Siegrist (1978/21989, S.1) betont, dass der •
Sturm und Drang und die •
Aufklärung in ihrem komplementären Wechselverhältnis aufgefasst werden
müssen, denn Aufklärung laufe durchaus weiter neben dem, was sich von ihr
als Empfindsamkeit und Sturm und Drang loszulösen versucht habe. Dabei habe
sie sich in einem Differenzierungsprozess verändert und damit wiederum die
anderen Konzepte beeinflusst. Unter dieser Perspektive werde der Sturm und
Drang auch nicht zur Gegenbewegung gegen die Aufklärung erklärt, sondern
müsse "als deren Abwandlung und Ergänzung" (ebd.,
S.2) verstanden werden.

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Der Sturm und Drang ist ohne die
• Entstehung und Entwicklung eines
literarischen Markts, der zu einer vergleichsweise schnellen Vergrößerung des bürgerlichen
Lesepublikums und damit zu einer neuen literarischen Öffentlichkeit geführt
hat, kaum zu erklären.
So manch einem der jungen
Literaten erschien sich nun, die allerdings,, die
Chance zu eröffnen, eine Existenz als freier Schriftsteller zu führen ohne
die üblichen Abhängigkeiten von fürstlichen Mäzenaten. Allerdings zeigten
die Beispiele • Gotthold Ephraim Lessings
(1729-1781) und »Friedrich
Gottlieb Klopstocks (1724-1803), dass solche Hoffnungen sich unter den
herrschenden Verhältnissen nicht erfüllen ließen. Erwartungen an einen
sozialen Aufstieg und dichterische Selbstverwirklichung waren oft eben nicht
mehr als Luftschlösser, auch wenn die Literatur "das bevorzugte Kommunikationsfeld innerhalb
des Öffentlichkeitskonzeptes dar, an welchem das aufgeklärte und
aufzuklärende Publikum unter den Bedingungen des herrschenden Absolutismus
zu partizipieren vermochte. In der symbolischen Sprache der Literatur konnte
artikuliert werden, was offen auszusprechen verboten oder doch nur
andeutungsweise möglich war, wie die in den siebziger Jahren sich
entfaltende Publizistik belegt." (ebd.,
S.3) Unter den herrschenden Verhältnissen blieb der Sturm und Drang daher
eine "Literaturrevolution" und "seine
Verlautbarungen Theaterdonner" (ebd.,
S.5), da seine über diesen Kommunikationsbereich hinausgehenden Ambitionen
eigentlich keine oder bestenfalls nur eine vergleichsweise geringe Wirkung
entfalteten. Kein Wunder, dass die Stürmer und Dränger dazu übergingen,
ihren Protest idealisierend zu einer Revolte zu stilisieren die sich
allgemein gegen alles ›Alte‹ richtete.
In diesem Protest-Konzept
spielte die Forderung nach einer Aufwertung des Gefühlsbereichs im Rahmen
der einer Vorstellung vom Menschen, bei dem Denken, Fühlen und Handeln eine
Einheit bilden, eine besonders wichtige Rolle. Angeregt von englischen und
französischen Vorbildern im Sensualismus und in der Empfindsamkeit sollte
dabei das Gefühl nicht gegen den Verstand ausgespielt werden, sondern in
einen ausgewogenes. gleichberechtigtes und, komplementäres Verhältnis
zueinander gebracht werden. In der neuen Gefühlskultur, die in den Kreisen
der vom Sturm und Drang erreichten Bevölkerungsgruppen daraus erwuchs,
pflegte man einen bis dahin nicht da gewesenen Freundschaftskult und in
zahlreichen bürgerlichen Kleinfamilien gewannen die Gefühlsbedingungen ihrer
Mitglieder immer mehr an Bedeutung. (vgl.
ebd.)
Zu der neuen Gefühlskultur trug auch die Frömmigkeitsbewegung des »Pietismus
bei, der sich "als Widersacher institutionalisierter Gläubigkeit (versteht),
als Bewegung, die ganz auf eine im Gefühl verankerte Herzensfrömmigkeit
setzt, mit deren Hilfe ein unmittelbarer, teilweise mystisch gefasster, im
Moment der Versenkung möglicher Zugang zu Gott und Christus geschaffen
werden soll" (Alt
2007, S.41). Der Pietismus spielte eine maßgebliche Rolle "im Prozess
der Entfaltung einer empfindsamen Affektkultur" (ebd.
S.43) und hat sich vor allem mit seinen sprachlich-stilistischen
Wortkreationen (z. B. "Liebesneigung", "Selbsterfahrung", "überfließen",
"einschreiben" u. ä. m.) als gern genutzter Stichwortgeber für die Literatur
der Zeit erwiesen und ihr eine Vielzahl von Wendungen, die ursprünglich der
Intensität des Gefühls bei der Annäherung Gott Ausdruck verliehen haben, von
den Dichtern der Zeit "zumeist ihres religiösen Bezugs entkleidet und auf
die diesseitige Welt der Stimmungen und Leidenschaften übertragen werden." (ebd.
