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Ein literarisches Gespräch vorbereiten und strukturieren -
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Auch wenn ein prozessorientiertes, offenes Verfahren des Literaturumgangs in
der Schule wie das • Literarisches Gespräch sich schematischen Vorgaben
keineswegs beugen muss, gibt es doch ein idealtypisches Verlaufsschema, das
aber nicht als Phasen des literarischen Gespräch, die nacheinander zu
inszenieren sind, verstanden werden darf.
Heidelberger Modell des literarischen Gesprächs
Das so genannte Heidelberger Modell des literarischen Gesprächs
verfolgt das Ziel, literarisches Verstehen auf einer den Lernenden
angemessenen Stufe anzubahnen und zu vertiefen. Es sorgt für einen für alle
Beteiligten verfügbaren "Denk- und Erfahrungsrahmen, sich selbst als
Lernende und Geleitete sowie als Lehrende und Leitende zu erproben und zu
reflektieren und sich dabei mit zentralen Fragen der Literaturvermittlung
auseinander zusetzen: mit der Textauswahl, mit dem Balanceakt des Leitens
von Gesprächen, mit der Suche nach Authentizität und Selektivität eigener
Beiträge, mit den institutionellen Bedingungen und mit dem Anspruch an
Freiheit und Offenheit des Gesprächs im schulischen Kontext." (Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert
2006a/2010, S. 9f,)
Nach
Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert (2006a/2010,
S. 7-9) lässt sich der
idealtypische
Verlauf eines literarischen Gesprächs, das unter Leitung der
Lehrperson stattfindet, in sechs verschiedene Phasen gliedern. Diese werden
hier mit eigenen Ergänzungen vorgestellt.
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Die Lehrperson wählt
einen Text aus, der eine mehr oder weniger offenkundige Mehrdeutigkeit
besitzt und sich durch eine gewisse Rätselhaftigkeit auszeichnet. In der
Vorbereitung auf das Gespräch ist es dabei sinnvoll, sich Fragen und
Impulse genau zu überlegen, mit denen man als Lehrperson das
literarische Gespräch strukturieren möchte.
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Am Anfang steht die
Schaffung eines • förderlichen Gesprächssettings,
dessen Regeln den Schülerinnen und Schülern transparent gemacht werden
müssen. Dazu muss - gemeinsam mit den Schüler*innen - z. B. auch die
Änderung der Sitzordnung (Kreis) besprochen und umgesetzt werden. Die
symmetrische Sitzanordnung kann auch dazu beitragen, dass die für das
Gespräch erforderliche Ruhe und Konzentration geschaffen wird, die
Voraussetzung für die partnerorientierte Teilhabe am Gespräch und das
Zuhören darstellt, das dabei als eine aktive Tätigkeit zu verstehen ist
(vgl. auch ▪
Hörerrolle und Höreraktivitäten).
In manchen Fällen kann es auch hilfreich sein, bestimmte, konstruktive •
Feedbackregeln zu
vereinbaren und darauf aufmerksam zu machen,
▪ was, man beim
partnerschaftlichen Argumentieren unterlassen sollte.
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Dann wird der Text
vorgelesen und in der Regel auf einem Arbeitsblatt ausgeteilt. In einem
zweiten Lektüredurchgang soll er danach von den Schülerinnen jede/r für
sich ein weiteres Mal still gelesen werden. (Textbegegnung)
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Ein anregender
Gesprächsimpuls der leitenden Lehrperson (z. B. "Welche Stelle aus dem
Text hat mich besonders angesprochen oder auch irritiert“) gibt allen Teilnehmer*innen
Gelegenheit sich mit seiner ganz persönlichen Bezugnahme auf den Text zu äußern.
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Nach dieser
Gesprächseröffnung können die Schülerinnen und Schüler sich in einem
"offenen Gespräch" zu ihren
Erstleseeindrücken äußern, diese ggf. auf den Text oder auf ihr
Weltwissen beziehen und sich von den Äußerungen der anderen anregen
lassen. Als gut gilt ein Gesprächsverlauf dann, wenn er " gekennzeichnet
(ist) durch Bewegung und Balance von − freier Entfaltung und
zielorientierter Bündelung/Strukturierung der Beiträge, − Irritation und
Bestätigung der Schülerinnen und Schüler, − Leser/Schüler- und
Textorientiertheit." (Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert (2006a/2010,
S.8) Dabei darf sich ein "lebendiges Gespräch" immer wieder in die eine
oder andere Richtung bewegen. Die Lehrperson sorgt als
Gesprächsleiter*in mit ihren gesprächsfördernden Impulsen dafür, das die
Gesprächssituation aufrechterhalten wird. Sie gibt Support dadurch, das
sie den Gesprächsverlauf mit der Spiegelung, Bündelung oder Verknüpfung
gemachter Schüleraussagen strukturiert. Zu dem kann sie, um dem Gespräch
eine bestimmte Richtung zu geben, auch Wissen einbringen, das sie bei
ihrer didaktischen Reflexion des Gesprächsgegenstands als für die
intendierten Verstehensprozesse für hilfreich beurteilt hat. Dabei kann
es sich um Informationen über den biografischen Hintergrund
(Autorenwissen), über die Literaturgattung (Gattungswissen), über die
Literaturepoche, der ein Text gewöhnlich zugeordnet wird oder auch zu
den Themen sein, die in einem bestimmten Text gestaltet sind. Allerdings
muss dabei stets darauf geachtet werden, dass damit keine zu sehr
ereinseitigenden Interpretationen auf Seiten der Schülerinnen und
Schüler gefördert werden.
