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Der »Frontispiz
(Bildertitel), den man, weil es sich um die Printform
eines
Kupferstiches handelt, auch Titelkupfer
nennt, kann im Falle des
Simplicissimus Teutsch in der Ausgabe von 1669 von
»Jakob Christoph (Christoffel) von
Grimmelshausen (1622-1676) unter vielen Aspekten betrachtet
werden und ist immer wieder interpretiert worden.

In einem Schriftband über der Figur steht der Romantitel der
"Abenteuerlicher Simplicissimus" Teutsch. Die Bildunterschrift in
Versen, die hinzugefügt ist, lautet:
"Ich ward
gleich wie Phoenix durchs Feuer geboren.
Ich flog durch die Lüffte, ward doch nicht verloren.
Ich wandert im Wasser, ich streiffte zu Land,
in solchem Umschwermen macht ich mir bekant
was oft mich betrübet und selten ergetzet;
was war das? Ich habs in dies Buch hier gesetzet
damit sich der Leser gleich wie ich itzt thu,
entferne der Torheit, und lebe in Ruh.“
Das Bild
zeigt ein scheusalartiges Fabelwesen mit menschlichen und
animalischern Zügen, bei denen sich heutigen Betrachtern der
Vergleich zu den »Orks
und anderen menschenähnlichen "Ungeheuern" in den Fantasy-Welten aufdrängt, mit
denen die Film- und Medienindustrie an alte Mythen und keltische
Sagenfiguren etc. anschließt, um diese in aller denkbar
scheußlichen, meistens abgrundtief bösen Gestalt über die Leinwand
flimmern zu lassen.
Auch wenn sich gewisse Ähnlichkeiten nicht
leugnen lassen, wenn man das Eigene im Fremden auch hier zulässt,
sind die Unterschiede natürlich beträchtlich und lassen sich nur
dann produktiv nutzen, wenn es einem gelingt, durch die
Dekonstruktion solcher Bilder die historische Distanz zu überwinden.
Zielen die Orks und die anderen grauenvollen Kreaturen der »Herr-der-Ringe-Filmwelten
vor allem darauf, Emotionen eines Millionenpublikums auf
der ganzen
Welt zu wecken, stehen die Mischwesen, die wie das, welches auf dem
Titelkupfer des Simplicissimus dargestellt sind, nicht nur in einem
ganz anderen historischen Kontext, sondern zielen mit ihrer
emblematischen
Struktur auch auf einen mit der Bildsprache der Zeit vertrauten
gebildeten Leser seiner Zeit.
Bei den barocken Darstellungen handelt es sich oft um »Mischwesen
mit dem gehörnten Kopf eines »Satyrs,
eines
»Dämon im
Gefolge des Gottes
»Dionysos.
Sie sind
Wesen
der »griechischen
Mythologie,
die immer wieder mit Ohren und Schweif von Pferden oder Eseln,
häufig auch mit tierischen Extremitäten ausgestattet, abgebildet
sind. Ihre Bocksmerkmale, wie
z.
B. die Hörner in diesem Titelkupfer, kommen aber erst in
»hellenistischer
Zeit, beginnend mit der Herrschaft
»Alexanders
des Großen (356-323 v. Chr.), hinzu.
Wahrscheinlich bezieht sich die Figur im Simplicissimus auf
eine Fabelgestalt des antiken römischen Dichters
»Horaz
(65-8 v. Chr.), die von diesem in
seiner
»Ars
Poetica beschrieben
wird.
Solche satyrhafte Mischwesen sind Grimmelshausen wahrscheinlich auch
als
»Druckermarken
begegnet, mit denen die ersten Drucker der Neuzeit in Ermangelung
eines verbindlichen Urheberrechts ihre Urheberschaft, wenn
auch
nicht schützen, so aber doch anzeigen wollten. Darüber hinaus waren
sie natürlich auch wichtige Elemente, um die Bücher zu dekorieren,
und dienten mehr und mehr nur solchen Zwecken. (vgl. auch
Michel 2013)
Das Titelkupfer zum Simplicissimus hat neben dem satyrhaft
gehörnten Kopf einen weiblichen Körper, besitzt einen Enten- und
einen Rinderfuß, fledermausartige Flügel und einen Fischschwanz. In
seiner menschlich gestalteten Hand hält Mischwesen ein
aufgeschlagenes Bilderbuch mit verschiedenen Abbildungen aus
unterschiedlichen Bereichen, vor allem allerlei Dingen wie z. B.
einer Krone und Barett als Insignien von Herrschaft, eine
Kanone, ein Schwert stehen
für Macht und Krieg, der Wehrturm
für Wehrhaftigkeit. Mit dem Glas oder Zinnbecher, aber
auch mit Würfeln als Spiel kann auf Geselligkeit hingewiesen werden,
aber, im Falle eines Glases, auch auf die Zerbrechlich- bzw.