S.43f.)
Die Stürmer und Dränger
gingen bei ihrer Aufwertung des Gefühlsbereichs allerdings einen Schritt
weiter und machten sie für eine vollständige Autonomie der Gefühle
und Leidenschaften von allen vernunftbestimmten Moralvorstellungen stark.
Sie forderten die umfassende Selbstbestimmung des Einzelnen und zwar nicht
nur in geistiger Hinsicht wie die
Aufklärung: "Sie bejahten die Genußfähigkeit des Menschen und anerkannten die Körperlichkeit als zentralen
Erfahrungsbereich bis hin zu Übersteigerungen wie Kraftmeierei und
Sexualprotzentum." (Siegrist 1978/21989,
S.5) Wenn sie plötzlich Vorlieben für Schlittschuhlaufen, Nacktbaden,
Wandern etc. gezeigt hätten, sei dies "nicht als bloß modischer Spleen, sondern als Ausdruck
eines neuen Selbstverständnisses zu werten, das den Alltag verändert: der
Verzicht auf die Perücke zugunsten des natürlichen Haarwuchses erscheint
symptomatisch für die Richtung dieses Befreiungsprozesses von aller
Konventionalität, gleichzeitig aber auch für die private Einschränkung
dieser Rebellion."
Der Kampf gegen das "Alte"
und im "unbedingte(n) Bestreben, alle Begrenzungen zu durchbrechen" (Goethe)
wurden die herkömmlichen Zielvorstellungen bürgerlichen Glücks wie z. B.
Ruhe, Zufriedenheit und Ausgeglichenheit, die auch zu den von der Aufklärung
bevorzugten Tugenden zählten, "zugunsten des Sich-Selber-Fühlens und
-bestimmens" (ebd.,
S.6) entsorgt. Unter diesem Blickwinkel erschienen Normen, Vorschriften und
allgemeine Postulate gleich welcher Provenienz als ausgeübter Zwang. Um ihre
Position zu verdeutlichen und zu verteidigen, verwiesen die Stürmer und
Dränger gerne auf Jean-Jaques Rousseaus Antagonismus von Natur und Kultur.
Oftmals bedienten sie sich "auch
der Naturmetaphorik, indem sie von Tod und Leben sprachen: bloßes Denken
erscheint als Zeichen von Erstarrung und Vergreisung, das aus der
Einschränkung befreit werden muß; das Neue steht im Zeichen des Lebendig-Zeugenden, des Naturhaft-Dynamischen, der Selbstverwirklichung
und Totalität. Dabei attackiert man nicht bloß die Abstraktionen des ›tintenklecksenden
Säkulums‹ [Karl Moor, in Schillers Drama
Die Räuber,
I,2,
d. Verf.] sondern ebenso den als seelenlos empfundenen Materialismus, der
überdies durch seine Favorisierung durch Feudalherrscher diskreditiert
war." (ebd.)
Die Forderung des Sturm und
Drang nach völliger Selbstbestimmung des Individuums hat seine maßgeblichen
Vertreter allerdings in politischer Hinsicht nicht zu Vordenkern und
Verfechtern einer grundsätzlich anderen politischen und gesellschaftlichen
Ordnung gemacht. Zwar äußeren einzelne von ihnen scharfe Kritik an
Feudalismus und Fürstenwillkür (z. B. Lenz, Bürger, Schubart und Schiller),
stellen sich in ihren Werke gegen Unterdrückung und Ausbeutung der Bauern
(Schubart, Bürger, Voß), doch keiner entwickelt darüber hinaus eine
politisch-gesellschaftliche Gesamtperspektive geschweige denn politische
Konzepte zur gesellschaftlichen Veränderung. Stattdessen bleiben sie bei der
Kritik an einzelnen Missständen stehen. Für die feudalen und städtischen
Obrigkeiten im Absolutismus war es vielleicht auch deshalb nicht sonderlich
schwer, die Rebellion der
Stürmer und Dränger "relativ mühelos, wenn auch nicht ohne Gewalt (Schubart!)
in die literarische Sphäre (abzudrängen). Die Ausweichbewegung führte schließlich auf
der Grundlage eines Kompromisses mit den bestehenden Mächten in die
idealistische Konstruktion einer Kunstautonomie (anstelle der realen),
welche den emanzipatorischen Anspruch nun ausschließlich in den bloßen,
wenngleich durchaus nicht wertlosen Schein des Schönen aufzuheben und dem
interesselosen Wohlgefallen zu überlassen sich gezwungen sah: der Sturm und
Drang ging am Fürstenhof zu Weimar unter." (ebd.,S.11)
Das Ästhetische bot den
Stürmern und Drängern also den Ausweg aus dieser Misere. Sie werteten in
ihren Werken das "einfache Leben" auf, von dem sie annahmen, dass "die
Ganzheit des Individuums" darin "besser aufgehoben (ist) als unter den
einschränkenden Bestimmungen einer feudalen Gesellschaft: der unverbildete
(aber auch ungebildete) Bauer, das gefühlssichere Mädchen aus dem Volk
werden zu neuen Idealen erhoben, denen man lasterhafte Adlige und
engstirnige Bürger gegenüberstellte." (ebd.)