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Am Ende werden in einer
rechtzeitig angekündigten Schlussrunde, bei der möglichst alle
Schülerinnen und Schüler noch einmal zu Wort kommen sollen, wichtige
Erkenntnisse und Aspekte, die zum Verstehen des Texte aus dem Verlauf
des Gesprächs gewonnen werden konnten, zusammengefasst. Wenn die
Schüler*innen hinreichend Erfahrung damit haben, kann das Gespräch auch
auf die Reflexion der Erfahrungen ausgedehnt werden, die die
Schüler*innen im Verlauf der sprachlichen Kommunikation gemacht haben.
Das literarische Gespräch
kann damit enden. Seine Ergebnisse können aber aber auch in die weitere
Textarbeit einfließen, die "m Idealfall Fragen und Themen, die im Gespräch
aufgekommen sind, gemeinsam und in unterschiedlichen Arbeitsformen
weiterverfolgt". (ebd.,
S.9)
Das Modell kann aber, das
liegt in der Natur der Sache, nur eine sehr grobe Richtschnur vorgeben und
hat insbesondere wegen seines Endes die Fachdidaktiker nicht rundum
überzeugt. (vgl.
Kepser/Abraham
42016, S.257)
Statt eines solchen
Modells, das im Grunde oberflächliche Organisationsstrukturen in einem
sehr vom Leitungsverhalten abhängigen Prozess darstellt, ist eine allgemeine
Beschreibung der Kennzeichen eines literarischen Gesprächs, in die auch
Organisationsaspekte einfließen, dem offenen Konzept des literarischen
Gesprächs eher angemessen.
Zu Beginn des literarischen
Gesprächs geben die Teilnehmer*innen gewöhnlich wieder, was ihnen spontan
zum Text einfällt. Diese ▪
Erstleseeindrücke sollten reihum geäußert werden, selbst dann, wenn es
dabei zu Wiederholungen kommt. Auch wenn das Hören anderer
Rezeptionserfahrungen im Zuge des Gesprächs eine eigene Dynamik entwickeln
und damit einzelnen Schülerinnen und Schülern helfen kann, im Laufe des
Gesprächs auch ihren eigenen ▪
Erstleseeindrücken auf die Spur zu kommen, ist dies keineswegs sicher.
So kann es durchaus hilfreich sein, in einer dem literarischen Gespräch
vorausgehenden Einzelarbeit mit einem ▪
Fragenkatalog
dazu vor allem die Schülerinnen und Schüler zu stützen, die sich
Fragenkatalog damit schwertun und damit von vornherein in eine Nebenrolle im
literarischen Gespräch gedrängt werden.
Sehr wichtig ist dabei,
dass die Schülerinnen und Schüler ihre Rezeptionserfahrungen in einem
vertrauensvollen und förderlichen Gesprächsklima äußern können, das
sämtliche Teilnehmer*innen ermuntert, ihre kognitiven als auch affektiv
geprägten Eindrücke in der Gruppe ohne jede Scheu offen zu artikulieren. So
lernen die Teilnehmer*innen auch, die subjektive Legitimation anderer,
vielleicht auch gegensätzlicher Leseeindrücke zu akzeptieren und ihre
Gleichwertigkeit anzuerkennen. "Ein Zwang zur Einigung (besteht)", wie auch
Spinner (2010,
S.202) betont, "dabei nicht."
Ein weiteres Kennzeichen des literarischen Gesprächs sollte es im Idealfall
sein, dass die Äußerungen der Teilnehmer*innen mit einem mehr oder weniger
klaren Bezug auf den Text erfolgen. Aber auch hier kommt es nicht
prinzipiell darauf an, ob sich derartige Bezüge unmittelbar auf die
Textebene beziehen. Es kann auch sein, dass textexterne Faktoren, die auf
das jeweils vorhandene Wissen (Weltwissen,
Textmusterwissen,
Sprachwissen etc.)
zurückzuführen sind, Grundlage einer mehr oder weniger gelungenen
Kohärenzbildung ist, die im Austausch mit den anderen im literarischen
Gespräch erhellt werden kann.
Wenn man den Textbezug im engeren Sinne von Anfang an stärken will, kann man
die Schülerinnen und Schüler auch auffordern, ihre Erstleseeindrücke von der
Präsentation eines bestimmten Satzes oder einer etwas längeren Textstelle
ausgehend zu äußern.

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Auch in diesem eher kognitionspsychologischen Sinne gilt also, was
Spinner (2010,
S.202), wohl im Anschluss an
Härle/Steinbrenner (2004) betont und was den Prozesscharakter dieses literaturdidaktischen Verfahrens unterstreicht, nämlich, dass der Textbezug
"nicht ein argumentatives Belegen mit Textstellen sein muss, sondern auch
eine eher kreisende, sich annähernde Suchbewegung sein darf", die das
Nicht-Verstehen als Teil des literarischen Verstehens zulässt und damit
akzeptiert, wenn manches rätselhaft oder eben fremd bleibt.
In jedem Fall schließt das literarische Gespräch in besonderer Weise an
gesellige Formen des
Literaturumgangs in der Gesellschaft an und verwirklicht daher auch in besonderer Weise die eigentliche
Zieldimension des Literaturunterrichts, nämlich Teilhabe im kulturellen
▪ Handlungsfeld Literatur. (vgl.
Spinner 2010., vgl.
Kepser/Abraham
42016, S.26)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.09.2024
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