Ein Gedicht, das
sich mit dem Küssen befasste, war eigentlich in dieser Zeit nichts Besonderes. Im
Grunde existierte das Genre des
Kussgedichts schon seit der römischen Antike, als »Catull
(87-55 v- Chr.) mit solchen Gedichten in seinem »Lesbia-Zyklus "eine Philosophie der
erotischen Lebenslust und der totalen Hingabe an die Sinnlichkeit"
darbot, welche das Schicksal der Liebenden davon abhängig machte, ob
die Frau sich eben auch "hingab" oder nicht. Was Catull dabei auch
auszeichnete, war, dass er "auch ein lyrisches Ich geschaffen (hat),
dem bei aller literarischen Maskerade doch immer ein gesundes Maß an
Authentizität ablesbar blieb." (Bauer
2011)
Zwei exemplarische
Auszüge aus Übersetzungen solcher Gedichte, die auf der Webseite
»Gaius Valerius Catullus angeboten werden, können dies
verdeutlichen:
»Carmen
5 - Vivamus, mea Lesbia, atque amemus |
»Carmen
8 - fulsere quondam candidi tibi soles |
Lass uns leben, meine
Lesbia, und lieben
und das ganze Gerede der allzustrengen alten
Leuten einen Pfennig wertschätze!
[...]
Gib mir 1000 Küsse, darauf 100,
dann 1000 weitere, ein zweites 100,
dann in einem fort 1000 weitere und darauf 100.
[...] |
Unglücklicher Catull, hör auf dich wie
ein Narr zu verhalten
und halte für verloren, was, wie du siehst, verloren
gegangen ist. [...]
Einst leuchteten dir glänzende Sonnen,
immer wenn du gingst, wohin dein Mädchen dich führte,
(5) das von dir geliebt wurde (so sehr), wie keine
geliebt werden wird!
Immer wenn dort jene vielen neckischen Dinge geschahen,
die du wolltest und die auch das Mädchen nicht ablehnte,
strahlten dir wahrlich glänzende Sonnen.
Jetzt will jene nicht mehr [...]
Miststück, weh dir! Welches Leben wird dir bleiben?
Wer wird jetzt zu dir kommen? Wem wirst du schön
erscheinen?
Wen wirst du jetzt lieben, zu wem wirst du gehören?
Wen wirst du küssen? Wem wirst du in die Lippen beißen?
Aber du, Catull, bleibe standhaft und hart. |
Mit dem 16.
Jahrhundert beginnt die Erfolgsgeschichte der Kussgedichte und
entsprechender Sammlungen, die sich bis in 18. Jahrhundert
fortsetzte.
Die neulateinischen
Gelehrtendichter der Zeit orientierten sich dabei an dem in Latein
abgefassten »Basia-Zyklus von »Johannes
Secundus (1511-1536) aus dem niederländischen »Den
Haag. Darin finden sich 19 Gedichte, an denen der Autor
verschiedene Versmaße erprobt und dabei Catull nachahmt (Imitatio-Poetik)
zum Thema Kuss und Küssen. (▪
Auswahl
von vier Gedichten, die sich zum Vergleich mit dem Gedicht von
Fleming eignen)
Zur Sprache kommen
darin u. a. die "Arithmetik des
Kusses", Küsse als Nahrungs- und Heilquelle, Küsse, die Verwundungen
oder Tod bringen, und der Seelentausch durch das Küssen. Mal
"verweigert die Geliebte ihre Lippen, bald ist ihr Kuss ein Hauch,
dann wieder sind ihre Liebkosungen unzählbar wie Tränen, schon
vergeht der Liebende in zärtlicher Umarmung; bald jedoch wird ihm so
fest in die Zunge gebissen, dass er nur noch lallen kann." (Bauer
2011)
Eigentlich, so betont das lyrische Ich in einem der
Gedichte, gehe es ihm nur um das Küssen "also verschwindet, ihr
Unanständigen, ruft er seinem Publikum zu und preist einen Atemzug
weiter die Sittsamkeit seiner Geliebten, »die ganz sicher ein
Büchlein ohne Schwanz lieber will als einen Dichter ohne Schwanz«.
