▪
Annäherungen: Spuren, Zeugnisse
und Zugänge zu einer fremden Welt
▪
Sozialdisziplinierung als Mittel der Staatsentwicklung
▪
Überblick
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Sexualstrafrecht in der frühen Neuzeit
▪
Ehebruch ▪
Vorehelicher und außerehelicher Geschlechtsverkehr
▪
Vorrücken
der Scham- und Peinlichkeitsschwellen
▪
Die Entwicklung sozial konstruierter Scham
in der frühen Neuzeit und im Barock
Eigene Voraussetzungen von Einstellungen zur Sexualität reflektieren
Wer sich auf die Suche nach den Vorstellungen begibt, die die
Menschen in der frühen Neuzeit und im Barock über Liebe, Erotik und
Sexualität gehabt haben, muss sich auf eine Zeitreise einlassen, die
nur dann funktioniert, wenn man die Brille moderner Ansichten
abnimmt und sich auf eine Fremderfahrung einlässt, die viel Anderes,
Unverständliches und, aus unserer heutigen Sicht, ganz und gar
"Unmögliches" bereithält.
Allzu schnell werden ansonsten beim
Betrachten von bildlichen Darstellungen und manchen Gedichten der
Zeit Maßstäbe an das Fremde angelegt, mit denen wir uns im Grunde
genommen nur schnell und
ohne weitere Mühe ihren Sinn zurechtschustern und dabei alles
Befremdliche einebnen, ohne dass die Begegnung mit diesem uns und
unsere Vorstellungen und sozialen Praktiken in diesem Bereich
einbezieht und damit ermöglicht, zu neuen Erkenntnissen in einem
selbstreflexiven Prozess zu gelangen.
Schnelle Antworten darauf, wie, wann, warum oder wie häufig "sie"
"es" vor vierhundert Jahren "gemacht" haben, um wie in einer Art
Lexikon der Erotik in alten, vergilbten Ansichten zu blättern,
taugen daher wenig. Wer sich aber ernsthaft und auch mit der
Bereitschaft, sich unter Einsatz von etwas Zeit und Mühe darauf
einzulassen, wird in den nachfolgenden Ausführungen, die in keiner
Weise den Anspruch erheben wollen und können, das Thema in allen
Facetten und schon gar nicht erschöpfend darzustellen, vielfache
Möglichkeiten finden, die Zugänge zu dieser fremden Welt eröffnen
können und interessante Vergleiche mit unserem heutigen Empfinden
und Umgehen mit Erotik und Sexualität finden, bei der ein einzelner
Mausklick genügt, um in die "Untiefen" der Pornographie zu kommen.
Das Eigene im Fremden erkennen
Liebe und Erotik sind in den permissiven Gesellschaften wie der
unseren in einer Weise
gerahmt, dass vielen Menschen, die hier leben, andere Gestaltungen
des Geschlechterverhältnisses als zurückgeblieben und unakzeptabel
vorkommen.
Wenn Frauen, die in den aufgeklärten Gesellschaften Europas
leben, aufgrund religiöser Überzeugungen und der Normen der streng
patriarchalisch ausgerichteten Kultur, der sie sich zugehörig
fühlen, so kleiden, dass ihre Geschlechtsmerkmale, so gut es geht,
dem männlichen Blick entzogen sind, wenn Muslima, sofern sie es
überhaupt wagen, im Burkini ein öffentliches Bad betreten,
muslimische Frauen Männern die Begrüßung mit Handschlag verweigern,
dann geraten unsere Vorstellungen über das Recht darauf, ein
selbstbestimmtes Leben führen zu können, schnell an ihre Grenzen.
Auf breite Ablehnung stoßen soziale Praktiken traditionaler, meist
muslimischer Gesellschaften, bei denen die männlichen
Familienmitglieder darüber wachen sollen, dass ihre weiblichen
Verwandten keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr haben oder sich gar des
Ehebruchs schuldig machen. Wenn wir dann noch hören, dass in manchen
dieser traditionalen Gesellschaften, in denen das islamische Recht
gilt, "ehebrechende" Frauen gemäß der »Scharia
auf grausame Weise hingerichtet werden, dann empfinden wir eine
solche Abscheu darüber, dass wir uns nicht einmal mehr in solche
Praktiken hineindenken wollen. Religiöser Fundamentalismus, wir
kennen ihn meistens als Islamismus, mit dem wir die meisten dieser
Erscheinungen in Verbindung bringen, ist uns heute ganz und gar
fremd.
Wenn es um Fragen geht, die mit Liebe, Erotik und Sexualität
verbunden sind, reagieren wir also, wenn wir auf Anderes und Fremdes
treffen, das nicht zu unseren permissiven Vorstellungen in diesem
Bereich passt, auf unterschiedliche Art und Weise.
Vorstellungen, in denen es oft um ein keusches Leben geht,
erscheinen vielen als verklemmt und spießig und vor allem repressiv.
Keuschheit ist dieser Auffassung nach stets Ausdruck einer
patriarchalisch dominierten repressiven Sexualmoral. Dass
vorehelicher Geschlechtsverkehr auch bis heute in modernen
Gesellschaften zumindest sozial sanktioniert ist, zeigt ein Blick
auf einige Staaten des mittleren Westens der USA, in denen solche
puritanisch-evangelikale Traditionen, die auch andere Schamgrenzen
ziehen, nahezu ungebrochen fortgeführt werden.
