Die ▪
Geschichte der
Literatur ist unter heutiger Perspektive weder zu schreiben noch zu
verstehen, wenn sie nicht in ihrer Bedeutung und Leistung für die
Herausbildung der Moderne gesehen wird. In interdisziplinärer Weise ist die
Literaturgeschichte stets auch Teil einer umfassenderen Kulturwissenschaft,
die "gezielt nach den
Triebkräften, Formen und Problemen der Modernisierung" fragt
(Willems
2012 , S.13).
Mit
ihren eher strukturbetonten Ansätzen zielt die Modernisierungstheorie darauf
zu erklären, was den ▪
Strukturwandel
beim Umbruch von der Agrar- zur Industriegesellschaft und darüber hinaus auf
die postindustrielle Gesellschaft kennzeichnet und wie er zu erklären ist.
Bei diesen Veränderungen, die in den westlichen Gesellschaften, in der
frühen Neuzeit beginnend, vor allem im 18. Jahrhundert einsetzen und bis
heute als Modernisierungsprozesse fortlaufen, handelt es sich um eine
Vielzahl von gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Prozesse, die
mal eng aneinander gekoppelt, mal voneinander losgelöst und ihrer jeweils
eigenen Logik folgend, die Moderne insgesamt als eine grundlegend andere als
die traditionalen Gesellschaften der Vormoderne ansehen lässt. Viele
Entwicklungen, die sich dabei abspielen und die Moderne kennzeichnen, wie z.
B. »Sozialdisziplinierung, Industrialisierung und
»Industriegesellschaft,
die
»Demokratisierung,
»Urbanisierung, »soziale
Differenzierung, »Individualisierung, »Singularisierung,
»Kommerzialisierung,
»Bürokratisierung,
»Medialisierung,
oder »Globalisierung
stellen dabei
Metaprozesse dar, bei denen "oft auch nicht klar (ist), zu
welchem Zeitpunkt sie eigentlich beginnen oder enden. Es ist sogar ungewiss,
ob sie eine definierte Richtung haben und was im Einzelfall Teil von ihnen
ist und was nicht." (Krotz 2006,
S.29).)
Für die Literaturgeschichte
sind nach Willems
(2012 , S.13) vor allem fünf Triebkräfte der Modernisierung von
Bedeutung:
Verwissenschaft-lichung von Welt– und Menschenbild |
Säkularisation |
Mobilität |
Individualisierung |
Pluralismus |
bedingt u. a. durch die Entwicklung
der Wissenschaften und die unterschiedlichen
technisch-industriellen Revolutionen
|
Prozess der fortschreitenden Lösung
des Denken und Handelns von Dogmen, Normen und Ritualen der
Religion |
Entwicklung neuer Formen der
physischen, kommunikativen, weltanschaulichen und sozialen
Mobilität
von den Menschen oft "als eine Art
»Entwurzelung«" (ebd.,
S.14 erfahren |
zunehmende
Fokussierung auf das Individuum |
Entwicklung der pluralistischen
Gesellschaft mit ihrem kennzeichnenden Pluralismus von
Weltanschauungen und Lebensformen
|
Die von solchen Prozessen
ausgehenden Wirkungen auf die Menschen sind naturgemäß vielfältig. Oft
werden sie aber als Probleme der Modernisierung erfahren. Sie erleben sie
oft "als »Verlust der Einheit « oder »Verlust der Mitte«" und als
»Atomisierung« der Gesellschaft" (ebd.,
S.149). Zudem macht die Freisetzung des Einzelnen aus traditionalen
weltanschaulichen und sozialen Strukturen eine neue Art der Lebensführung
nötig, die zu einer "radikalen
Problematisierung des Ichs" mit seinen zahlreichen "plurale(n)
Ichkonzeptionen" führt. Aus ihr ergibt sich die Notwendigkeit, an seiner
eigenen Biografie zu arbeiten (▪
Bastelbiografie,
▪
Zwang zum eigenen Leben -
Ulrich Beck Eigenes Leben 1995, S.9-15) oder den Erfordernissen
zur Kuratierung des eigenen Lebens im Modus der Singularisierung in allen
Bereichen des Lebens zu folgen (vgl. (Reckwitz
2019, S.9)
Die ideengeschichtliche Bedeutung von "Ersatzreligionen" für die
Literaturentwicklung
Unter diesen
Voraussetzungen kommt der Entstehung und Verbreitung von "Ersatzreligionen"
(Willems 2012 ,
S.14) im Zuge der Modernisierung eine besondere Bedeutung zu. Mit ihnen
versuchen die Menschen, in der weitgehend säkularisierten Kultur und Welt
Orientierung zu finden und ihrem eigenen Leben zumindest immer wieder
partiell Sinn zu verleihen.