So leicht ist der Voyeurismus des Publikums enttarnt. Darauf
verstand sich schon Catull, Secundus steht dem Römer in nichts
nach." (ebd.)
Dass selbst »Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832) dem "König der Küsser" (ebd.)
seine Anerkennung nicht versagte, sei hier, nur als Marginalie
erwähnt: "»An den Geist des Johannes Secundus« schrieb Goethe:
»Lieber, heiliger, grosser Küsser, / Der du mirs in lechzend
atmender / Glückseligkeit fast vorgetan hast!« (zit. n.
ebd.)
Fleming hat sich
selbst einen neulateinischen Gedichtzyklus (Suavia) verfasst und
sich dabei u. a. auch auf Secundus und andere späthumanistische
Dichter bezogen. In seiner Vorrede zu dieser Sammlung hat er betont,
dass erotische Dichtung als »Spiel« (ludus) verstanden werden dürfe
und auf ein Publikum ziele, das »Reize ohne Verletzung des Respekts
und Anmut jenseits von Obszönität liebt« (Fleming, zit. n.
Kühlmann 1982,
S.182) Damit machte er unversmissverständlich klar, dass die durch
die Dichtung geschaffene Welt des Eros eben "durch keine
Wirklichkeit einlösbar" sei und "erst gar nicht Biographisches
enthüllen" sollte. (Kühlmann 1982,
ebd.) In diesem Sinne verstehen sich seine Liebesgedichte auch als
durchaus »keusch« und "bewegen sich in der Uneigentlichkeit der
scherzhaften Fiktion" (ebd.),
um ein den Leser*innen ein intellektuelles Vergnügen bereiten zu
können.
Fleming bewegt sich
also durchaus im gleichen vom christlichen Neostoizismus vorgegebenen
Rahmen, für den die Affektkontrolle und die Beherrschung der
Leidenschaften, insbesondere der zur Sünde gewordenen sexuellen, in
den Vorstellungen von Keuschheit mündete, die vor allem Frauen "als
eine höchste Tugend " (Willems
2012, Bd. I, S.51) abverlangt wurde. Die bis ins 16. Jahrhundert
hinein zu beobachtende "obsessive Angst
vor der weiblichen Sexualität" (Bologne
2001, S.6), die sich am
biblischen Sündenfall mit Eva als sündiger
Verführerin orientierte, zeigt die
▪ geschlechtsspezifische Seite der Scham auf. Die Beherrschung
der Leidenschaften, die wenn sie misslang, zum Laster, dem "Ausleben
»fleischlicher Gelüste«" (Willems
2012, Bd. I, S.51) führen musste, war dabei Teil des Prozesses
der Sozialdisziplinierung im Zivilisationsprozess, die
»Nobert
Elias (1897-1990) hin seinem 1939 erstmals
erschienen Werk »"Der
den Prozess der Zivilisation" (1997, Bd. 1, S.324-356 und
Bd. II, S.408-420) analysiert und beschrieben hat.
So muss man also
auch im Kontext des Kussgedichtes von Fleming, aber auch anderer
barocker Liebesgedichte bis hin zur galant-erotischen Lyrik
verstehen, dass die ▪"Lizenz des Erotischen" in dieser Zeit
"auf ihrem Beitrag zur zunehmenden Kultivierung des menschlichen
Zusammenlebens" (Niefanger
32012,
S.42) beruht. Fleming will dementsprechend auch die Schamgrenzen
nicht verschieben, sondern mit seinem Gedicht, das sich als reines
"Spiel" ausweist, bestätigen.
Die Lizenz des
Erotischen, das steht auch bei ihm außer Zweifel, zielt auf Beherrschung der Wollust, der
Kontrolle des menschlichen Körpers und der Regungen und Wallungen
der Geschlechtorgane. Dies ist wohl neben ihrer unterhaltenden
Funktion der maßgebliche Kontext, in dem die Barockerotik als Ganzes
verstanden werden muss. (vgl.