Literarisch hat dies
schon »Nathanel
Hawthorne (1804-1864) mit seinem Roman »"Der
scharlachrote Buchstabe" (1850) angeklagt, der das
Schicksal der Ehebrecherin
Hester Prynne schildert, die, weil sie trotz ihrer öffentlichen »Anprangerung den
Vater ihres unehelichen Kindes
nicht nennen will, neben anderen Sanktionen dafür, dazu verurteilt
ist, ein scharlachrotes "A" als Zeichen ihrer Ächtung auf der Brust
zu tragen. Der Roman, dessen Geschichte etwa 200 Jahre früher im
gerade erst von englischen Puritanern gegründeten Boston im 17.
Jahrhundert spielt, ist zugleich ein herausragendes Beispiel dafür,
wie Literatur als eine Art "Archiv" (Greiner
22014, S.21) fungieren kann, "das die Wandlungen der
Gefühlskultur sammelt und aufbewahrt" (ebd.)
und uns mit der gebotenen kritischen Distanz zur Fiktionalität des
jeweiligen Werkes – Literatur ist schließlich keine Quelle im
geschichtswissenschaftlichen Sinne –, bei der Überwindung der
historischen Distanz zu einer, insbesondere auch in diesem Bereich
fremden Zeit unterstützen kann.
Geht es um Sexualität und die Sexualmoral regieren wir heute, auch
wenn dies nicht alle Formen von Sexualität betrifft, besonders
sensibel, weil es dabei auch immer, wie
Willems
(2012, Bd. I, S.50) betont,
um die "Vorstellung von der Selbstverwirklichung in der
Liebe" geht, in die sich, unserem modernen Verständnis
nach, niemand mehr, weder durch Religion oder Gesellschaft reinreden
lassen will.
Wer sich mit Liebe und Erotik im Barock befasst, muss sich über
diese Voraussetzungen eigenen Urteilens im Klaren sein. Er / sie
muss sich gerade in diesem Bereich auf eine Spurensuche einlassen,
die das Fremde bis zum gewissen Grade "erfahrbar", zumindest aber
nachvollziehbar werden lässt, um im besten Fall das Eigene besser zu
verstehen. Dabei muss man versuchen, die historische Distanz zu
überwinden und ihre Erscheinungsformen nicht mit vorschnellen
Interpretationen, die aus unserem eigenen Verständnis und Umgang mit
Sexualität resultieren, vorschnell zu überziehen, um das Fremde, das
Irritierende und Ungewöhnliche so schnell wie möglich in die
bewährten Denkmuster, mit denen wir uns in unserem Leben
orientieren, einzupassen, ja in diese hineinzuplanieren.
Auf Spurensuche: Erotik in der Bildenden Kunst und in der Lyrik im
Barock
In der Schule begegnet man dem Thema im Allgemeinen bei der
Behandlung ▪
barocker Liebeslyrik im Allgemeinen und ihrer besonderen
Spielart, der ▪ galanten Lyrik im
Besonderen sowie verschiedenen Darstellungen aus der Bildenden
Kunst, die im Dreieck zwischen Vanitas (im Imperativ etwa:
Handle im Bewusstsein, dass alles von Menschen Hand geschaffene
vergänglich ist!), Memento mori (Denke stets daran, dass du
sterblich bist!) und Carpe diem (Nutze jeden Tag deines
Lebens!) je nach Inhalt der Darstellung vergleichsweise einfach zu
verorten scheint.
Und doch sind diese populären Kategorien Maßstäbe
anderer, auch moderner Perspektiven, die eher dazu dienen, das
Fremde in diesen Bereichen zu verschleiern, als es in der Begegnung
mit ihm für einen dialektischen Prozess zu nutzen, der uns im
Spannungsfeld zwischen Identität und Alterität zu einem produktiven
Dialog mit dem Fremden führen kann.
Dabei muss man sich in diesem Fall also zuerst einmal auf die fremde
Welt einlassen und sich in sie hineindenken, um zu erfahren wie weit
Liebe, Erotik und Sexualität im Barock von unseren modernen
Auffassungen entfernt sind und doch zum Fremden im eigenen Haus
gehört. Die Beschäftigung mit den ach so fremden, ganz und gar
unverständlichen Vorstellungen des Barock in diesem Bereich führt
also stets auch zu den Fundamenten unserer eigenen kulturellen
Identität.
Ehebruch galt im Prinzip schon seit der sogenannten "Peinlichen
Gerichtsordnung" des Heiligen Römischen Reiches, der »Constitutio
Criminalis Carolina« (kurz: Carolina) als ein Kapitalverbrechen,
egal ob von dem Mann oder der Frau begangen, und sollte mit dem Tode
bestraft werden. (vgl.
Eder 2002,
S.55; "peinlich" bezieht sich hierbei auf das lateinische poena
für "Strafe" und bezeichnet Leibes- und Lebensstrafen.)
Die Strafe wurde allerdings selten verhängt. Wenn es dazu kam, dann
wurde sie auch nur in Verbindung mit weiteren schweren Straftaten
vollzogen. Insofern gilt wohl, dass diese Kriminalisierung der
Sexualmoral vergleichsweise geringe lebensweltliche Auswirkungen für
die Mehrheit der Bevölkerung hatte. (vgl.
ebd.).
Aber: "Regulierung und Sanktionierung des Sexuellen" diente dabei
immer "der Inszenierung der kirchlichen und weltlichen Herrschaft
und der Stabilisierung der Sozial- und Geschlechterhierarchien." (ebd.)
