"Barocke Lyrik ist Gelegenheitsdichtung in einem Maße, wie es
heute nicht leicht vorzustellen ist. Sie ist an alle wichtigeren Anlässe des
öffentlichen wie privaten Lebens gebunden. An die Gelegenheit gebunden, wird
sie in Auftrag gegeben und, bald schlechter, bald besser honoriert. [...]
Gelegenheitsdichtung entspricht [...] einem Bedürfnis des bürgerlichen
Alltags („dutzendweise“ wird sie hergestellt). Wer sie schreibt, kann sich
an Regeln und Muster halten. Gelegenheitsdichtung dieser Art ist somit
lernbar, obschon ein "guter Kopf" allein noch nicht genügt. [...]
Das Gelegenheitsgedicht (hat), wie alle Kasualdichtung, im 17. Jahrhundert
Hochkonjunktur. Aber eben darin liegt auch der geschichtliche Grund seiner
Verachtung durch die Folgezeit. Seine Massenhaftigkeit und eine entsprechend
zweifelhafte Qualität mussten das barocke Gelegenheitsgedicht rasch in
Misskredit bringen. Eine Massenhaftigkeit und eine damit sich ausbreitende
geist- und reizlose Handwerklichkeit ist es, dass bereits im 17. Jahrhundert
darin nicht mehr vorbeizusehen war.[...] Opitz und mit ihm das ganze
Zeitalter hat sich nicht gescheut, dem Dichter Regeln und Beispiele, an
deren er Maß zu nehmen hätte, vorzuschreiben. Die barocke Poetik ist
Regelpoetik. [...] Über die Poetiken der Renaissance lebt die antike
Vorstellung vom göttlich inspirierten Dichter fort. Doch wird das Motiv, da
man es jetzt nicht eigentlich zu denken und zu praktizieren weiß, nur als
ein veräußerlichtes tradiert. Wenn im Barock von den Musen und ihren Gaben,
wenn in den Poetiken vom furor poeticus die Rede ist, bleibt das allermeist
auf der Stufe des unverbindlich Dekorativen, ist angelesen und angelernt, im
Grunde bloße Bildungshuberei. [...]
Wer Gelegenheitsgedichte abfasst, hat im 17. Jahrhundert Hilfsmittel zur
Verfügung: Reimlexika, die so genannten Schatzkammern und vor allem die
Poetiken, in denen Punkt für Punkt geregelt wird, wie zu einem bestimmten
Anlass das passende Gedicht zu machen ist. [...]
Dass die ganze Bildlichkeit sowohl als die Technik der Verknüpfungen dem
Hörer geläufig ist. Dass das konventionelle Bild- und Formmaterial in je
neuer Anwendung erscheine, vertraut und zugleich verfremdet, das ist die
barocke Lesererwartung [...].
"
(aus:
Herzog 1979, S.39-52, gekürzt)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.01.2022