Literatur hat ihre
Geschichte und die Literaturgeschichtsschreibung ebenso. Die moderne »Literaturgeschichtsschreibung
beginnt im 16. und 17. Jahrhundert. Ihrem modernen Verständnis nach
stellt sie die Literatur in ihrer Entwicklung und in ihren historischen
Zusammenhängen dar. Die
▪
Literaturgeschichte
kann dabei ihr Augenmerk auf ganz unterschiedliche Aspekte richten.
Als Geschichte bestimmter
Nationalliteraturen fokussiert sie
auf die Darstellung von in einer bestimmten Sprache abgefassten Literatur
oder auf die Entwicklung und ihre jeweiligen historisch-sozialen Kontexte
bezogene Weltliteratur. Dabei greift sie
auf unterschiedliche Ordnungsprinzipien zurück, mit der sie ihre jeweiligen
Gegenstände zu erfassen und systematisch zu identifizieren und zu
kategorisieren sucht. So geht es z. B. um die Einteilung in ▪
Literaturepochen
und deren Darstellung oder um die Geschichte der oder einzelner
literarischer Gattungen.
Dabei ist die Frage, ob es
etwas wie eine eigene, von den Literaturen der anderen klar abzuhebende
deutsche Literatur gibt, umstritten, weil die Antworten auf diese Frage im
höchsten Maße ideologisch ausgefallen sind. Man braucht dabei nur in die
jüngere deutsche Gesichte zu sehen. Das nationalsozialistisch-rassistische
Konzept der sog. »"Entarteten
Kunst", mit der die
Nationalsozialisten
mit tatkräftiger Unterstützung auch von Teilen der germanistisch gebildeten
Eliten alle Kunstwerke und kulturellen Strömungen, die mit
dem, was die »NS-Ideologie
unter Kunst und Schönheit verstanden und ihre Verfechterinnen* dieser
rassistisch legitimierten Deutschen Kunst aus dem kulturellen Gedächtnis der
Deutschen löschen wollten, machte ja auch vor der gedruckten Literatur nicht
nur nicht halt, sondern mit der öffentlich inszenierten
»Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 von Werken von Autoren, die in ihren
Augen. Die »Liste
der Werke bekannter deutschsprachiger, aber auch ausländischer
Autorinnen*, deren Werke dabei dem Feuer übergeben oder während der ▪
NS-Diktatur (1933-1945) verboten wurden, ist lang. Ihre Werke wurden aus
den Bibliotheken entfernt und waren im Schulunterricht tabu. Zudem starben
etliche Schriftsteller an den Folgen der Haftbedingungen in
Konzentrationslagern oder wurden hingerichtet (z.
B. »Carl
von Ossietzky, »Erich
Mühsam, »Gertrud
Kolmar,
»Georg
Hermann, »Theodor
Wolff, »Rudolf
Hilferding
u. a.). Andere wurden ausgebürgert (z. B.
»Ernst
Toller, »Kurt
Tucholsky) oder mussten ins Exil fliehen (z.B. »Walter
Mehring, »Arnold
Zweig).
Wieder andere wurden in die »innere
Emigration gedrängt und
andere, die ihr Schicksal nicht mehr ertragen konnten, nahmen sich in ihrer
Verzweiflung in der Emigration das Leben (z. B. »Walter
Hasenclever »Walter
Benjamin, »Stefan
Zweig).
Generell bleibt wohl die
Antwort "auf die Frage, was der Grund (...) spürbarer Unterschiede bei der
Lektüre verschiedener Literaturen" auch heute noch weitgehend unbeantwortet,
denn keiner der Verfasser einer der in den letzten Jahrzehnten entstandenen
Literaturgeschichten "schrieb eine Geschichte der deutschen Literatur – er
arbeitete lediglich an einer mit. Seit den sechziger Jahren sind, bedingt
durch die Spezialisierung auf immer kleinere Teilbereiche,
Literaturgeschichten nichts anderes als mehr oder weniger heterogene
Zusammenstelllungen von Beiträgen mehrerer Spezialisten, denen je ein
historischer Abschnitt von etwa zehn bis hundert Jahren zugewiesen wurde.
Keiner von ihnen musste sich also Gedanken über dass Ganze machen. [...] Die
Synthese zu einer Gesamtgeschichte der deutschen Literatur bleibt dem Leser
überlassen." (Schlaffer
2002, S.12.f.)
Der beklagte
"Flickenteppich von Spezialgebieten" (Willems
2012, S.9) und die dahinter stehende "intensive Spezialisierung und
methodische Disversifikation der Forschung" (ebd.)
wirft dabei nicht nur für die Literaturdidaktik und den Literaturunterricht
in der Schule Probleme auf. In der Literaturwissenschaft wie im
Literaturunterricht geht es im Kern nämlich weniger um das "Verfügbarmachen
eines praxisrelevanten Spezialwissens" als vielmehr um "die Erarbeitung von
weiteren Horizonten des individuellen und gesellschaftlichen Handelns", um
das "Skizzieren von Landkarten, die es den Menschen erlauben, sich mit mehr
Übersicht in der kulturellen Landschaft und der
geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zu bewegen." (ebd.)
