Der
Barock ist, insgesamt betrachtet, von
einem "einheitlichen, alle Lebensgebiete prägenden
Zeitstil" (Kaiser
1976a, S.61) gekennzeichnet. In seiner späten
Phase entwickelt er, vor allem in der Mode, in der bildenden Kunst und Architektur
seine
Formensprache kontinuierlich weiter. Da sich klassizistische
Tendenzen erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeigen, wird dieser Zeitraum
im Spätbarock, ein Begriff, den viele Wissenschaftler bevorzugen, auch als
Rokoko bezeichnet. Das Rokoko umfasst in etwa
den Zeitraum zwischen 1740 und 1780, und kann daher auch der Epoche der (Früh-)Aufklärung
zugeordnet werden.
Der Begriff »Rokoko«
Der Begriff selbst stammt aus dem Französischen (rocaille = Muschelwerk)
und taucht erstmals in französischen Künstlerkreisen im 18. Jahrhundert auf.
Zunächst verwendet man den Begriff eher abwertend im Bereich der bildenden
Kunst, dann wird er auf die Literatur übertragen und seit etwa 1900 fungiert
der Begriff Rokoko wertneutral auch als Bezeichnung für eine literarische Strömung
gleichen Namens. In der Kunstgeschichte fungiert der Begriff zur Bezeichnung
des Übergangs vom Barock zum Klassizismus.
Der Barock schreit und plakatiert, das Rokoko flüstert und dämpft
(»EgonFriedell,1878-1938)
"Der Barock schreit und plakatiert, das Rokoko flüstert und dämpft, "
akzentuiert
Friedell (1929/1969, S.568)
und betont zugleich das Gemeinsame: die Liebe zum "Schnörkel".
"Schnörkelhaft", so fährt er fort, "sind beide; aber der Schnörkel, im
Barock eine leidenschaftliche Exklamation, wird im Rokoko zum diskreten
zierlichen Fragezeichen." Und doch vollzieht sich so etwas wie ein "Stilwandel,
ein Stilbruch, als in Frankreich 1715 Ludwig XIV. als der Prototyp des
barocken Herrschers stirbt, und die Règence das steife, pompöse Zeremoniell
in Fetzen reißt und sich in eine Ausgelassenheit hineinwirft, die das ganze
Rokoko, hektisch überhöht. vorwegnimmt." (Lahnstein
1968, S.28)
Ob das Rokoko "auch der letzte universale Stil des Abendlandes" darstellt,
"der nicht nur allgemeine Geltung hat und in allen Ländern Europas sich
innerhalb eines im Großen und Ganzen einheitlichen Formsystems bewegt," (Hauser
1953/1975, S. 547), lässt sich nach heutigem Stand der
Erkenntnisse wohl nur mit Einschränkungen behaupten. Hier ist an die Stelle
einer so universellen These eine nach Gattungen und Nationen differenzierte
Betrachtungsweise getreten, die nicht nur die unterschiedlichen nationalen
Ausprägungen, sondern auch die verschiedenen sozialen Wirkungsbereiche des
Rokoko hervorhebt. (vgl.
