"Vanitas, Vergänglichkeit ist das Kennwort der Epoche.
Während der barocke Absolutismus für die Ewigkeit sich einzurichten
anschickt, ist alles verstört von der jähen Flucht der Zeit. [...]
Wenn barockes Lebensgefühl irgend zu bestimmen wäre, dann am ehesten als
eine Erfahrung der Zeit, des Vergänglichen, Transitorischen und Nichtigen
aller Erscheinung in de Zeit, wie sie in dieser obsessiven Form kein anderes
Jahrhundert gemacht hat. Aber auch und eben davon, von diesem stärksten
Erlebnis, wird anders als rhetorisch gebrochen nicht geredet. Das Erlebnis
erscheint reflektiert und anders nicht. [...]
Barocke Kunst, auch die rhetorisch dichterische, ist nicht kalt. Aber sie
ist und bleibt in dem Sinne rhetorisch, als Gefühl und Pathos nicht
unvermittelt spontan sich äußern, sondern immer nur geregelt, kunstvoll,
diszipliniert und sublimiert ... als man eben "künstlich weint", wie man
künstlich lacht, und der "Wiz" spricht und der Verstand angesprochen wird,
während ganz anders für lyrische Lyrik das Gefühl letzte Instanz ist. [...]
Als Vers ist der auf Spruch und Widerspruch angelegte "zweischenklichte"
Alexandriner der Favorit der Zeit, als Gedichtformen sind es das Epigramm
und das Sonett [...] Für das Epigramm, den Zwei- und Vierzeiler, [...]
spricht die Kürze, die brevitas der Form als äußerste Zucht des Denkens zur
Quintessenz letzter Sätze (paradoxer "Gegensätze).
Das Sonett empfiehlt sich mit seinem Aufbau, der in barocker Theorie und
Praxis für eine dialektisch-logische Argumentation als geradezu ideal
geeignet angesehen wird. [...] Das Sonett ist eine derart genuin barocke
Gedichtform, dass es nur folgerichtig erscheint, wenn es mit dem Ende der
Epoche um 1700 fast plötzlich außer Kurs gerät."
(aus:
Herzog 1979, S.100-105, gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.01.2022