"Das Verständnis barocker Lyrik scheitert immer wieder daran,
dass der Sinn barocker Form verkannt wird. Die klassische Lyrik des
Deutschen, d.h. Goethes und der Romantik, bietet das Gedicht als Aussprache
inneren Lebens und die Form als lebendige Oberfläche individuellen
Bekenntnisses. Seit dem 18. Jahrhundert muss sich die Barockdichtung immer
wieder den Vorwurf des Schwulstes gefallen lassen, wird sie als tote
Rhetorik, als das Produkt einer oft närrischen Regelpoetik bezeichnet. In
der Tat: barocke Dichtung beginnt bei der Form, sie ist geübtes Handwerk,
dekoratives, repräsentatives Hantieren mit oft konventionellen
Bestandteilen. Sie ist spielerisch, ja oft schauspielerisch und
marktschreierisch. Verfolgt man den 'Ursprung' eines Gedichts, so stößt man
nicht auf ein 'Erlebnis' (bzw. ein solches ist nicht zu belegen), sondern
auf ein literarisches Vorbild. Barocke Lyrik ist mit wenigen Ausnahmen
unheilbar rhetorisch und man verfehlt ihr Wesen, wenn sich nur an die
schlichten Gebildes des Kirchenliedes oder des Spruches hält."
(aus: Max Wehrli 1962, zit. n.
Braak 1979, S.13f..)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023