Das
• literarische Gespräch zählt zu den mündlichen ▪
Methoden des Literaturunterrichts
(Spinner
2010, S.202f.) Neben dem Textverstehen zielt es vor allem auch auf
"kooperative Formen der Verständigung über das Verstehen" (Ehlers
2016, 8.1.4. Das literarische Unterrichtsgespräch, Kindle-Version)
Dabei kann es verschiedene • Funktionen
übernehmen.
Heute kursieren unterschiedliche Konzepte des literarischen Gesprächs und
konkurrieren miteinander. Ursprünglich wurde es als offenes Format vor allem
von dem durch die Lehrperson stark gelenkten ▪ fragend-entwickelnden
Interpretieren abgegrenzt, das den klassischen »fragend-entwickelnden
Methode im »Frontalunterricht
im • Literaturunterricht umsetzte.
Im Zuge der heute in der Literaturdidaktik wieder stärker in den Vordergrund
gerückten Frage, mit welchen Methoden Lehrerinnen und Lehrer erfolgreich
Lernunterstützung leisten können, wird diese Polarisierung aber wieder
überwunden. Dennoch: Inhaltliche Unterstützungsmaßnahmen (Support), werden
heute, auch wenn dies kaum mehr haltbar ist, wohl immer noch sehr kritisch
gesehen. Die Begriffe (z.B. Steuerung, Lenkung, Fremdregulation oder
Vorgaben), die dabei verwendet werden, sind in einem bestimmten
"pädagogischen Milieu" bereits durch pejorative Konnotationen gründlich
vorbelastet. Daher wird einem "dominant gelenkte(n) Textverstehen"
immer noch, ohne hinreichende empirische Befunde, der Hauptvorwurf gemacht,
dass es "selbstständige Texterschließung (verhindert) und (...) dadurch die
Motivation, sich mit dem Text intensiv auseinanderzusetzen, (hemmt)" (Steinmetz
2016, S.77)
Das literarische Gespräch ist heute eine prozess- und partnerorientierte, offene Form, in der sich die Schülerinnen
und Schüler – mit und ohne explizite Unterstützung durch ihre Lehrpersonen – ohne Leistungsorientierung über ihre Lese- bzw. Lektüreerfahrungen
und ihre dabei vorgenommenen Deutungen austauschen können.
Die Entwicklung offener Formate des literarischen Gesprächs, die
sich von den gelenkten Verfahren des
fragend-entwickelnden Unterichtsgesprächs abgrenzten, setzte in
den 1980er Jahren ein, als die Subjektivität des Literaturverstehens
mehr und mehr zu einem der wichtigsten Themen der Literaturdidaktik
geworden war.
Unter dem Eindruck der
vorherrschenden • Handlungs- und Produktionsorientierung des
Literaturunterrichts bis in die 1990er Jahre galt das literarische
Gespräch im Anschluss an
gesprächsdidaktische und gesprächsanalytische Untersuchungen als ein Verfahren, das eine neue Gesprächskultur im Literaturunterricht fördern sollte.
Dabei sollte unter Berufung auf die Vieldeutigkeit (Polysemie)
literarischer Texte das Verstehen Ergebnis eines dialogischen Prozesses
sein und damit die Existenz unterschiedlicher
Lesarten zulassen.
Die neuen Konzepte für literarische Gespräche, bei denen die
Lehrperson das Geschehen nicht mehr als Experte für die "richtige"
Deutung lenkt, schlossen dabei an die kulturelle Tradition des
geselligen Lesens an und verzichteten unter Hinweis auf die
prinzipielle Mehrdeutigkeit literarischer Texte darauf im Gespräch,
eine einzige, mehr oder weniger als endgültig ausgewiesene
Interpretation zu erarbeiten, sondern stellten die Artikulation und
Verständigung über die Texte in den Vordergrund. Stattdessen
akzentuieren sie "ein prozesshaftes Wechselspiel [...]z wischen eher
assoziativen und häufig auf individuelle Erfahrungen bezogenen
Beiträgen und solchen, die sich eher auf den Text und seine
einzelnen Elemente und Strukturen beziehen: ein für literarisches
Verstehen charakteristisches Wechselspiel zwischen subjektiver
Involviertheit und genauer Wahrnehmung des Textes in der Weise, dass
sich dadurch beides steigert." (Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert
2006/2010, S.4)
Das bekannteste Gesprächsmodell dürfte dabei das so genannte • "Heidelberger Modell
des Literarischen Unterrichtsgesprächs" sein, das von
verschiedenen empirischen Studien begleitet worden ist. Das Modell
"dient der Anbahnung und Vertiefung literarischen Verstehens auf der
den Lernenden angemessenen Stufe und entwirft dabei eine Option auf
die Zone der nächsten Entwicklung. Es bietet allen Beteiligten den
Denk- und Erfahrungsrahmen, sich selbst als Lernende und Geleitete
sowie als Lehrende und Leitende zu erproben und zu reflektieren und
sich dabei mit zentralen Fragen der Literaturvermittlung auseinander
zusetzen" (Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert
2006a/2010, S. 9f,)
Das Heidelberger Modell lässt im Gegensatz
zu dem von Forscher*innen um Valentin Merkelbach entwickelten
Vorgehen, "das auf maximale Zurückhaltung der Lehrkraft setzt" (Magirius/Scherf/Steinmetz
(2022, S.4f.) auch Eingriffe der Gesprächsleiterin bzw. des
Gesprächsleiters vor. Diese setzen aber voraus, dass die
gesprächsleitende Lehrpersonen keine Rolle als Expertinnen oder
Experten einnehmen, sondern "als Leser*in authentisch und gegenüber
den übrigen Gesprächsteilnehmer*innen partnerschaftlicher und
zurückhaltender" (ebd.)