Dennoch wer weiß, dass im 17. Jahrhundert ▪
vor- und außerehelicher
Geschlechtsverkehr in allen Territorien in Deutschland
strafrechtlich verfolgt und solche Bestrafungen oft reine Willkürakte
waren, wer weiß, dass auf wiederholten Ehebruch in vielen Ländern
(darunter Preußen und Kurbaiern) noch immer die Todesstrafe stand, auch wenn
sie, wie schon in früheren Zeiten, im 17. Jahrhundert selten, im 18. Jahrhundert wahrscheinlich überhaupt nicht mehr vollzogen wurde (vgl. Lahnstein
1974, S. 39f.), kann ermessen, unter welchem sozialen Druck junge Paare
auch unter dem "religiösen Fundamentalismus" (Willems
2012, Bd. I, S.48) der christlichen Welt in Europa zueinander
finden sollten.
Wenn "über der Umarmung von Mann und Frau, vor und außer
der Ehe, (...) in jener Zeit Ängste und Gefahren wie Schwerter
(hingen)" (Lahnstein
1974, ebd.) und dazu bei Verstößen gegen die herrschende Sexualmoral ein
peinigendes, schlechtes Gewissen dazukam als "Gefühl der Sündhaftigkeit,
der holde Wahn und blinde Rausch, die Ur-Sünde des ersten
Menschenpaares nachzuvollziehen" (ebd.)
und sich damit der Gefahr ewiger Verdammnis auszusetzen, dem werden
wichtige Rahmenbedingungen bewusst, unter denen sich Liebe und
Erotik, Sexualität und sexuelle Identität in dieser Zeit
entwickelten. Und dazu:
"Angst vor der Geißel der Geschlechtskrankheiten" (ebd.),
die überall grassierten, ohne dass es wirksame Mittel dagegen gab.
Von der Angst, als Frau schwanger zu werden, und wegen eines
unehelichen Kindes sozial verstoßen zu werden, einmal ganz zu
schweigen.
Auch wenn die Todesstrafe für mehrfachen Ehebruch – sie konnte im Übrigen auch, wahrscheinlich jedoch nur in Einzelfällen, Männer
treffen, wie das Beispiel eines hohenloheschen Amtmanns im 17.
Jahrhundert zeigt (vgl.
ebd.) – offenbar selten angewendet wurde, gab es ja noch andere
Mittel, mit denen man gegen die vermeintlichen Missetäterinnen* vorgehen konnte.
Unzählige Männer und Frauen wurden Opfer eines
Systems sogenannter schimpflicher Strafen bzw. Schandstrafen wie Prangerstehen oder
Karrenziehen, die zu öffentlichen Schauspielen für Gassenjungen und Pöbel aller Stände
wurden. Nicht wenige von ihnen sahen schon im verschwiegenen Beieinandersein zweier
Menschen unterschiedlichen Geschlechts, "wenn die Sache herauskam, ein skandalöses Vergnügen niederster
Sorte". (ebd.)
Die Entwicklung sozial konstruierter Scham in der frühen Neuzeit und
im Barock
Liebe
und Erotik im Barock ist so auch stets eine Geschichte von »Keuschheit,
»Scham,
Schuld und »Prüderie,
alles soziale Konstrukte der jeweils herrschenden Gefühlskultur
ihrer Zeit und deshalb auch in besonders ausgeprägter Weise dem
fortwährenden sozialen Wandel unterzogen. So kann man auch mit
gewissem Recht sagen, dass "nichts den Ablauf der Zeit anschaulicher
(macht) als der Wandel jener Übereinkunft hinsichtlich des Gebotenen
oder Erlaubten" (Greiner
22014, S.19)
Scham und Schamgefühl werden als komplexe Begriffe wegen ihrer begrifflichen Reichweite in
unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen mit unterschiedlichen Bedeutungen
versehen. Grundlegend ist aber wohl die
Unterscheidung zwischen der körperlichen, sexuellen Scham, die als
eine "Gefühlsscham" (Bologne
2001, S.2) bezeichnet werden kann, und der "grundlegende(n)
Veranlagung des Menschen, ein Gefühl der Scham zu empfinden." (ebd.)
Dabei lassen sich noch weitergehende Differenzierungen vornehmen.
Im Zusammenhang mit der Literaturepoche des Barock sind dabei wohl
die sozial konstruierte Körperscham und die
geschlechtspezifische Scham besonders wichtig.
Bei der »Körperscham
geht es dabei vor allem um die gesellschaftlich, vorwiegend von
religiösen Vorgaben normierte »Nacktheit
im privaten und im öffentlichen Bereich, die sich z. B. bis heute im
Umgang mit den
eingangs erwähnten Problemen vieler "aufgeklärter" Menschen
im Umgang mit anderen kulturellen Praktiken zeigen.
Aber wer auch
einmal von den ▪
öffentlich vollzogenen Ankleideritualen gehört hat, denen sich Fürsten
und Fürstinnen, Könige und Königinnen vom 17. Jahrhundert an in
ihren Schlaf- und Ankleidezimmern unterzogen haben, wird sich
vielleicht gefragt haben, warum ihnen die Anwesenheit ihrer
Bediensteten und sonstiger Höflinge offenbar überhaupt nichts
ausmachte, wenn sie sich ohne Perücke von oben bis unten nackt
zeigten. Sieht man etwas genauer hin, öffnet sich einem ein Zugang zum barocken Verständnis
von Nacktheit, zumindest in der höfischen Gesellschaft, der einem
dieses verwunderliche und fremdartige Verhalten erklären kann.
Vielleicht wird einem dann auch das schon erwähnte Eigene im Fremden
erkennbar, wenn man z. B. an Peinlichkeiten unserer Tage denkt, die
beim Besuch einer öffentlichen Sauna entstehen, in der man sich
unzähligen fremden Personen ohne Scham (in den USA geht man nur mit
Badeanzug dahin!) nackt zeigt, aber "erschauert", wenn plötzlich der
Nachbar oder die Nachbarin splitterfasernackt, noch viel schlimmer
Kolleginnen oder Kollegen, vom Chef ganz zu schweigen, vor einem
steht.