Vergänglichkeit der Dinge; die hohle Narrenkappe ohne Gesicht
auf der rechten Buchseite symbolisiert wohl die Torheit und
Eitelkeit der Welt. Das große Segelschiff thematisiert wohl
das Reisen im Sinne von Welterfahrenheit, kann aber auch auf die
Endlichkeit des menschlichen Lebens, der Lebensreise jedes
Einzelnen, hinweisen. Die Biene könnte für die Tugend des
Fleißes stehen und die Kröte stellvertretend auf alles
Kreatürliche der Welt verweisen.
Eine besondere Rolle nimmt wohl das dargestellte Wickelkind
ein, das den Beginn des Lebens symbolisiert. Damit wird wohl der Lauf des
Lebens angesprochen, der trotz aller Dinge, die man ihm Leben
ansammelt, im Verständnis dieser Zeit immer nur auf ein Ziel hin sinnvoll gelebt werden kann,
nämlich das ewige Leben im Paradies.
Mit einer Finger- und Armgeste, die man auch als "Spott- und
Verhöhnungsgeste" (Beutin
1989, S.119) verstehen kann, zeigt die Figur des Titelkupfers auf das aufgeschlagene
Buch. Zugleich hat sie einen Degen umgehängt. Am Boden liegen auf dem
Sockel, auf dem das Wesen steht, einige Masken herum, auf die
es achtlos die Füße gestellt hat.
Nimmt man die heruntergefallenen
oder herumliegenden Masken auf dem Boden als Symbole für die "Vielgesichtkeit"
des Menschen, der, um es mit modernen Begriffen zu fassen, in der
Welt wechselnde Identitäten anzunehmen oder vorzugeben weiß, um
jeweils ein anderes "Gesicht" zu zeigen, runden sich die zahlreichen
Bilder als Symbole zu einer insgesamt
allegorischen
Sicht auf die Welt.
Als
Ganzes hat das Titelkupfer die Struktur eines
Emblems (Überschrift
– Bild – Text). In dieser Form ist es eine typische barocke Buchgestaltung, wie sie in
diesem Arbeitsbereich am ▪ Beispiel der "Geharnschten Venus" (1660)
von »Kaspar
Stieler (1632-1707) im Hinblick auf den Buchtitel und die
Emblematik des Titelkupfers beispielhaft analysiert und dargestellt
wird.
Die sonderbare Erscheinung des Titelkupfers in dem Roman von
Grimmelshausen dient dabei im Kontext der Bildunterschrift auch
dazu, das Interesse des Lesers an der epischen Entfaltung einer
fiktiven Welt mit grotesken, abstrusen oder zumindest wunderlichen
Erscheinungen zu wecken, die ihm aber stets auch vor Augen führen
soll, was um ihn herum in dem vom ▪
Dreißigjährigen Krieg gezeichneten Leben passiert.
Wenn man, wie dies
Michel
(2013) tut, das "Ich" der Verse als Ich des Protagonisten auf(fasst)" lassen sich im Romantext
emblemtypische Bezüge finden, welche die
umfassende Welterfahrung des Helden, dargestellt auch auf den
Buchseiten, die das Mischwesen aufgeschlagen hat, unter Beweis
stellen.
Denn Simplicissimus "reist ja in allen vier
Elementen –
unter Wasser im Mummelsee (V,12), in der Luft durch Hexerei (vgl.
II,17/18) –, und einmal sagt ein Pfarrer zu ihm ›bilde dir ein/ als ob
du gleich dem Phoenix vom Unverstand zum Verstand durchs Feuer/ und
also zu einem neuen menschlichen Leben auch neu geboren worden
seyest.‹ (II,8)."
Insofern verdeutlicht die Emblematik den Aufbau des Romans selbst
als "Deutbild zeitgenössischer Satire-Theorie" (Gersch
1973, S.77).
Das Mischwesen könnte auch, so fährt
Michel
(2013) fort, "als ein inneres
Portrait des Helden gedeutet werden kann", bei dem sich der Held
selbst am Ende "als Abbild einer »scheußlichen Seele«" selbst
erkennt.
Die Mischwesengestalt lässt sich aber auch als satirische Antwort
auf "die Ästhetisierung der Wirklichkeit durch den hohen Roman" (Beutin
1989, S.119) (▪
höfisch-historischer Roman) verstehen.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.02.2022