"Hier wird die für die ganze Barock-Lyrik maßgebliche Unvereinbarkeit und
Unvergleichbarkeit zweier Ordnungen der Welt sichtbar: der Ordnung der
hinfällig-sündeverfallenen Natur und der Ordnung der Übernatur, der Gnade;
beide sind insofern unvereinbar und unvergleichbar, weil die Wirklichkeit
der einen die der anderen aufhebt; die Vereinigung beider Ordnungen ist
nicht möglich.
Wir sehen in dieser Unvereinbarkeit und Unvergleichbarkeit der beiden
Ordnungen das aller Barock-Lyrik eignende verdeckte Motiv. Die Welt ist der
bleibende Widerspruch zur Überwelt. [...]
Das verdeckte Motiv ist also nie nur ein einzelnes, durch ein einzelnes
Wort zu bezeichnendes Motiv, sondern der Motivationsgrund, der die Auswahl
der einzelnen Motive bestimmt und ihre Komposition zu einem Ganzen
reguliert.
Das verdeckte Motiv zeigt uns, wie das welthafte Ich zur Welt und zu Gott
steht, nämlich zwiespältig; es erleidet seine Welt-Lust, es erwartet seine
Erlösung; aber es selbst kann seine Welt-Lust weder überwinden noch seine
Erlösung erzwingen. [...]
Das verdeckte Motiv enthält immer Hinweise auf die in einer Epoche
vorherrschende Interpretation der Weltbezogenheit des Ichs. [...] Wer die
verdeckten Motive zu entdecken lernt, entdeckt immer Verhältnisse und
Beziehungen der Weltbezogenheit des Ichs – letztlich auch sich selbst.
Im Barock ist das welthafte Ich oft nur in Bezug darauf gesehen, welche
allgemeinen, für das Welt-Leben aller Menschen typischen Eigenschaften es
hat; es ist, obzwar als einzelnes, durch das charakterisiert, was alle
Menschen betrifft."
(aus:
Busse, Günter
1981 S.64)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.01.2022