In der höfischen Gesellschaft des Barock hatte Peinlichkeit von oben nach unten
jedenfalls keinen Platz, wenn
der König sich beim Ankleiden nur vor seinen Dienern oder anderen
Höflingen entblößte. Unerträglich wäre ihm aber gewesen, wenn ihn
"Seinesgleichen", also Gleichrangige oder sonst wie Hochgestellte,
die nicht zu dem von ihm erwählten Personenkreis gehört hätten, so
zu Gesicht bekommen hätten.
Was gegenüber dem Untergebenen letztlich noch als Geste des
königlichen oder fürstlichen Wohlwollens interpretiert wurde (vgl.
Elias
1997, Bd.2, S.414), wird aber im Zuge der weiteren
gesellschaftlichen Entwicklung, "wenn die ständischen Mauern fallen,
wenn die funktionelle Abhängigkeit aller von allen noch stärker wird
und alle Menschen in der Gesellschaft um einige Stufen
gleichwertiger" (ebd.)
werden, zusehends bedeutungslos und im Zuge des sozialen Wandels
entsprechend verändert.
So wurde im Laufe der Zeit "die
Entblößung des Menschen von minderem Rang vor dem Höherstehenden
[...] oder auch die von Menschen gleichen Ranges voreinander mehr
und mehr als Zeichen der Respektlosigkeit aus dem gesellschaftlichen
Verkehr verbannt [...] als Verstoß gebrandmarkt und dementsprechend
mit Angst belegt" (ebd.).
Heute, wo wir längst im Sinne von
Elias, sämtliche grundsätzlich sozial konstruierten Schamgefühle so
internalisiert haben, dass uns die Scham als Gebot unseres eigenen
Innern erscheint (vgl.
ebd.),
ist die Entblößung des Körpers "außerhalb bestimmter, enger Enklaven
in Gegenwart eines anderen zu einem Verstoß" (ebd.)
geworden, auch
wenn
sich die Schamgrenzen, ganz entgegen der Sozialdisziplinierungsthese
von Elias, schon seit Längerem wieder zurückgezogen haben und ihn
einer medialen Kultur des "Anything goes", in der alle Akteure um
Aufmerksamkeit ringen, die bis ins Obszöne reichende
Zurschaustellungen des menschlichen Körpers ein tägliches und
einträgliches Geschäft wurde.
Ein nackter Flitzer
(in den meisten Fällen sind es Männer), der den Ablauf einer von
Medien übertragenen Sportveranstaltung stört, ist heute als
Störfaktor immer noch nicht gern gesehen, aber wohl kaum noch ein
moralischer Aufreger.
Ähnliches gilt für die bis heute immer wieder aus unterschiedlichen
Gründen mit verschiedenen symbolischen Zielen verknüpften
»Oben-Ohne-Proteste.
Werden sie nicht gerade an besonders "sensiblen" Orten (z. B. in
Kirchen, im Zusammenhang mit religiösen Zeichen, bei öffentlichen
Feiern jeder Art) inszeniert, gelingt es wohl auch ihnen, von einer
gewissen medialen Aufmerksamkeit, die einzelne solcher Aktionen
vielleicht auch noch gewinnen können, dass sie ein B-Promi vorführt,
die vermeintlichen "Spießerinnen und Spießer" kaum mehr aus der
Reserve locken.
Dabei war die Entblößung der weiblichen Brust vor
fünfzig Jahren noch ein überaus spektakuläres medienwirksames Mittel
um die Emanzipationsbewegung zu fördern und die moralische
Verlogenheit des bürgerlichen Establishments herauszufordern. Das
sogenannte »"Busenattentat",
einem »Oben-Ohne-Protest
dreier Studentinnen am 22. April 1969 auf den
Philosophen
Theodor W. Adorno (1903-1969) während einer seiner Vorlesungen
an der Gießener Universität wird wohl im "kulturellen Gedächtnis"
bewahrt bleiben. Welchen Auftrieb diese zu einer allgemeinen
Zivilisationskritik sich weitenden Diskussion um die "verlogene"
bürgerliche Schamhaftigkeit der bundesrepublikanischen Gesellschaft
der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts fand,
spiegelt sich auch in einem Bestseller, der ein unglaublicher
Publikumserfolg wurde und in den dafür empfänglichen Kreisen in
keinem Bücherregal fehlen durfte. In
seiner schon 1920 entstanden Erzählung »Der
Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea« (1920/1977)
lässt »Erich
Scheurmann (1878-1957) den Südseehäuptling Tuiavii in einem fiktiven
Reisebericht über seine Erfahrungen mit den kultivierten Weißen (Papalagi)
erzählen,
was er über die Bekleidungsgewohnheiten der Papalagis denkt: "Der
Papalagi ist dauernd bemüht, sein Fleisch gut zu bedecken. [...] Der
Kopf. Ihn, zur Not auch noch die Hände, lässt der Weiße gerne
unbedeckt. Obwohl auch Kopf und Hand nichts sind als Fleisch und
Knochen. Wer im übrigen sein Fleisch sehen lässt, erhebt keinen
Anspruch auf rechte Gesittung." (S.19)
Die
Zivilisationskritik, die damit transportiert wurde, ist dabei an anderen
literarischen Vorbildern orientiert. Mag sein, dass dem Millionenpublikum,
das den Text in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts verschlungen hat, entgangen ist, dass der erzählende
Südseehäuptling ein "Rassist" ist,
"weil er die Menschheit streng sortiert, in das eigene und in
das andere Volk" und das "Fremde" ablehnt, weil es fremd ist" (Steinfeld
2016) und sich damit auch nicht leugnen lässt, dass dahinter
"die Vorstellung einer völkischen Identität" (Steinfeld
2016) hervorlugt, bestand und besteht der ästhetische Reiz der Erzählung
in der Wiedererkennung der von Tuiavii beschriebenen Objekte durch
den Leser. "Der Papalagi ist dauernd bemüht, sein Fleisch gut zu
bedecken. [...] Der Kopf. Ihn, zur Not auch noch die Hände, lässt
der Weiße gerne unbedeckt. Obwohl auch Kopf und Hand nichts sind als
Fleisch und Knochen. Wer im übrigen sein Fleisch sehen lässt, erhebt
keinen Anspruch auf rechte Gesittung." (S.19)
Nacktheit im öffentlichen und privaten Raum und die Verhöflichung
der Gesellschaft
Im öffentlichen Raum war ▪
Nacktheit, die lange Zeit an Sexualität und Scham(fühle) gekoppelt war, von der Bildenden Kunst abgesehen, schon
▪
seit Beginn der frühen Neuzeit auf dem Rückzug.