Jorgensen u. a. 1990, S.140)
Der Rokokostil löst die großen barocken Formen auf, wird zu einer Art
"Tapezierstil, der bloß gefallen, ausschmücken, verfeinern will und große
Worte ebenso skuril wie unbequem findet." (Friedell
1929/1969, S.568) Sein "Charaktergebäude" stellt nicht mehr das
pompöse Palais wie es sich noch bei den barocken Prachtbauten von
»Versailles oder
Ludwigsburg zeigt, sondern das "petite
maison", "das mit allen Reizen eines weniger repräsentativen als privatem
Luxus ausgestattete Lusthäuschen, das, mit früheren Bauten verglichen, etwas
Reserviertes, Verschwiegenes, Persönliches hat." (ebd.,
S.566) Während noch unter »Ludwig
XIV. (1710-74) die adelige
Hofgesellschaft nur in der Öffentlichkeit lebt, quasi tagtäglich auf der
Bühne des Theaters als Schauspieler eine "Galavorstellung" gibt, lernt man
im Rokoko "die Freuden der Zurückgezogenheit, des Sichgehenlassens und
Sichselbstgehörens [...] schätzen". Besonders sinnfällig wird dies in den
Bezeichnungen der Schlösschen, die man baut. Sie heißen fortan "Eremitage",
»Sanssouci
wie das Schloss »Friedrichs
II.(1712-1786), des Großen, in Potsdam oder die Schlösser
»Monrepos
bei Ludwigsburg und »Solitude
bei/in Stuttgart wie beim
württembergischen Herzog Carl Eugen
(1728-93). Die Architektur dieser "Lustschlösser" wirkt nicht
mehr so pompös wie im Barock, statt distanzieren sollen sie fortan einladend
und liebenswürdig erscheinen und vor allem als Oasen der Entspannung dienen.
(vgl.
ebd.)
Die Genusskultur der aristokratischen Rokokogesellschaft
Die "Genusskultur des Rokokos", die "mit ihrem Sensualismus und
Ästhetizismus (in der Mitte) zwischen barocker Repräsentation und
romantischer Gefühlsseligkeit (steht)" (Hauser
1953/1975, S. 543), ist es, was die aristokratische
Rokokogesellschaft als Agenten eines durch und durch dekadenten Lebensstils
erscheinen lässt.
"Nur keine Langeweile!" ist die
Richtmarke, an der sich alle gesellschaftlichen Aktivitäten orientieren
müssen. Ebenso eindeutig wie man sich unter keinen Umständen langweilen
will, strebt man danach "das Leben zu einem ununterbrochenen Genuss zu
machen. [...] man will sich delektieren, ohne die Kosten zu bezahlen. Man
will die Früchte des Reichtums genießen ohne die Strapazen der Arbeit, das
Glanzlicht der sozialen Machtstellung ohne ihre Pflichten und die Freuden
der Liebe ohne ihre Schmerzen". (vgl.
Friedell 1929/1969, S.571)
"Wer nicht vor 1789 gelebt hat," sagte der französische Staatsmann und
Diplomat »Charles-Maurice
de Talleyrand-Périgord (1754-1838), "kennt die Süßigkeit des
Lebens nicht." Er bringt damit zum Ausdruck, dass der
hedonistische Lebensstil der
aristokratischen Rokokogesellschaft angesichts der heraufziehenden
bürgerlichen Revolution zum Untergang verurteilt ist, auch wenn er vom
Großbürgertum zum Teil übernommen wird. Dabei hat die "Süßigkeit des Lebens"
in der aristokratischen Rokokogesellschaft viele Facetten.
Wie selbstverständlich versteht man darunter in aller erster Linie "die
Süßigkeit der Frauen; sie sind, wie in
jeder Genusskultur, der beliebteste Zeitvertreib. Die Liebe hat sowohl ihre
'gesunde' Triebhaftigkeit als ihre dramatische Leidenschaftlichkeit
verloren; sie ist raffiniert, amüsant, traktabel, aus einer Leidenschaft zu
einer Gewohnheit geworden. [...] Wohin man auch blickt, auf den Fresken der
Repräsentationsräume, den Gobelins der Salons, den Gemälden der Boudoirs,
den Kupferstichen der Bücher, in den Porzellangruppen und Bronzefiguren der
Kamine, man sieht überall nur nackte Frauen, quellende Schenkel und Hüften,
entblößte Busen, in Umarmungen verschränkte Arme und Beine, Frauen mit
Männern und Frauen mit Frauen, in zahllosen Varianten und endlosen
Wiederholungen." (ebd.,
S.546) Dabei ändert sich vom Barock zum Rokoko auch das
weibliche Schönheitsideal, das
fortan pikanter und raffinierter geworden ist. So wirkt nach so viel
dargebotener Nacktheit, das pikante Spiel mit Kleidung, wieder durchaus
erotisch. Und hat man noch im
Barock
reife Frauen mit üppigen Formen gemalt, so treten in der erotischen Kunst
des Rokoko junge Mädchen, oft fast noch Kinder an ihre Stelle.( vgl.
