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Thematisches Projekt: Lesen
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Geschichte des Lesens
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Überblick
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Lesen in der frühen Neuzeit
(16./17. Jh.)
Das 17. Jahrhundert, in das die
Literaturepoche
Barock
(1600-1720) überwiegend fällt, ist eine Zeit, die trotz aller Ereignisse die
den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Niedergang Mitteleuropas
zeitweilig beförderten, wesentliche Prozesse entweder in Gang setze oder
weiter voranbrachte, die das politische und gesellschaftliche Leben der
Neuzeit lange Zeit geprägt haben.
Mit dem Westfälischen Frieden
(1648) hörte der Kampf um die Vorherrschaft in Mitteleuropa
zwischen der österreichischen und spanischen
Habsburgerdynastie
auf der einen und der französischen »Bourbonen-Dynastie auf der anderen Seite
mit der Etablierung Frankreichs als führender europäischer Kontinentalmacht
auf.
Deutschland als »Nationalstaat im modernen Sinne ist noch über 250 Jahre weit
weg und was bis dahin die politisch-gesellschaftlichen Strukturen vor allem
in Mitteleuropa prägte, war über die Jahre brüchig geworden. Das »Heilige
Römische Reich Deutscher Nation, dessen Wurzeln bis auf »Karl
den Großen (741-814) zurückreichen, geriet von innen und außen mehr und
mehr in Bedrängnis. (▪
Kaiser
und Reich 1256-1648) Mit dem
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Dreißigjährigen Krieg
(1618-1648), der Mitteleuropa bis in die Mitte des Jahrhunderts verwüstete, fand die Zeit der Glaubenskämpfe zwischen
Reformation und katholischer Restauration ihr Ende. Die
Wiederherstellung des »Augsburger Religionsfriedens
(ehemals 1555) zeigte zudem, dass sich eigentlich keine der beiden Seiten in
den langen Kämpfen entscheidende Vorteile verschafft hatte. Im Gegenteil:
Die Zeit eines konfessionellen und politischen Universalismus war
abgelaufen.
Übernationale konfessionelle Bindungen, wie sie einst
die ▪
Idee des universalen römisch-christlichen Kaisertums
kennzeichneten, gingen mehr und mehr verloren und an ihre Stelle traten die
partikularen Interessen der neu entstehenden Staatengebilde, die sich nur
noch einem losen Reichsverband zugehörig fühlten. Trotzdem: Die partikularen
Interessen der einzelnen Reichsstände bedeuteten nicht, dass sie letzten
Endes nicht aufeinander angewiesen waren.
So vollzog sich der der Weg
zur modernen Staatlichkeit im Bereich des Heiligen Römischen Reiches, dem
sogenannten Alten Reich, nämlich über einen "einzigartigen
dritten Weg politischer Organisation zu finden: den ▪
Staatsaufbau auf zwei Ebenen" (Burkhardt
2009, S.8), der die "Föderalismusfähigkeit" (ebd.)
als "politische
Kernkompetenz der deutschen Geschichte" (ebd.)
zu einem tragenden Pfeiler dieses politischen Systems machte.
Wenn am Ende des ▪
Dreißigjährigen Krieges
(1618-1648) der Kampf zwischen dem Kaiser und den Reichsständen zugunsten
der letzteren weitgehend entschieden war und diese fortan daran gingen, ihre eigenen
Herrschaftsgebiete nach dem Scheitern absolutistischer Bestrebungen auf
Reichsebene durch Ausschaltung der Landstände und des feudalen Adels zu
absolutistischen Territorialstaaten nach dem Vorbild des
französischen »Absolutismus
»Ludwigs XIV.
(»L' état c'est moi«) umzugestalten.
Zu einer absoluten
Herrschaft nach französischem Vorbild brachten es indessen letzten Endes nur
die Großterritorien im alten Reich. In Brandenburg-Preußen, Österreich,
Sachsen, Bayern und Hannover entwickelte sich eine souveräne,
absolutistische Form territorialer Königs- bzw. Fürstengewalt, die auf der
sukzessiven Monopolisierung der politischen Gewalt nach innen und außen in
einer über das Gottesgnadentum legitimierten Staatsgewalt beruhte. Die Art
und Weise, wie in den Großterritorien die Landeshoheit ausgebaut wurde,
brauchte "in Rechtsqualität und realer Machtstellung den Vergleich mit
außereuropäischen Staaten nicht zu scheuen". (vgl.
Schilling 1994a, S.134)
Etliche mittlere, vor allem aber alle kleineren Staaten brachten es aber
meistens nur zu einer ▪ "halbmodernen Landeshoheit" und mussten sich weiterhin
gefallen lassen, dass ▪
Reichsgerichte und ▪
Reichskreise regulierend in ihre inneren Angelegenheiten eingriffen. (vgl.
Schilling 1994a, S.135)
Das galt sogar in dieser Zeit für ▪
Württemberg,
das zwar die Rolle einer regionalen Vormacht spielte, dem aber immer wieder,
zuletzt auch unter ▪
Herzog Carl Eugen (1728-93)
in seinen fortwährenden Auseinandersetzungen mit den Ständen vom Kaiser bzw.
den kaiserlichen Behörden, die ▪
Grenzen seiner Macht aufgezeigt wurden.