»Nobert
Elias (1897-1990) hat diese Entwicklung in seinem 1939 erstmals
erschienen Werk »"Der
den Prozess der Zivilisation" (1997, Bd. 1, S.324-356 und Bd.
II, S.408-420) analysiert und sie im Rahmen seiner
Theorie eines
fortschreitenden, aber keineswegs geradlinig verlaufenden
Zivilisationsprozesses als eine Form der ▪
Sozialdisziplinierung beschrieben.
In dessen Verlauf wird, so
betont er, auch "der Sexualtrieb, wie viele andere Triebe, einer
immer strengeren Regelung und Umformung unterworfen"
(ebd.
1997, Bd. 1, S.342), die zugleich auch zu einem "Vorrücken der
Scham- und Peinlichkeitsschwelle, für die Verstärkung der
gesellschaftlichen Kontrolle auf den Einzelnen"
(ebd..
S.345) führt.
Dabei fällt diese Entwicklung seiner Auffassung
"mit der beschleunigten ▪
"Verhöflichung der Oberschicht" (ebd.,
Bd. 2, S.415) zusammen, in deren Verlauf neue Abhängigkeitsverhältnisse
entstehen. In der immer größer werdenden Zahl von Menschen,
die besonders eng in der sogenannten Hofgesellschaft zusammenlebten, mit der z. B.
absolutistische Herrscher wie der französische König
»Ludwig XIV. (1638-1715) den Hochadel als Hofadel ihrer
Kontrolle dadurch unterwarf, dass er ihn verpflichtete, "bei Hofe"
zu wohnen, kommen neue Elemente der sozialen Kontrolle zum Einsatz,
die auch einen wachsender Zwang zur Selbstkontrolle nach sich zogen: Man beobachtet sich gegenseitig, "Sensibilität und
dementsprechend die Verbote werden differenzierter und
differenzierter, umfassender, vielfältiger [...] gemäß der anderen
Art des Zusammenlebens auch das, worüber man sich schämen muss, das,
was man an Anderen als peinlich empfindet." (ebd.)
Irgendwie scheint es in allen Epochen der Geschichte "ein gewisses
Gleichgewicht zwischen exzessiver Freizügigkeit und exzessiver
Prüderie" (Bologne
2001, S.2) gegeben zu haben. In der Renaissance und im 19.
Jahrhundert zeigt man sich gegenüber Darstellungen von Nacktheit in
der Kunst sehr freizügig, "während man sich im Alltagsleben in das
Korsett übertriebener Schamhaftigkeit zwängt." (ebd.)
Im Mittelalter war es hingegen gerade umgekehrt: In der Malerei wurde
jede körperliche Blöße verhüllt und vermieden, "doch in anderen
Bereichen weiß man »nackte Tatsachen« durchaus zu schätzen." (ebd.)
Nacktheit jedenfalls war bis ins Spätmittelalter hinein wenig
tabuisiert, auch wenn die Kirche Nacktheit und Schamlosigkeit immer
wieder zur "Sünde" erklärte und auch die Lust als "sündhaft"
geißelte. (vgl.
Scheuch
2004, S.13.f.)
Nacktbaden in Badehäusern und in Seen und Flüssen
Für die Menschen
dieser Zeit aber war der Anblick nackter Menschen nichts Besonderes
und dementsprechend nicht peinlich. In vielen Haushalten schlief
man, bis die Pestwellen dem ein Ende bereiteten, nackt gemeinsam mit
der ganzen Hausgemeinschaft in einem Bett. In öffentlichen ▪
Badehäusern
als Einrichtungen der Körperpflege, Orten zur Behandlung von
Krankheiten und sich einfach zu treffen, deren Zahl ab dem im 17.
Jahrhundert aber aus verschiedenen Gründen rückläufig war, hatten
beide Geschlechter offenbar wenig Hemmungen sich zu entblößen,
soweit man dies auch aus zeitgenössischen Darstellungen schließen
kann.