Niefanger
32012,
S.42)
Und auch in Flemings Sicht ist es eine männliche Sicht, wird
zunächst einmal ausgedrückt, "wie Er wolle geküsset seyn". Nicht
außergewöhnlich in der Zeit, in der Frauen ohnehin keine
selbstbestimmte Sexualität zugebilligt wurde. Weise, zugebilligt
wurde die Sicht eines Geschlechts zur
Sprache kommt, was angesichts der patriarchalischen Strukturen der
Gesellschaft auch nicht weiter verwundert: "eine dominierende und
unterdrückende Männlichkeit"
(ebd.)
So galt in dieser männlich dominierten Welt denn auch Keuschheit vor
allem für Frauen "als eine höchste Tugend [...] und wenn man von dem Gegenteil von Tugend, vom Laster
sprach, [...] dann dachte man dabei in erster Linie an das Ausleben
»fleischlicher Gelüste« (Willems
2012, Bd. I, S.51), das Frauen ohnehin nicht, jedenfalls nicht
in selbstbestimmter Weise, zugebilligt wurde.
Man kann das Gedicht
von Fleming, insbesondere unter wegen seiner spielerisch-graziösen
Liedform (vgl.
Meid 22008, S.91) und der Aufforderung am Ende, jedes
Liebespaar solle beim Küssen das tun, was ihm gefällt, durchaus als
Gestaltung des Carpe diem-Motivs verstehen. An keiner Stelle des
Gedichts ist dabei antithetisch das dazu komplementäre Vanitas-Motiv,
die Vorstellung, dass alles Dasein und aller "Küsserei" zum Trotz
eben vergänglich ist, gestaltet.
Mag sein, dass das
zeitgenössische Publikum diese grundsätzliche Antithetik stets
mitbedacht hat, aber in diesem Fall spricht sicherlich allein schon
die leichte, eingängige Liedform dagegen. Dessen ungeachtet wird das
liedhafte Kussgedicht Flemings oft vor allem als Beispiel für das
Carpe diem-Motiv herangezogen und in oft mit einem dafür
entsprechend "antithetisch" arrangierten Vergleichstext, z. B. dem
Sonett von
▪
Andreas Gryphius
▪ »Es ist alles eitel«
präsentiert, um vor allem das Besondere des sogenannten barocken
Lebensgefühls von ▪ allseits bedrohtem Leben und
unstillbarem Lebenshunger
und des
▪
menschlichen Lebens in bipolarer Spannung zu vermitteln.
Statt dieser eher
bewusstseins- und
mentalitätsgeschichtlichen Bezugspunkte bietet sich aber
an, das Gedicht im Kontext der Entwicklung des Genres und vor allem
als ein Gedicht zu lesen, das einer anderen Traditionslinie als das
petrarkistische Liebeskonzept steht.
Die, wie eingangs
erwähnt, "in der antiken Tradition wurzelnde »Natürlichkeit« der
Begegnung zwischen den Geschlechtern" (Kühlmann 1982,
S.185), wie sie das Lied Flemings gestaltet, wäre also
dementsprechend besser mit einem streng
petrarkistischen Liebesgedicht,
z. B. ▪
Hofmannswaldaus
»Vergänglichkeit der
Schönheit«,
zu vergleichen, um seiner Besonderheit gerecht zu werden.
Ebenso könnte man
ein Kussgedicht »Johannes
Secundus (1511-1536). z. B. ▪
5. Kuss, ▪
10. Kuss, ▪
11. Kuss oder ▪
12. Kuss heranziehen. um die unterschiedliche Traditionslinie
darzustellen.
Und natürlich können
sich aus dem manieristischen ▪ »Auf den
Mund« von Hofmannswaldau ebenso interessante Vergleichsaspekte
ergeben.