Eine verlässliche oder gar konzeptionell begründete politische Parteinahme
für die Unterschichten steckt dabei allerdings nicht dahinter.
Im zwischenmenschlichen
Bereich gewann der Kampf gegen das "Alte" und im "unbedingte(n) Bestreben,
alle Begrenzungen zu durchbrechen" (Goethe) in den Werken des Sturm und
Drang allerdings deutliche Konturen. Hier geriet die paternalistische Rolle
des Vaters mit seiner Autorität häufiger ins Zentrum der Kritik, so dass man
sogar davon gesprochen hat, die Werke thematisierten den zeitgenössischen
Vater-Sohn-Konflikt schlechthin. Allerdings wehren sich die Söhne in der
Regel nicht gegen Paternalismus und Patriarchat als solches, sondern nur
gegen bestimmte Auswüchse. Zugleich während aber immer wieder die
"natürlichen“ Bande der Familienmitglieder untereinander gefühlshaft vertieft
[...] im
Rahmen freiwilliger Bindung. Noch deutlicher faßbar wird diese Tendenz bei
der Liebe': hier werden ganz entschieden alle Fremdbestimmungen der Moral,
Konvention, der elterlichen Gewalt oder der gesellschaftlichen Hierarchie
abgelehnt; vehement wird das Recht auf Selbstbestimmung, bei der einzig die
Stärke des gegenseitigen Gefühls maßgebend sein darf, verteidigt." (ebd.,
S.8)
Im Ästhetischen zeigt sich
der Kampf gegen das "Alte" und das "unbedingte Bestreben, alle Begrenzungen
zu durchbrechen" (Goethe) in besonders klarer Weise. Auf diesem Feld hat er
"die überzeugensten Resultate seiner Bemühungen hinterlassen", weil er
hier "die deutlichsten und bewegendsten (Wunsch-)Bilder einer
gelungenen Emanzipation" liefern konnte, "während die Aufklärung in ihrer
Ausrichtung auf das Allgemeine in den Wissenschaften und der Philosophie
ihre gültigsten. Resultate erzielte." (ebd., S.11)
Im Bereich der Ästhetik richtete sich der Kampf gegen das "Alte" gegen
die Bevormundung durch die Regelpoetik des französischen Klassizismus, auf
dem Feld der Ästhetik ließ sich " der fremden und höfisch-feudalen
Kulturkonzeption [...] eine auf dem Eigenen und Volkstümlichen basierende"
entgegenstellen. Und vor allem: "An die Stelle der (sklavischen) Nachahmung
tritt die schöpferische Eigenleistung des Einzelnen, der sich nicht mehr
einem vorgegebenen Regelkanon 'unterwirft, sondern aus sich selbst heraus
frei etwas Unvergleichliches, "Originales“ schafft: das Kunstwerk wird
analog zu seinem Produzenten als Individuelles aufgefaßt, Genie ist der
produktionsästhetische Ausdruck für den ästhetischen Citoyen, den aus der
Knechtschaft der Regeln ausgebrochenen Selbsttäter." (ebd.,
S.8)

"Parallel zu dieser
Befreiung der poetischen Produktion kommt es zu einer Neukonzeption der
Rezeption, die nicht mehr primär rational ausgerichtet ist und an Regeln mißt, sondern sich nachempfindend dem Eindruck hingibt, der die Totalität
des Aufnehmenden ergreift (bis hin zu somatischen Äquivalenzen wie Tränen,
Herzklopfen etc). Der Tragedie classique als Inbegriff
unnatürlich-gezwungener Kunst wird die Wucht Shakespearscher „Natur“-Dichtung
(„Natur, nichts so Natur als Shakespeares Menschen“)25 gegenübergehalten.
Hier wäre 9 nun der Ort, wo konkret die stilistischen und formalen
Konsequenzen der ästhetischen Selbstbestimmung, die Innovation namhaft zu
machen wäre, welche der Sturm und Drang in die deutsche Literatur
eingebracht hat. Ganz ohne Vorbilder kommt er auch nicht aus, doch sind es
selbstbestimmte: an die Stelle der Griechen und Franzosen traten die
Engländer - grosso modo die eigene nationale Vergangenheit." (ebd.,
S.8)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.12.2024