Kinder mussten wohl nicht eigens sexuell aufgeklärt werden,
weil die Erwachsenen selbst die Mauern um nackte Körper und sexuelle
Handlungen noch nicht so hochgezogen hatten, dass sie zu einer "dichte(n)
Mauer der Heimlichkeit um den Heranwachsenden"
(Elias
1997, Bd. 1, S.342) wurden, die selbst das Sprechen über Sexualität jenseits das Triebhafte sublimierender Formen auch dann noch
beträchtlich erschwerte, als dieses Thema längst
ausschließlich in den familiären Bereich abgedrängt war. Aber auch
dort zog ja im Laufe der Geschichte das obligatorische
Nachthemd ein, das die Kinder wohl nur dann
zu sehen bekamen, wenn einer der beiden Eltern einmal das für die
Kinder zu einer Art Tabuzone erklärten separaten Elternschlafzimmers
in diesem Aufzug verließ, das ansonsten "die angeblich schmutzigen Vorgänge vor den reinen Kinderblicken" (Heimgartner
2004) fernhalten sollte.
Auch wenn das Nacktbaden vor allem in den Städten protestantischer
Länder schon seit der Renaissance vielerorts eingeschränkt wurde (Bologne
2001, S.33), war ▪
Nacktbaden in Seen und Flüssen für die einfache Bevölkerung in
vielen europäischen Ländern bis ins 19. Jahrhundert hinein durchaus
noch üblich. Allerdings konnten die Strafen, wenn man dort, wo
Nacktbaden untersagt war, dabei ertappt wurde, bestimmt eine
abschreckende Wirkung entfalten.
Im privaten Umfeld bewahrte sich das Nacktbaden jedoch noch längere
Zeit "den geselligen Charakter aus der Zeit des Mittelalters" (ebd.,
S.40)
Das Motiv einer Dame, die beim Baden überrascht wird, wie es
in der Bildenden Kunst seit dem 16. Jahrhundert immer wieder
vorkommt, ist insofern wohl weniger als "Vorwand zur Darstellung
einer schönen Frau als Akt" (ebd.)
zu sehen, sondern entspricht durchaus den gesellschaftlichen
Umgangsformen der Zeit, die zuließen, dass eine Dame ihre Besucher
im Bad empfangen durfte, ohne damit gegen Sitte und Anstand zu
verstoßen. (vgl.
ebd.)
In jedem Fall blieb Nacktbaden "nicht länger unschuldig" (ebd.,
S.35) und vor allem Könige und Fürsten und deren Gefolge zogen sich,
ehe sie ins Wasser stiegen, geschützt hinter den Büschen vor den
Blicken, dazu nach Geschlechtern getrennt, ein Hemd über, eine
Gewohnheit im Übrigen, die sich lange Zeit gehalten hat.
So wurde die Nacktheit als Ganzes im Zuge der oben dargestellten "Verhöflichung
der Oberschicht" (Elias) und der weiteren Entwicklung des
Bürgertums aus den Bereichen der Öffentlichkeit verbannt. Dieser
Prozess wurde noch dadurch beschleunigt, dass durch die seit dem 16.
Jahrhundert belegten epidemisch verbreiteten Geschlechtskrankheiten
(z. B. Syphilis) die neue Schamhaftigkeit wegen des Seuchenschutzes
noch juristisch flankiert wurde.
Die Prüderie des viktorianischen Zeitalters (19. Jahrhundert)
Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese
Entwicklung wohl im "krankhaft prüden" (ebd.,
S.48)
»viktorianischen
Zeitalter des 19. Jahrhunderts, in dem der bürgerlichen Prüderie, ein als obszön geltendes Wort wie 'Glied'
genügen konnte, um "Ohnmachtsanfälle im Salon" (Eunson
1990, S.147) hervorzurufen. Sie verstieg sich sogar dahin, dass "die
geschweiften Beine eines Flügels manchmal verhüllt wurden, damit
ihre wollüstigen Kurven nicht die tieferen Gefühle verliebter Paare
erregen konnten" (ebd.).
All das hinderte aber auch in dieser Zeit nicht daran, "die
weibliche Kleidung einer Sanduhr gleich so zu gestalten, dass Brüste
und Hintern mit Korsetts und
Turnüren (in der
Damenmode lange übliches Gesäßpolster) besonders auffällig ins Auge
fielen." (ebd.)
Weit ausladend, akzentuierte der sogenannte "Cul
de Paris" (frz. = Pariser Hintern) den weiblichen Hintern, um
die Blicke der Männer auf sich zu ziehen. Und als der Cul 1890 der
Cul wieder erschwand, kehrte man eben wieder zur Betonung der
Schultern zurück. Um sie aber nicht wirklich zu zeigen, kreierte man
den Puffärmel. In der weiblichen Damenmode ging es also immer auf
und ab, ein in gewisser fortschreitender Enthüllungsprozess, der die
Ganzköperverhüllungen des viktorianischen Zeitalters nach und nach
zurückdrängte. So ließen dekolletierte Kleider den Ansatz der Brüste
wieder ahnen (im Mittelalter und in der Renaissance modisch längst
schon einmal en vogue) und tiefe Schulterausschnitte entblößten die
reizvollen Linien des Oberarms, bis man eines Tages den Reiz des
Frauenbeines entdeckte, nicht des Beines, das auf einmal aus lang
verhüllenden Röcken bei tänzerischen oder sonstigen Bewegungen
zufällig mal zu sehen war, sondern des ganzen zur Schau gestellten
Beines. Ähnliche Beobachtungen, die aber hier zu weit führen, lassen
sich natürlich auch im Bereich der Männermode machen
Dass sich im viktorianischen Zeitalter am Ende im Bewusstsein der Bürger "seine Würde an der
Länge seiner Badekleidung misst" (Bologne
2001, S.46) misst, hat schon die Karikaturisten des 19. Jahrhunderts
beschäftigt.
Es gilt eben auch hier, wie schon erwähnt: Irgendwie scheint es in
allen Epochen der Geschichte "ein gewisses Gleichgewicht zwischen
exzessiver Freizügigkeit und exzessiver Prüderie" (Bologne
2001, S.2) gegeben zu haben.
