"Nichts erhellt die Andersartigkeit der Lyrik des 17.
Jahrhunderts vielleicht so schlaglichtartig wie der Umstand, dass in ihr das
Gelegenheitsgedicht zu seiner triumphalsten Entfaltung gelangte. Nicht
freilich im Sinn des alten Goethe, der gegenüber Eckermann betonte, alle
seine Gedichte seien Gelegenheitsgedichte, weil durch die Wirklichkeit
angeregt und nicht aus der Luft gegriffen. Da meint Gelegenheit schon das
individuelle Erlebnis, den einmaligen, prägnanten Lebensaugenblick. [...]
Beinahe jeder Gedichtband des 17. Jahrhunderts enthält, oft in großer Anzahl
und nach der Standeszugehörigkeit der Adressaten geordnet, solche
Kasualgedichte*. [...] Taufen,. Hochzeiten und Begräbnisse, Geburts-,
Namens- und andere Festtage, akademische Jubiläen, Amtseintritte und -verabschiedungen,
Fürstenbesuche und höfische Feste wurden wie selbstverständlich von solcher
Gebrauchslyrik begleitet. [...]
Mochte auch Martin Opitz schon 1624 die immer hemmungslosere Ausbreitung der
Kasualpoesie als "dem guten Namen der Poeten" schädlich erkennen, so hielt
er die Entwicklung doch nicht auf und beteiligte sich selber daran. Das hat
seine tiefere Ursache darin, dass in einem weiteren und allgemeineren Sinn
das Gedicht damals kasualen Charakter überhaupt besaß. Es war zuerst und
zuletzt Antwort auf die Welt, auf ihre konkreten Situationen und
Erscheinungen, Antwort und verbindliche Interpretation zugleich, nicht
Ausdruck bloß privater Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle. Noch dort, wo
diese Gedichte scheinbar ganz persönlich reden, sind sie nicht intro-,
sondern extrovertiert; sie meinen das Typische, das Exemplarische, das
Vorbildhafte. Mit anderen Worten, sie verstehen sich als ausdrücklich
gesellschafts- und öffentlichkeitsbezogen, als repräsentativ. [...] Im
Unterschied zu späteren Lyrik fällt ebenso auf, wie viele Gedichte im
Sprachgestus der Anrede verfasst sind, nicht nur an Gott und an Menschen,
sondern ebenso an die Welt, an ihre Erscheinungen und Sachen. Diese Lyrik
ist primär dialogisch, nicht monologisch angelegt. Sie steht der Welt
gegenüber, anstatt sich mit ihr zu identifizieren."
(aus: Nachwort zu: Wir
vergehn wie Rauch von starken Winden. Deutsche Gedichte des 17. Jh.s., hg.
v. E. Haufe, München: Beck 1985, Bd. II, S.397-399, gekürzt)
* Kasualgedicht (v. lat. casus=Fall): Gelegenheitsdichtung
zu bestimmten besonderen öffentlichen oder privaten Anlässen (Taufe,
Begräbnis etc.); oft auch Auftragsdichtung
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023