Dort wo sie zu absoluter
Herrschaft gelangten, regierten die Landesfürsten souverän, d. h. ihre Landeshoheit galt fortan voll und
unbeschränkt. Sie konnten fortan Bündnisse untereinander und mit fremden
Staaten schließen, außer gegen den Kaiser und das Reich, und waren somit
nach Staats- und Völkerrecht mit ihren Territorien Staaten geworden.
Dadurch
wurde auf der anderen Seite das Reich und die kaiserliche Gewalt, auch wenn
die alten Verfassungsformen und Organe (Kaiser, »Reichstag,
»Reichshofrat
und »Reichskammergericht
als oberste gerichtliche Instanzen und die Einteilung in »Reichskreise)
beibehalten wurden, weiter geschwächt, zumal sich die Fürsten, mit diesem
Ziel im Auge, sich auch nicht scheuten, sich gegen den Kaiser an das
aufstrebende Frankreich anzulehnen. Dies war z. B. beim ersten, allerdings kaum
bedeutsamen "Reinbund" einiger Fürsten von 1658-1668 der Fall.
Im Ganzen jedenfalls waren auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches
nach dem Westfälischen Frieden etwa 300 souveräne Territorien
entstanden, von denen einige größer, die Mehrheit freilich klein bzw. sehr
klein waren.
Alle jedenfalls besaßen die so genannte »Reichsstandschaft
und waren, sieht man einmal von den Vorrechten der 8 »Kurfürstentümer
ab, einander gleichberechtigt, zumindest theoretisch. Dazu kamen noch etwa
1400 reichsunmittelbare Herrschaftsgebiete geringsten Umfangs, die
zwar dem Reich unterstanden, aber diese Reichsstandschaft mit Sitz und
Stimme auf dem »Reichstag
nicht besaßen, aber dennoch weitgehend unabhängig in Verwaltung,
Gerichtsbarkeit, Besteuerung und sogar bei der Festlegung der Religion ihrer
Untertanen agieren konnten. (vgl.
Eckhardt/ v. Rosen - v. Hoewel 1949/1971, S.58-61)
Angesichts dieser
Zerrissenheit des Reichs und des offenkundigen Mangels staatlicher
Geschlossenheit wundert es nicht, dass schon zeitgenössische Gelehrte dem
Reich einen "einem Monstrum ähnlichen Körper" bescheinigten, "der sich im
Laufe der Zeit durch die fahrlässige Gefälligkeit der Kaiser, durch den
Ehrgeiz der Fürsten und durch die Machenschaften der Geistlichen aus einer
regulären Monarchie zu einer so disharmonischen Staatsform entwickelt hat,
dass es nicht mehr eine beschränkte Monarchie, wenngleich der äußere Schein
dafür spricht, aber noch nicht eine Föderation mehrerer Staaten ist,
vielmehr ein Mittelding zwischen beiden. Dieser Zustand ist die dauernde
Quelle für die tödliche Krankheit und die inneren Umwälzungen des Reiches,
da auf der einen Seite der Kaiser nach der Wiederherstellung der
monarchischen Herrschaft, auf der anderen die Stände nach völliger Freiheit
streben" (»Samuel
Pufendorf (1632-1694) , De statu imperii Germanici, 1667, zit. n.
Meid 31989, S.85)
In den großen, neuen Territorialstaaten in Mitteleuropa, die sich zum Teil schon
seit der Reformationszeit im Wandel vom feudalen Ständestaat zum
Fürstenstaat befanden, errangen die Landesherrn durch Zurückdrängen der
Mitspracherechte der Stände bis hin zu ihrer Ausschaltung als politischer
Machtfaktor eine solche Machtfülle, dass sie willkürlich Steuern erheben,
Privilegien nach Belieben abschaffen und vergeben sowie über die Religion
ihrer "Untertanen" bestimmen konnten. Zugleich wuchsen mit der
Territorialisierung die Aufgaben des aufkommenden "modernen" Staates.
Ein zentrales Finanzwesen musste die wachsende Staatstätigkeit und
die zunehmende Zahl der Behörden und Verwaltungsapparate, das
stehende Heer ebenso wie die meist horrende Summen verschlingende
Machtrepräsentation an den Höfen und Residenzen gewährleisten. Dazu
kamen noch zusätzliche Aufgaben des Staates in anderen gesellschaftlichen
Bereichen wie z. B. die Rechtspflege, das Erziehungswesen, der Wirtschaft,
sowie der öffentlichen Wohlfahrt.
Letzten Endes mischte sich die Obrigkeit
in nahezu alle Lebensbereiche ein. Sie tat dies mit einer neu entstehenden
Bürokratie, geprägt von dem Typus des abhängigen und pflichtbewussten
Berufsbeamten, die neben dem stehenden Heer und der Staatsreligion
die wichtigste Stütze des modernen Staates in seinem absolutistischen Gewand
wurde. Zugleich bot sich in dieser neuen Verwaltungsbürokratie auch dem
gebildeten Bürgertum, dem humanistisch gebildeten Gelehrten, die Möglichkeit
zum sozialen Aufstieg. Als hervorragend qualifizierte Staatsdiener treten
sie damit in Konkurrenz zu dem im fürstlichen Territorialstaat politisch
machtlosen, aber weiterhin sozial privilegierten Adel, dem die höhere
Offizierslaufbahn im Heer lange vorbehalten bleibt.
(wird fortgesetzt...)
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(16./17. Jh.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.01.2022