Ersatzreligionen dieser Art
sind z. B. der »Fortschrittsglaube,
der Glaube an die Geschichte (»Historizismus),
die Wissenschaftsgläubigkeit (»Szientismus),
der Glaube an die Natur (»Pantheismus),
die "Kunstreligion" (Ȁsthetizismus)
und andere politische Ersatzreligionen als Sonderformen des Historizismus
sowie der Glaube an das Leben (»Vitalismus),
der die Ideen des Pantheismus fortführt. (vgl..
ebd., S.14)
Solche Ersatzreligionen
zählen zu den "wichtigsten ideengeschichtlichen Voraussetzungen der
literarischen Entwicklung" (ebd.)
und haben die Literatur, ihre Produktion und Rezeption, zumindest indirekt,
oft aber auch direkt beeinflusst, auch indem sie diese für ihre
weltanschaulichen Ziele instrumentalisiert haben.
Die
Verwissenschaftlichung und die literarische Entwicklung
Auch wenn sich bei
Berücksichtigung dieser und ggf. weiterer Modernisierungsprozesse bei der
literaturgeschichtlichen Betrachtung so etwas wie ein roter Faden ergeben
kann, ist doch stets zu berücksichtigen, dass sich der Weg in die Moderne
nicht ohne Widersprüche und gegenläufige Entwicklungen vollzogen hat. Was
der Prozess als Fortschritte brachte, war oft, zumindest zeitweise auch von
Rückschritten begleitet. Die Modernisierung hat auf vielen Gebieten Probleme
gebracht und tut dies weiter. Zu reden ist in diesem Zusammenhang von dem
durch die Verwissenschaftlichung der Welt und der ungebremsten Ausbeutung
der natürlichen und kulturellen Ressourcen für ökonomische oder ideologische
Zwecke mancherorts entstandener "totalitärer Machbarkeitswahn" (Willems
2012 , S.13), an die durch die Herauslösung des Einzelnen aus den
traditionalen, zumeist religiösen Orientierungen bedingte weltanschauliche
Orientierungslosigkeit ("weltanschauliche Unruhe",
ebd., S.14),
die Nihilismus, Skeptizismus und Materialismus und heute, in der Spätmoderne
seit den 1970er oder 1980er Jahren, eine "Gesellschaft der
Singularitäten" (Reckwitz
2019, S.12) hat entstehen lassen, in der die "soziale Logik des
Besonderen" (ebd.,
S.11) an erster Stelle steht. Sie zwingt in allen Bereichen des Lebens und
der Gesellschaft zur "sozialen Fabrikation von Einzigartigkeiten" (ebd.,
S.13).
Unbestritten sind
"sozialgeschichtliche Großthesen von heute" (ebd.,
S.15) nicht immer der geeignete deduktive Zugang für die Analyse der
literarischen Entwicklung, können aber eine große Hilfe bei der Einordnung
von Erfahrungen sein, die die Leserinnen* in einem an vielfältigen Zugängen
und Erfahrungen orientierten Umgang mit Literatur, vor allem in der Schule
sein und damit dazu beitragen, dass die einzelnen literarischen Zeugnisse in
einem umfassenden Zusammenhang gesehen werden können. »Modernisierungstheorien
gehören schließlich auch dazu, zumal ihre Begriffe von "Tradition" und
"Moderne" selbst nur idealtypische Konstrukte sind, die sich nicht eins zu
eins auf die Realität übertragen lassen. Dass sie darüber hinaus einem »sozialen
Evolutionismus Vorschub leisten können, wonach es beim
gesellschaftlichen Fortschritt stets irgendwie alternativlos, aber immer
progressiv zugeht, ist nur einer der »Kritikpunkte,
die immer wieder gegen sie erhoben werden.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.08.2024
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