Schamgefühle entwickeln sich in den unterschiedlichen sozialen Schichten
unterschiedlich
Schamgefühle sind
auch oft an ein unterschiedliches Empfinden von sozialen Schichten
gebunden. "So stehen die einfachen Leute den Skulpturen der
Renaissance, und insbesondere denen des Michelangelo, feindseliger
gegenüber als die weltliche oder kirchliche Obrigkeit: wo man sie
als Brunnenfiguren oder sonst auf öffentlichen Plätzen aufstellte,
hat man sie bekleiden müssen." (Bologne
2001, S.12)
Es sind aber
ansonsten "die jeweils herrschenden Klassen, zunächst die Aristokratie, dann
das Bürgertum" (ebd.),
welche die Nacktheit im Alltag rigoros zurückdrängen und ablehnen.
Ihre "Behörden untersagen das Nacktbaden, schließen die Bordelle,
bestimmen darüber, welche Handlungen erlaubt und welche verboten
sind. [...] Die Nacktheit ersten Grades [im Gegensatz zu der z. B.
in der Bildenden Kunst dargestellten, d. Verf.], die der Mann auf
der Straße erlebt, erscheint jenen leicht vulgär, die glauben, sie
hinter sich gelassen zu haben." (ebd.)
Die geschlechtsspezifische Seite der Scham
Vorstellungen und
Wertungen weiblicher Sexualität orientieren sich bis ins 16.
Jahrhundert hinein am
biblischen Sündenfall mit Eva als sündiger
Verführerin. Daraus entwickelt sich eine geradezu "obsessive Angst
vor der weiblichen Sexualität" (Bologne
2001, S.6)
Das geht soweit, dass sich im 16. Jahrhundert "selbst
die Mediziner darin einig (sind), das sexuelle Verlangen als ein
eher weibliches Phänomen zu definieren. Der Mann brauche den Koitus
nicht zur Erhaltung seiner Gesundheit, behauptet Bailly. Wenn dagegen
eine Frau keinen Umgang mit dem Mann habe, so müsse sie mit
ernsthaften Beschwerden reichen. " (Bologne
2001, S.6) Auch in der Sinnlichkeit ganz und gar zugewandten
Renaissance bleibt die weibliche Keuschheit eine hohe Tugend, ja
Montaigne versteigt sich sogar zu der Behauptung, dass die Erregung
der Männer nachlasse, wenn sie eine Frau nackt zu Gesicht bekämen. (vgl.
ebd.)
Die höfische Form der Erotik im Barock
Im höfischen Leben
wurde Erotik nicht nur mit sexueller Triebbefriedigung konnotiert, was
das damit stets in Zusammenhang gebrachte Carpe-diem-Motiv
nahelegt. (vgl.
Niefanger
32012,
S.41)
Bei Hof gingen die
Vorstellungen über
Erotik und ihre gesellschaftliche Funktion nämlich weit darüber
hinaus. Sie beruhten darauf, der Erotik die Funktion "einer reglementierte(n) Kommunikationsform"
zuzuweisen,
bei der es vor allem darum ging, die Kontrolle über die sexuelle
Lust im öffentlichen Raum zu demonstrieren.
Diese dazu in einer Weise zu kultivieren, dass sie sich
von der "Wollust als Inbegriff des Animalischen und Niedrigen" (ebd.)
klar abhob, die sich angeblich außerhalb der höfischen Gesellschaft
abspielte, war das Ziel, und siedelte die höfische Erotik daher, so
sozial distinktiv wie nur möglich, "im Bereich der sinnlichen
Verfeinerung und Vermittlung" an. (ebd.)
Dabei ist die höfische Erotik aber im Gegensatz zu den psychischen
und emotionalen Prozessen, die bei Liebe im Spiel sind, wenn sie z.
B. mit weit über körperliche Anziehung hinausgehenden Vorstellungen
über Ewigkeit oder Einzigartigkeit in Verbindung gebracht wird, ganz
eindeutig auf das Hier und Jetzt, den Augenblick mit seinen
erotischen Möglichkeiten bezogen.
In
der höfischen, das
Sexuelle sublimierenden Form der Erotik, stehen die zahlreichen,
meist großformatig, repräsentativen Zwecken dienenden Darstellungen
nackter Frauenfiguren in der Bildenden Kunst nur vordergründig
entgegen. Diesem Paradox, das öffentliche Nacktheit auf der einen
Seite zum Rückzug zwingt, während ihr in der Kunst viel Raum gewährt
wird, ist schon seit der Renaissance zu beobachten. Irgendwie
scheinen auch diese Phänomene, die natürlich einen Zusammenhang
aufweisen, aber in dieser Zeit in einer "Art Gleichgewicht zwischen
Freizügigkeit und Schamhaftigkeit" (Bologne
2001, S.33) gestanden zu haben.
In der Regel handelt es sich dabei um Darstellungen, die
in einem mythologischen Kontext stehen und auf diese Weise die
öffentliche Präsentation und Rezeption von Nacktheit legitimieren.
Die Darstellungen sollen ihre Betrachterinnen jedenfalls nicht mit
sexuellen Reizen überfluten, und wenn doch, dazu dienen, die
"animalische" Lust zu kontrollieren und zu überwinden.
Unvorstellbar war aus diesem Grunde im Übrigen noch lange, dass eine nackte Frau
ohne jede mythologische Einkleidung als individuelle Person in einem
nennenswerten Gemälde zu sehen war, wie die z. B., in »Francisco
de Goyas (1746-1826) "Nackte
Maja" (um 1800).
