft unserem Bewusstsein
gänzlich entzogene (Be-)Wertungen ins Spiel, die wir im Laufe eines lang
anhaltenden "Zivilisationsprozesses" (Elias) internalisiert haben.
Dies und anderes mehr, wie z. B. die Frage, ▪
wie sich Flemings Gedicht
eigentlich zu den sonst so beliebten petrarkistischen Gedichten
ihrem konstitutiven Liebeskonzept verhielt, ist dabei nur
eine der Fragen, die sich bei der Dekonstruktion des Textes
stellen können und von einem entsprechenden didaktischen
Arrangement von Textangeboten zur Beantwortung unterstützt
werden können.
▪
Text
▪ Text (modernisierte
Sprachfassung)
▪
Aspekte der
Analyse und Interpretation
▪ Natürliche Begegnung der
Geschlechter vs. petrarkistisches Liebeskonzept
▪ Inhaltliche, bildliche
und rhetorische Aspekte
▪
Bausteine
▪
Entwicklungsaufgaben
im Lebenslauf