ebd.) Indem die gesamte
Erotik ein "graziöses Gesellschaftsspiel" wird,
wird auch die Liebe selbst "zum Liebhabertheater, zu einer abgekarteten
Komödie, in der alles vorhergesehen und vorausbestimmt ist: die Verteilung
er Fächer, die der Dame immer die Partie der kapriziösen Gebieterin, dem
Herrn die Rolle des ritterlichen Anbeters zuweist; die Rede und Gebärden,
mit denen man die einzelnen Stationen: Werbung, Zögern, Erhörung, Glück,
Überdruss, Trennung zu markieren hat. Es ist ein komplettes, durch lange
Tradition und Kunst geschaffenes Szenarium, worin alles seinen
konventionellen Platz hat und alles erlaubt ist, nur keine 'Szenen'; denn
seinem Partner ernstliche Erschütterungen bereiten zu wollen, hätte einen
bedauerlichen Mangel an Takt und Erziehung bewiesen." (Friedell
1929/1969, S.572) Kein Wunder, wenn die Rokokogesellschaft immer
wieder mit ihren erotischen und sexuellen Auswüchsen in den Blickpunkt des
Interesses geraten ist. Wenn eine Frau ohne Liebhaber weniger tugendhaft als
unattraktiv angesehen wird, ein Ehemann ohne Mätressen in den Verdacht
gerät, impotent zu sein, eheliche Treue der beiden Partner unpassend
erscheint, entsteht natürlich der Eindruck, dass das promiske Ausleben von
Sexualität eines der Hauptkennzeichen des Rokoko darstellt. Auch wenn man in
der bloßen "Bereicherung, Verfeinerung und Intensivierung ihrer Technik"
noch etwas ganz und gar Unerotisches sehen mag, wie Friedell (1929/1969,
S.575 ) dies noch als Anhänger einer sublimierten Form von Erotik tut, und
den "Augenblick, wo nicht mehr der Inhalt, sondern die Form, nicht mehr die
Sache, sondern die Methode zum Hauptproblem wird" überall für den Anfang der
Dekadenz hält, wird man dem Spiel mit Erotik und Sexualität, jedenfalls vom
heutigen Standpunkt aus besehen, doch auch etwas Befreiendes sehen können.
Dann verliert sich auch schnell jene pejorativ gemeinte Abwertung gegen die
"unvergleichlichen Artisten der Liebeskunst" und ihre "Virtuosen beiderlei
Geschlechts" wie »Madame
Pompadour (1721-64), die »Mätresse
des frz. Sonnenkönigs »Ludwig
XIV. (1710-74) oder »Giacomo
Casanova (1725-98).