Für den, wie auch
immer gestalteten, privaten Gebrauch eignen sich in dieser Zeit wohl
vor allem die schon im 17. Jahrhundert angefertigten Miniaturbilder
(Kutzer
2019), die den Künstlern größere Freiräume zu einer
entmythologisierten Darstellung ließen, die aber auch sehr oft Darstellungen
einer äußerst populären Schäferidylle zeigen, die das neue
Liebesmodell von Zuneigung und Freundschaft unter den Partner
thematisierten.
Daneben gab es aber
auch eine ganze ▪
Menge pornographischer und obszöner Literatur mit entsprechenden
Darstellungen, die sowohl bei Hofe als auch in anderen lesekundigen
Kreisen trotz der strengen Zensur, die herrschte, unter der Hand
kursierten.
Die Lizenz des Erotischen im Barock und ihre Ablehnung
Werden die
mythologischen Bezüge der Darstellungen von Nacktheit und die
Bedeutung der Kultivierung sexuellen Verlangens im Sinne der
Sozialdisziplinierung gesehen, heißt das im
Umkehrschluss allerdings nicht, dass sich im Gegensatz dazu
behaupten ließe, in der Renaissance und im Barock hätten die Rezipienten solcher Darstellungen von
solchen Bildern nicht auch in einer sexuell stimulierenden Weise Gebrauch gemacht.
Und natürlich sind
auch die Sicht auf solche Gemälde sowie die Wertung von Literatur,
wie z. B. der barocken Liebeslyrik bzw. i. e. S. der galanten Lyrik
des Barock, zeitbedingt, wie ein Blick in die Anfang des 20.
Jahrhunderts publizierte "Geschichte
der Öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland" von Wilhelm
Rudeck (21905) zeigt.
Der Autor, der es
sich nach eigenen Worten zum Programm gemacht hat, "rücksichtslos
die Wahrheit" auch dann zu sagen, "wenn diesselbe unsere Ohren
beleidigt" (Rudeck
1905, Vorwort), nimmt in der Tat kein Blatt vor den Mund, wenn
er über die "schamlose(n) und unzüchtige(n) Produkte" (Rudeck
1905, S.488) in der Literatur der Zeit herzieht und z. B. Werke
von ▪
Christian Hofmann von Hofmannswaldau
(1616-1679) als "phallische Poesie" bezeichnet (ebd.).
Dieser gehe nicht nur "jeder frische Lebenshauch" ab (ebd.),
sondern sie sei als "Dichtung, voll unglaublicher Frivolität
und durch und durch verfault" (ebd.,
S.482), eine "Sittenverderbnis, »gegen welche der unbefangene
Schmutz der Nürnberger Schwank- und Fastnachtsspiele noch unschuldig
erscheinen kann. Die Dichter dieses Zeitraums schrecken nicht nur
vor keinem Gedanken unreinster Art zurück, sondern sind, so
vornehmer, desto mehr beflissen, die Sinne der Leser durch
umschreibende lüsterne Andeutungen zu entzünden. Da sie nicht rund
heraussagen, was sie wollen, nehmen sie eine ungewählte Masse von
Gleichnissen, Anspielungen und Bildern zu Hilfe.« (Waldberg, S.102)."
(ebd.)
Natürlich übersehen
solche "Verrisse", dass die "Lizenz des Erotischen" in dieser Zeit
"auf ihrem Beitrag zur zunehmenden Kultivierung des menschlichen
Zusammenlebens" (Niefanger
32012,
S.42) beruht. Allerdings darf man darunter nicht die Wegentwicklung
vom scheinbar "Animalischen" zu einer höherwertigeren Kulturform von
Erotik und Sexualität verstehen, sondern den oben knapp skizzierten
fortlaufenden
Zivilisationsprozess im Sinne von Norbert Elias. So zielt also die Erotik
in der Barocklyrik im Allgemeinen und der galanten Lyrik im
Besonderen auf Beherrschung der Wollust, der
Kontrolle des menschlichen Körpers und der Regungen und Wallungen
der Geschlechtorgane. Dies ist wohl neben ihrer unterhaltenden
Funktion der maßgebliche Kontext, in dem die Barockerotik als Ganzes
verstanden werden muss. (vgl.
Niefanger
32012,
S.42)
Dabei ist es fast müßig, aber dennoch nötig zu betonen, dass bei dem
Erotischen, das in der höfischen Welt des Barock, im Leben wie in
der Kunst thematisiert wird, nur die Sicht eines Geschlechts zur
Sprache kommt, was angesichts der patriarchalischen Strukturen der
Gesellschaft auch nicht weiter verwundert: "eine dominierende und
unterdrückende Männlichkeit"
(ebd.)
So galt in dieser männlich dominierten Welt denn auch Keuschheit vor
allem für Frauen "als eine höchste Tugend [...] und wenn man von dem Gegenteil von Tugend, vom Laster
sprach, [...] dann dachte man dabei in erster Linie an das Ausleben
»fleischlicher Gelüste« (Willems
2012, Bd. I, S.51), das Frauen ohnehin nicht, jedenfalls nicht
in selbstbestimmter Weise, zugebilligt wurde.
▪
Annäherungen: Spuren, Zeugnisse
und Zugänge zu einer fremden Welt
▪
Sozialdisziplinierung als Mittel der Staatsentwicklung
▪
Überblick
▪
Sexualstrafrecht in der frühen Neuzeit
▪
Ehebruch
▪
Vorehelicher und außerehelicher Geschlechtsverkehr
▪
Vorrücken
der Scham- und Peinlichkeitsschwellen
▪
Die Entwicklung sozial konstruierter Scham
in der frühen Neuzeit und im Barock
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
06.02.2022
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