▪
Literaturgeschichte
kann ihr Augenmerk auf ganz unterschiedliche Aspekte richten. Im Allgemeinen
und insbesondere in der Schule dient sie aber vor allem dazu, das für die
Kontextualisierung von literarischen Texten nötige Überblickswissen
bereitzustellen, das zu einem vertiefteren Verständnis von Texten einer
bestimmten ▪
Literaturepoche beitragen kann.
Dabei muss sich die
Literaturdidaktik aber grundsätzlich der Tatsache bewusst sein, dass "der
Erklärungswert von Epochenkonstrukten im Handlungsfeld 'Literatur' (...)
äußerst begrenzt (ist) auf Haufenbildungen in bestimmten Zeiträumen" und
dies "selbst dann, wenn Literaturgeschichte als 'Sozialgeschichte'
konzipiert ist (...) und die Lesekultur berücksichtigt wird." (Kepser/Abraham
42016, S.58)
Zeitgemäße
Literaturgeschichte befasst sich daher mit vielfältigen Aspekten der
literarischen Entwicklung: In ihr kommt die diachrone Rezeptionsgeschichte
mit allem, was dazugehört, wenn von literarischen Texten Gebrauch gemacht
wird, zu Wort. Dazu sollte sie sich nach Ansicht von
Matthis Kepser und Ulf Abraham (42016) am "Leitbild literarischer Kommunikation" orientieren,
"die nicht auf einen Sprach- und Kulturraum, schon gar nicht auf eine
bestimmte Nation beschränkt ist und in vielen Medien stattfindet." (ebd.)
Im Zuge der
Kompetenzorientierung hat die Literaturgeschichte im Literaturunterricht
zusehends an Bedeutung verloren, selbst wenn in den ▪
KMK-Bildungsstandards für die schriftliche Abiturprüfung im Fach Deutsch
(2012) im ▪
Kompetenzbereich
▪
Sich mit literarischen Texten
auseinandersetzen darauf insistieren, dass die Schüler*innen "über
ein literaturgeschichtliches und poetologisches
Überblickswissen (verfügen), das Werke aller Gattungen umfasst, und
(...) Zusammenhänge zwischen literarischer Tradition und
Gegenwartsliteratur auch unter interkulturellen Gesichtspunkten
her(stellen)."(Bildungsstandards
im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife,
S.18, Hervorh. d. Verf.).
So wird für das ▪
grundlegende Niveau erwartet, dass die Schüler*innen "ihr
Textverständnis argumentativ durch gattungspoetologische und
literaturgeschichtliche Kenntnisse über die Literaturepochen von der
Aufklärung bis zur Gegenwart stützen" (▪
Lit-3)
Auf dem
▪
erhöhen Niveau werden diese Kompetenzen noch erweitert, indem z. B.
verlangt wird, dass bei der "Erörterung der in literarischen Werken
enthaltenen Herausforderungen und Fremdheitserfahrungen geistes-, kultur-
und sozialgeschichtliche Entwicklungen einbeziehen" (▪
Lit-14)
Folgt man gängigen schulischen Lehrwerken, dann wird darin die auf die
philologische Ausrichtung der Literaturgeschichte unter nationalem
Vorzeichen in der im Wesentlichen aus dem 19. Jahrhundert rührenden
traditionellen Einteilung in Literaturepochen wie Mittelalter – frühe
Neuzeit/Reformation/Renaissance/Humanismus – Barock – Aufklärung –
Empfindsamkeit – Sturm und Drang ▪ Jakobinismus,
▪ (Weimarer) Klassik"
▪ Romantik
– Realismus – Expressionismus vermittelt, die
aber auch durch weitere Strömungen
wie z. B. Biedermeier, Vormärz oder poetischem Realismus ergänzt und fast
nach Belieben erweitert werden können.
In
der Literaturwissenschaft, namentlich der literaturwissenschaftlichen
Forschung, ist dieses traditionelle Konzept der Epochenkonstrukte, die den
Anspruch erheben, Literaturepochen mehr oder weniger klar voneinander
abgrenzen zu können, schon ▪
seit längerer Zeit
problematisiert und zumindest relativiert worden und mit der Forderung
nach einem exemplarischen ▪
Random access verbunden worden. Mit diesem
"wahlfreien Zugriff" soll ein "an vielen, nach Belieben gewählten
Orten Zugang gestattet und unterschiedliche Lektüren ermöglicht" werden (Wellbery
u. a. 2007, S.21) und Literaturgeschichte statt einem chronologischen
Ordnungsprinzip die Chronologie zu folgen, "eine Geschichte (...) erzählen
(...) viele Geschichten" in Bezug zueinander setzen und damit
"unterschiedlichen Typen von Neugierde, voneinander abweichenden Mustern
Raum (...) geben" und "unterschiedliche – und oft dissonante – Resonanzen
vernehmbar (...) machen. (ebd.)
Und
neben etlichen anderen Einwänden ▪
gegen die
traditionellen Epochenkonzepte mit ihrer weitgehenden Verengung auf die
nationale Literaturentwicklung wirken die herkömmlichen Epochenkonstrukte
angesichts einer globalisierten Welt und der Neuausrichtung auch der
Geschichtswissenschaften weg vom nationalstaatlichen und hin zu einem
wenigstens europäischen, wenn nicht globalen Diskurs, wie aus der modernen
Zeit gefallen.
Und
aller dieser berechtigten Einwände zum Trotz besteht unter dem Blickwinkel
der Literaturdidaktik aber auch eine Erwartung an die künftige
Literaturgeschichtsschreibung. Diese sollte künftig Konzepte anbieten, die
neben "exemplarischen
Begegnungen mit Autorinnen* und ihren ausgewählten Werken" (ebd.)
auch noch jenes "literaturhistorische Überblickswissen" vermittelt, das
"ohne Zweifel fruchtbar (ist), um Literatur in ihren vielfältigen Bezügen
verstehen und genießen zu können." (Kepser/Abraham
42016, S.58)
Dazu gehört aber auch im
Literaturunterricht, dass die Probleme der Epochenkonstrukte thematisiert
werden und der "hegemoniale Deutungsrahmen" (ebd.,
S.58), den sie immer wieder schaffen, durchbrochen wird. So sollten auch die
weit verbreiteten "Kästchen", die vorgeben, mit einer paar Pinselstrichen
und in aller Kürze die relevanten distinktiven Merkmale einer
Literaturepoche zusammenzustellen, nicht ohne die entsprechende
Problematisierung zum Einsatz kommen. Aber auch gängige Schreibaufgaben
können hier einem "subjektiv bedeutsamen Text- und Geschichtsverständnis" (ebd.)
im Wege stehen, wenn es vorwiegend darum geht, bestimmte, vermeintlich
distinktive Epochenmerkmale an einem bestimmten literarischen Text
nachzuweisen, das im schlechtesten Fall zuvor einmal per Lehrervortrag oder
einem auf das vorgeblich Wesentliche beschränkten Arbeitsblattes oder
"Merkkästchens" vermittelt worden ist. (vgl.
ebd.)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
06.08.2021