Dementsprechend kann das Ziel von Literaturgeschichtsschreibung auch gesehen
werden, einen "Leitfaden an die Hand zu geben" (ebd.),
der es denen, die sich in unterschiedlichen Kontexten mit ihr befassen,
ermöglichen soll, die Geschichte der Literatur in ihrem "Zusammenhang
kennenzulernen und sich ein Gesamtbild der Entwicklung zu erarbeiten." Sie
kann heutigen Leserinnen* jene Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, deren
"ein heutiger Leser bedarf, um bei einem unbekannten literarischen Text
sogleich einige Anknüpfungspunkte zu finden, von denen aus er ihn sich
erschließen kann." (ebd.,
S.9f.)
Angesichts der
festgestellten Spezialisierung und methodischen Disversifikation kann heute
der "Anspruch der Vollständigkeit" (ebd.,
S.10), wie sie die klassische Literaturgeschichtsschreibung erhebt, "auf dem
inzwischen erreichten wissenschaftlichen Niveau" (ebd.)
nicht mehr in den herkömmlichen Literaturgeschichten eingelöst werden. Das
erklärt die Entstehung der Sammelwerke, von denen oben die Rede ist.
Die Konsequenz daraus ist indessen für die Leserinnen* nicht einfach zu
bewältigen. Sie müssen nämlich dann ihre Hoffnung auf den "roten Faden", den
sie in der Literaturgeschichtsschreibung suchen, aufgeben. Sie nutzen diese
Sammelwerke dann vor allem noch als Nachschlagewerke, die nur punktuell zur
Klärung der einen oder anderen Frage herangezogen werden. (vgl.
ebd.)
Dennoch, das Bedürfnis nach
"dem großen literaturgeschichtlichen Zusammenhang" (ebd.,
S.11) erscheint, trotz dieser Neuorientierung der
Literaturgeschichtsschreibung vor allem in der Schule vor allem aus
literaturdidaktischen Erwägungen ungebrochen, wo, sehr zum Bedauern der
modernen Literaturgeschichtsschreibung wohl immer noch "allzu leicht auf
Konstrukte der älteren Literaturgeschichtsschreibung" (ebd.)
zurückgegriffen wird. Auch Schülerinnen und Schülern, die sich mit den
Entwicklungszusammenhängen der deutschen Literatur befassen, wird dabei wohl
oft "ein Beinhaus
ausrangierter Allgemeinplätze" (ebd.)
angeboten oder, im anderen Fall, ein "Sich-Verlieren in Spezialgebieten". (ebd.)
Beides im Übrigen Ansätze, die auch unter ▪
entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten betrachtet, für die
nachhaltige Erzeugung von Interesse an Literatur nicht unbedingt förderlich
sind.
Wie der gordische Knoten zu
lösen sein kann, stellt Willems (2012,
S.11ff.) dar. Sein Konzept
-
besteht "aus dem
Verzicht auf Vollständigkeit,
was Namen, Werke Gattungen und literarische Bewegungen" betrifft
-
setzt "wenige thematische
Schwerpunkte" (ebd.,
S.11)
-
wählt jene thematischen
Schwerpunkte aus, die bestimmte literaturgeschichtliche Entwicklungen
"sowohl in der Tiefe als auch in der Breite erschließen lassen" (ebd.)
-
fragt "gezielt nach den
Triebkräften, Formen und Problemen der Modernisierung" (ebd.,
S.13) und bezieht dabei die Ergebnisse der modernen Sozial- und
Kulturgeschichte ein
-
berücksichtigt nur eine
"überschaubare Zahl von Autoren und Werken" (ebd.,
S.11)
-
achtet darauf, dass sich
die ausgewählten Autorinnen* auch exemplarisch mit den Schwerpunktthemen
verbinden lassen
-
zielt "auf ein enges
Ineinandergreifen von Problementwicklung und Textanalyse [...]: was an
Problemen von allgemeiner Bedeutung verhandelt wird, soll sich nach
Möglichkeit von Textbefunden her ergeben, wie umgekehrt das, was an
Thesen dargestellt wird, von den Texten her plausibel werden soll." (ebd.)
-
will, dass die
literarischen Zeugnisse und die sprachliche Wirklichkeit einer Epoche
"so oft und so einlässlich wie möglich selbst zu Wort kommen" (ebd.,
S.12) , um die Leserinnen damit vertraut zu machen und zu
sensibilisieren
-
bevorzugt,
"zeitgenössische Quellen so oft wie möglich selbst sprechen zu lassen"
und den Leserinnen* "nicht nur sozialgeschichtliche Großthesen von
heute" (ebd.,
S.15) zu präsentieren und ihnen stattdessen Zugänge zur "Vorstellungswelt
und den Realitäten einer Epoche" (ebd.)
zu ermöglichen
Dabei hat
Gottfried Willems
(1947-2020) sein
Konzept auf drei Leitfragen
verdichtet (vgl.
ebd.,S.15):
-
Welches Bild haben wir
heute von der jeweiligen Großepoche? Was ist von ihr und ihren Literatur
heute noch in unserem kulturellen Gedächtnis bewahrt und wie und unter
welchen Vorzeichen?
-
Welche
kulturgeschichtlichen Entwicklungen haben die Epoche geprägt und wie
haben sie sich insbesondere die ideengeschichtlichen Bewegungen in der
Literatur niedergeschlagen?
-
Wie haben sich unter
diesen Voraussetzungen "der soziokulturelle Stellenwert und die
Auffassungen von Literatur, das literarische Leben und die Literatur
selbst verändert?" (ebd.,S.15)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
09.07.2021