Aspekte des gesellschaftlichen Lebens im Rokoko
In anderem zeigen sich weitere Züge des vielfältigen Erscheinungsbildes
des Rokoko. Man versucht nach außen "Feinheit" zu zeigen, die in gespielter
Hypersensibilität, vornehmer Schwäche, betonter Lebensunfähigkeit und
vorgetäuschter Morbidität zum Ausdruck gelangt. Das geht soweit, dass die
Damen der Rokokogesellschaft mit einem "Schönheitspflästerchen"
im Gesicht einen Schönheitsfehler (z. B. eine Warze) vortäuschen, um sich
auf diese Weise attraktiver zu machen. Bei den Männern befindet sich die
Perücke in Frankreich schon seit dem Jahre 1714
auf dem Rückzug. Seit 1730 ist der Haarbeutel (le capaud) in Mode, bei der
die Haare in einem zierlichen Säckchen stecken, das von einer Seidenschleife zusammengehalten wird. Um die Mitte des Jahrhunderts wird der
Zopf (le queue) modern, der später
Friedrich Schiller (1759-1805) als
Eleve der Karlsschule und in seiner daran anschließenden Zeit als
Regimentsmedicus so verhasst
ist. Dazu noch das Pudern des Zopfes, das einfach zur
normalen Morgentoilette dazugehörte, auch wenn die schwierige Prozedur aus
heutiger Sicht geradezu lächerlich wirkt: Normalerweise schleuderte man den
Puder zuerst gegen die Decke und von dort rieselte er dann auf den Kopf
herab, wobei man das Gesicht mit einem Tuch bedeckte. Aber neben den Haaren
musste auch das Gesicht stets gepudert sein. Und doch war das Pudern mehr
als nur eine Mode. Der Puder, das hat schon
Friedell (1929/1969, S.567) bemerkt,
muss darüber hinaus als Symbol des Rokoko verstanden werden. "Das Rokoko",
so betont er, "fühlte sich alt; und zugleich war es von der verzweifelten
Sehnsucht des Alters erfüllt, die entschwindende Jugend festzuhalten: darum
verwischte es die Altersunterschiede durch das gleichmäßig graue Haar. Das
Rokoko fühlte sich krank und anämisch: darum musste der Puder die Blässe und
Bleichsucht gleichsam zur Uniform machen. Das junge oder jung geschminkte
Gesicht mit dem weißen Kopf ist ein erschütterndes Sinnbild der
Rokokoseele, die tragische Maske
jener Zeit, in der sie alle ihre Velleitäten [= von franz. velléité, v. lat.
volle = wollen; Äußerung des Wollens, die noch nicht zur Tat geworden ist;
daher: bloße Willensregung, kraft- und tatenloses Wollen (volitio) ist.
d. Verf.] sammelt, ob sie es weiß oder
nicht."
Auch in der Kleidung
von Männern und Frauen zeigt das Rokoko sein eigenes Gesicht. Die
Männer tragen Seidenröcke, Kniehosen und gebänderte
Schuhe, binden sich Jabots (am Kragen festgemachte Spitzen- und
Seidenrüsche, die den vorderen Verschluss an den Hemden verdecken) um und
stecken ihre Arme in Spitzenmanschetten, heften sich glitzernde
Goldpailetten (Metallplättchen zum Aufnähen) und Silbersteckereien an und
tragen - nur so als Spielzeug - einen Galanteriedegen. Die männliche
Oberbekleidung ist in ihrer Farbgebung wenig aufdringlich. Es überwiegen
eher diskrete Töne wie sie in den Farben der Pistazie, der Reseda, der
Aprikose, des Seewassers, des Flieders oder von Reisstroh zu sehen sind,
aber man hat auch Spaß daran, neue Farben zu kreieren, wie Gänsedreck (merde
d'oie), Flohkopf, Flohschenkel, Flohbauch oder gar Floh im Milchfieber.
Bärte sind im ganzen 18. Jahrhundert out. Frauen
müssen, so will es das herrschende Ideal, eine dünne, mädchenhafte Taille
haben, am besten eine Wespentaille, zu der sie, ins Fischbeinmieder
gepresst, Morgen für Morgen zusammengezogen werden. Die ausufernden Spring-
bzw.
