"Aber solch ein einzelner Text eines Barockgedichtes ist ein
abgesprengtes Stück eines Ganzen, eines für uns meist versunkenen
Kunst-Ganzen. [...] Ein einzelner Gedicht-Text ist Teil eines Ganzen in
einem dreifachen Sinn.
Fürs erste steht ein barockes Gedicht fast stets in einem mehr oder minder
deutlichen Zyklus-Zusammenhang; und erst im Ganzen gewinnt das einzelne
seinen vollen Sinn. Zweitens ist solch ein Text meist nur das arme Relikt
einer größeren geselligen "Aufführung", ein uns gerettetes Stückchen
Rollentext, von dem man wissen muss, in welchem Akt des geselligen Lebens er
steht und in wessen Mund er gehört, auch, wie er etwa durch Musik erhöht
oder überhaupt erst zu seinem ganzen Wesen vervollständigt wird. Das
gesellige Leben sieht für Hochzeit, Begräbnis, Ball, Fürstenempfang usw. an
bestimmten Stellen Dichtung vor, ja bestimmt die Art der Dichtung, ihren
helleren oder dunkleren "weltanschaulichen" Gehalt und auch die Form. - Dies
führt uns zum dritten Begriff des "Ganzen". [...] In den barocken Sammlungen
finden wir stets Vanitas-Gedichte, die oft in Verwesungsbildern schwelgen,
wir finden sie unmittelbar neben Gedichten des scheinbar horazischen* carpe
diem. Ich glaube nicht recht an das Hin- und Hergerissensein des
Barockmenschen zwischen solchen Extremen. Es sind vielmehr verschiedene
Szenen, verschiedene Rollen, die so verschiedene Texte fordern. Alle dieses
Gedichte, das Verzweiflungsgedicht, das Erotikon, das Kirchenlied, die
Lustverachtung, die Lustverherrlichung, es sind alles Rollen im theatrum
mundi, dem sich der Barockmensch stets eingefügt weiß. Nicht zu jeder Zeit
kann man das Höchste darstellen. Das Spiel führt bald eine schöne Stunde
herauf und bald eine trübe. Ein großes Vorbild ist Salomon, der im Buch
Kohelet, benachbart seinem "Hohen Lied", es ausspricht, das Leben sei eitel
und hinfällig und es sei süß und man solle es genießen, trinkend und
feiernd, es gebe eine Stunde für die Liebeslust und eine für die Trauer, und
so habe jedes Ding seine rechte Stunde.
(aus: Stöcklein, Paul (1956):
Hofmannswaldau und Goethe: "Vergänglichkeit" im Liebesgedicht, in:
Hirschenauer/Weber (Hg.)1956, S.77-98, h: S.77-79, gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.01.2022