Was dabei im Hinblick auf das Verstehen von Texten -
Irritationen und partielles Nichtverstehen gehören dazu -
geleistet wird, ist "stark an die persönlichen Lektüreresultate der
Lernenden gebunden, über die man sich im Gespräch austauscht". (ebd.)
Wie so oft zeigt sich auch bei dieser nicht selten polemisch
geführten Diskussion über offene vs. gelenkte Formate, dass auf
Dauer solche
Polarisierungen in der Praxis wenig weiterhelfen, sondern ein
pragmatischer und zugleich reflektierter Umgang mit ihnen angezeigt
ist, der die Vor- und Nachteile beider Formate im Blick hat.
Neuere Forschungen haben daher zwei Gesprächstypen (kognitiv
orientierte Kommunikation vs. subjektiv, emotional und kognitiv
orientierte Kommunikation im Literaturunterricht) und zwei
Interaktionsformen (lehrer*innenzentrierte vs. schüler*innenzentrierte
Interaktion) unterschieden.
Wie die Lehrperson ihre Rolle in nicht-direktiven literarischen
Gesprächen wahrnehmen und ausfüllen kann, wird u. a. mit dem Begriff
der so genannten
Konstruktiven Unterstützung beschrieben, der auf
verschiedene andere Konzepte (z. B. •
Scaffolding) zurückgreift.
Am besten wird das literarische Gespräch in ▪
Kleingruppen
durchgeführt. Das bedeutet aber auch, dass sein Erfolg oder Misserfolg auch
von der Art der
▪
Gruppenbildung und
von weiteren ▪
gruppendynamischen Prozessen abhängig ist, die mit der Beziehung
der
Gruppenmitglieder u. v. a. mehr zusammenhängen. Diese didaktisch zu
reflektieren und ggf. auf diese einzuwirken gehört zu den Voraussetzungen,
die eine Lehrperson bedenken muss, ehe sie diese vergleichsweise offene Form
des Literaturumgangs im Unterricht anbietet.
In der Regel findet das Gespräch im Rahmen einer einzelnen Unterrichtsstunde
statt, in der ein vergleichsweise kurzer literarischer Text oder Textauszug,
der den Schülerinnen und Schülern bis dahin unbekannt ist, mit dieser Form
des unterrichtlichen Umgangs mit Literatur "abschließend" behandelt wird.
Eine vertiefte textanalytische Betrachtung des Textes. z. B. im Anschluss
mit anderen Unterrichtsmethoden, wird nicht angestrebt, um die "Ergebnisse"
des Dialogs über den Text nicht im Nachhinein zu "korrigieren" oder
autoritativ zu bestätigen.
Dementsprechend fällt auch die Ergebnissicherung des Gesprächs anders aus.
Sie kann Teil eines Feedbackprozesses sein, könnte aber auch in einer
Selbstbeurteilung der Teilnehmer*innen münden, die aufgefordert werden, am
Ende des literarischen Gesprächs - jede/r für sich - zu notieren, wie er das
Gespräch erlebt hat und welche Erkenntnisse er/ sie gewonnen hat
Dabei strebt es eine symmetrische Kommunikation an, die nach
Watzlawick
u. a. 1972 "durch Streben nach Gleichheit und Verminderung von
Unterschieden zwischen den Partnern" charakterisiert ist, bei der sich
die Partner bemühen, wissensmäßige oder anderswie
bedingte Asymmetrien auszugleichen.