Reifröcke (auch panier = Hühnerkorb genannt), die manchmal so groß
wurden, dass die sie tragenden Damen nur noch seitwärts zur Türe
hineinkamen, werden eigentlich nur dazu verwendet, den Kontrast zur
Wespenfigur zu erhöhen. In den eigenen vier Wänden hängt der Reifrock im
Allgemeinen am Nagel. Dort ziehen die Frauen ein eher loses und bauschiges
Gewand an, die so genannte Adrienne, die aber
ebenfalls mit einer Schnürbrust getragen wird. Wer es in der Öffentlichkeit
schaffte, sich auf dem Parkett der Rokokogesellschaft in den extrem hohen
Stöckelschuhen auch noch fortzubewegen, der
konnte sich der Anbetung der männlichen Verehrer fast sicher sein. Aber auch
andere Accessoires und Requisiten sollten die Frauen attraktiv machen. Sie
tragen dazu eine Zeit lang graziös bebänderte Spazierstöcke, zeigen sich
besonders kokett, wenn sie mit
einem Faltfächer unterwegs sind, oder
flanieren mit dem gerade erst erfundenen zusammenklappbaren Regenschirm, dem parapluie, und alles am liebsten vor üppig gestalteten Blumenbouquets. Dass Kinder wie kleine Erwachsene
behandelt und den ganzen Kleidungsstil ihrer Geschlechtsgenossen zu
übernehmen hatten, gehört zu den Selbstverständlichkeiten der Kindheit im
Rokoko. Genauso geschminkt und gepudert wie die Großen, mit allem männlichen
und weiblichen Drum und Dran ausgestattet, machen sie als kleine Damen vor
dem Herrn den Hofknix und als kleine Herren küssen sie den Damen die Hand.
(vgl.
Friedell 1929/1969, S.578f.)
Besonderes Augenmerk verdient der
Spiegel als Symbol der
Rokokogesellschaft. Er ist, wie Friedell betont, das für sie
besonders repräsentative Utensil. (vgl.
ebd., S.580)
Die Spiegelleidenschaft des Rokoko zeigt sich an zahlreichen Ort und bei
vielfältigen Gelegenheiten. In Räumen, die vor allem zur Repräsentation
dienen, findet man mannshohe venezianische Tafeln, in denen einem Besucher
seine ganze Person widergespiegelt wird, an allerlei Utensilien des
alltäglichen Bedarfs sind kleine Taschenspiegel angebracht, in so genannten
"Spiegelkabinetten" sind alle Wände "verspiegelt" und ihr Glitzern wird noch
durch Kronleuchter und kleinere Lüster verstärkt. Diese Spiegelleidenschaft
weist natürlich auf die Eitelkeit und die zum Narzißmus neigende Eigenliebe
der Rokokogesellschaft, zugleich aber steht sie sowohl für die "Freude an
Selbstbeschau, Autoanalyse und Versenkung ins Ichproblem", als auch für "die
Liebe zum Schein, zur Illusion, zur bunten Außenhülle der Dinge, was aber
nicht so sehr 'Oberflächlichkeit' als vielmehr extremes Künstlertum,
raffinierte Artistik bedeutet." (ebd., S.580)
Von der Spiegelleidenschaft des Rokoko führt der Weg direkt zum
Schauspieler, der wie kein anderer auf den
Spiegel angewiesen ist. Und vom Schauspieler kommt man, nach
Friedell (1929/1969, S.581)
"zum innersten Kern des Rokokos". Das Rokoko ist, so fährt er fort "eine
Welt des Theaters". Die
Theaterleidenschaft des Rokoko nährt sich dabei vor allem aus der
"Sehnsucht nach letzter Decouvrierung der eigenen Seele."
"Niemals vorher oder nachher hat es eine solche Passion für die geistreiche
Maskerade, schöne Täuschung, schillernde Komödie gegeben wie im Rokoko.
Nicht nur war das Dasein selber ein immerwährender Karneval mit Verlarvung,
Intrige und tausend flimmernden Scherzen und Heimlichkeiten, sondern die
Bühne war der dominierende Faktor im täglichen Leben [...]. Überall gibt es
Amateurtheater: bei Hofe und im Dorfe, auf den Schlössern und in den
Bürgerhäusern, an den Universitäten und in der Kinderstube." (ebd., S.581)
In dieser Welt des Scheins kann, darf und muss der Mensch die Alltagsmaske
abnehmen und darf sich frei von den Zwängen des Alltags und seiner Regeln
und Konventionen geben, wie er ist oder zu sein wünscht.
Das literarische Rokoko
Die literaturwissenschaftlichen Forschung ist sich nicht einig, ob das
Rokoko eine "weitgehend einheitliche Stilerscheinung mit durchaus eigenem Gepräge" (Harenbergs
Lexikon der Weltliteratur, Bd.4, S.2464) darstellt, die es
zulässt vom Rokoko als einer
Literaturepoche zu sprechen,
oder ob das Rokoko nur "eine teilweise stark gattungsgebundene Strömung
innerhalb der deutschen Aufklärung" darstellt (vgl.
Jorgensen u. a. 1990, S.140)
In jedem Fall weist die Literatur, die im Kern und im Umfeld der
Rokokogesellschaft entsteht und rezipiert wird, noch eine Vielzahl
motivlicher und formaler Bezüge zum Barock auf. (vgl.
Kaiser
1976a, S.61)
Wenn
Hauser (1953/1975, S. 543)
betont, dass das Rokoko "keine Königskunst" wie der Barock, sondern eine
"Kunst der Aristokratie und des Großbürgertums" gewesen ist, zählt er sie
dennoch zu den "Elitekulturen" (ebd.,
S. 544) wie die Renaissance und den Barock. Dennoch überschreitet das Rokoko
den auf die fürstlich-königliche Repräsentation ausgerichteten Rahmen der
Kunst und nähert sich trotz seiner Vorliebe für das Malerische und
Dekorative, das Spielerische und Ornamentale (vgl.
Friedell 1929/1969, S.565)
"dem diminutiven bürgerlichen Geschmack" (Hauser
1953/1975, S. 544) an. Insofern stellt das Rokoko auch "die
letzte Phase der mit der Renaissance einsetzenden Entwicklung dar und zieht
ihr Fazit, indem es das dynamische, lösende, befreiende Prinzip, mit dem
diese Entwicklung begonnen hat und das sich gegen das Prinzip der Statik,
der Bindung und der Norm immer wieder zu behaupten hatte, zum Siege führt."
(ebd.)
In der Literatur des
Rokoko dominieren dekorative, zierliche und heitere Elemente, auch wenn die
rationale Vernunft weiterhin als oberstes Prinzip anerkannt bleibt, bewegt
sie sich auch in einem Spannungsfeld zwischen Rationalität und
Irrationalität. Indem sie auch mit dem Irrationalen spielt, steht sie in
einer gewissen Opposition zu den Prinzipien der
Aufklärung.
Am deutlichsten sichtbar wird dies in der
anakreontischen Lyrik, dem
"literarischen Rokoko" schlechthin (Kaiser
1976a, S.61). Ihre Gedichte drücken eine Freude an und gegenüber
Welt und Leben aus, die dem Barock fremd ist. Ihre Themen "Liebe, Wein und
Geselligkeit" stehen für heiteren Lebensgenuss, der dem barocken Zeitgefühl
so nicht entspricht. "Wenn im Barock anakreontische Töne aufklingen,
geschieht das im Widerspruch zur religiösen Sinngebung des Lebens, die auf
Weltüberwindung gerichtet ist. Unter dem Genuss lauert die Lebensangst. Bei
Hagedorn schließt sich der barocke Zwiespalt, die anakreontische Motivik
wird zum Ausdruck der aufklärerischen Diesseitsgesinnung und
Glückseligkeitsreligion." (ebd.,
S.88)
Was der Hamburger Patrizier
Friedrich von Hagedorn
(1708-1754), der als Wegbereiter der
Anakreontik gilt, mit seinen
Oden und Liedern (1742-52)
"die anakreontische Haltung auf ein großbürgerliches Patriziat zu
projizieren (versucht)", scheitert dort aber "bei aller geselligen Kultur
dieser Schicht" an der bürgerlichen "Arbeits- und Pflichtwelt, in der die
anakreontische Idealisierung keinen tragfähigen Boden findet." (ebd.,
S.89)
Was allerdings sonst aus Frankreich und England an anakreontischer Lyrik
nach Deutschland gelangt, ist geprägt von der Rokokogesellschaft an den
adeligen Höfen Europas, "die in Schönheit und Genuss aufgeht." (ebd.,
S.88)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.01.2022
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