In den
Diskussionen, für die der handlungs- und produktionsorientierte
Literaturunterricht seit den 1980er Jahren gesorgt hat, betonten
seine Befürworter auch immer wieder, dass seine Methoden endlich
auch jenen Schülerinnen und Schülern Zugänge zur Literatur
ermöglichten, die mit den herkömmlichen kognitiv-analytischen bzw.
diskursiv-analytischen Verfahren und Methoden im Unterricht nicht
zurechtkommen würden. Statt sich lesend mit Literatur zu
beschäftigen, bevorzugten diese aus diesem Grund das Fernsehen und
läsen so gut wie nie ein Buch. Die "Lesebereitschaft" und "Leselust"
wieder zu stärken, um auch dem wachsenden Analphabetismus
entgegenwirken zu können, seien Voraussetzung "für alle weiteren
sinnvollen analytisch intellektuellen Aktivitäten" (Spinner
1993, S.18)
Die
Förderung der "Leselust" mit handlungs- und produktionsorientierten
Verfahren war in den Augen ihrer
Kritiker indessen aber letzten Endes nichts anderes, als ein
Vorwand, um den Schüler-Leser "beinahe kultisch zuerst zum
Mitspieler, dann zum Co-Produzenten des Autors" auszurufen "und
dabei den realen Autor, seinen Text und Kontext in diesem Leserkult
verschwinden" (Kügler
1996, S.103) zu lassen.
Die Ziele, die handlungs- und produktionsorientierte
Methoden im Literaturunterricht verfolgen, sind vor allem auf den
eingreifend-produktiven Umgang mit den Texten ausgerichtet, der mit
verschiedenen •
textproduktiven Verfahren, •
szenischen, •
akustischen, •
visuellen oder •
multimedialen Gestaltungen
vorhandene Texte um- bzw. neu gestaltet.
Die
Sekundärtexte,
die die Schülerinnen und Schüler produzieren, sind dabei nicht das
eigentliche Ziel, um das es geht. Neben der Motivation, sich auf
Verstehensprozesse einzulassen, soll mit ihnen auch
ein Zugang zu einem literarischen Text geschaffen werden. Der
eingreifend-handelnde Umgang mit ihm soll das eigene
Textverständnis fördern und verdeutlichen sowie Möglichkeiten
zur
Anschlusskommunikation über die
Primärtexte
schaffen.
Mit Methoden wie z. B.
dem interpretierenden bzw.
sprechgestaltenden Vorlesen, Vortragen oder Erzählen, dem
literarischen Umgestalten vorhandener Texte oder
verschiedenen szenischen Gestaltungen werden
Fähigkeiten gefördert, die zum Erwerb von ▪
literarästhetischer Produktionskompetenz
gehören.
Im
Konzept des •
Gestaltenden Schreibens ist diese Form des kreativen Umgangs mit
literarischen Texten auch in den
▪
KMK-Bildungsstandards für das Deutschabitur (BISTA-AHR-D
2012)
eingegangen und hat in verschiedenen Bundesländern,
zumindest zeitweise, zur Einführung des Aufsatztyps der •
Gestaltenden Interpretation, geführt. Allerdings ist dieser
Aufsatztyp aber recht bald wieder außer Mode gekommen, weil u. a. die
Schwierigkeiten bei ihrer Benotung und der Leistungsmessung im Rahmen
der Kompetenzorientierung des Literaturunterrichts nicht sinnvoll
überwunden werden konnten.
Aber auch schon vorher wurde die Theorie und Praxis des handlungs- und
produktionsorientierten Literaturunterrichts von vielen sehr
kritisch gesehen.
Bei der ersten Welle von Kritik
ging es dabei eigentlich immer um "die Befürchtung, der literarische Texte könnte zu
sehr aus dem Blickfeld geraten, ja er könnte als ästhetisches
Produkt verfehlt werden." (Schuster
2001, S.91)
Was auch immer den Befürwortern, zum Teil auch durchaus berechtigt
vorgehalten wurde (Verselbständigung der Methodik, Theoriedefizit,
Beliebigkeit der Deutungen, inhaltsleerer Aktivismus ,
Marginalisierung des Textes und mangelnde Differenzierung des
Textverstehens - vgl.
Ehlers 2016,
8.2 8.2 Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren,
kindle-Version)
So hat Hans Kügler schon
1982 mit
seiner Polemik die "Intimisierung des Deutschunterrichts" (Spinner
1989, S.20) mit folgenden Worten scharf kritisiert:
(...) die Entdeckung des Lesersubjekts durch die Didaktik bedeutet
zunehmend die Verniedlichung der Literatur zum Material für
Lesezirkel, Leserclubs, Selbsterfahrungsgruppen, zum Material für
Schreib-, Spiel- und Kreativitätsgruppen. Der Text wird zum 'Pre-Text',
das heißt Vorwand für nur noch pädagogisch legitimierte Aktivitäten,
die dem Verstehensanspruch, den Texte von sich selbst her stellen,
nicht gerecht werden." (Kügler
1982, zit. n.
Spinner
1989, S.20)
Stattdessen richtet sich die Kritik immer wieder gegen die
didaktisch wenig reflektierte Praxis beim Einsatz handlungs- und
produktionsorientierter Methoden. Dabei wird immer wieder betont,
dass Texte und Textteile bei der literaturdidaktischen Planung "in
der Regel nur noch die Verfügungsmasse, die im unterrichtlichen
Routinehandeln unter didaktischen Vorgaben verarbeitet werden." (Kügler
1996, S.100) Solche Methoden seien mehr und mehr zu
"Ersatzformen, Prothesen für ausbleibendes Textverstehen" (ebd.,
S.109) geworden: "Wer nicht versteht, sein Nichtverstehen nicht
thematisieren will, kann an, in und mit Texten immer noch »handeln«.
(ebd.)
So hat
Zabka
(1995) schon früh kritisiert, dass im handlungstheoretischen Konzept des
Literaturunterrichts die Verfahren auf der Grundlage beobachtbarer äußerer
Aktivitäten eingeteilt werden. Stattdessen müsse sich der Fokus aber auf die
folgende Frage richten: "Welche Arten des Verstehens eignen sich bei
welchen Formen produktiver Textbehandlung?" (Zabka
1995, S. 132)
Allerdings geht die Kritik auch darüber hinweg, dass im
Literaturunterricht eben nicht nur "Verstehensziele" (Winkler
2016, S.175) von Bedeutung sind, sondern auch allgemeinere
pädagogische Aspekte eine Rolle spielen
Zuzustimmen ist in jedem Fall der Forderung nach stärkerer
didaktischer Reflexion. Es reicht eben nicht aus,
handlungsorientierte Schreibaufgaben lediglich als Mittel der
Motivation zu verstehen.
Zabka
(1995) untermauert seine Kritik an dieser weit verbreiteten Praxis mit einem •
Beispiel aus der schulischen Praxis im Kontext von
handlungsorientierten Schreibaufgaben beim ▪
Weitererzählen von Geschichten im Literaturunterricht.
Eine klare didaktische Profilierung von Aufgaben kann dabei der
immer wieder aufkommenden Kritik, dass der der handlungs- und
produktionsorientierte Literaturunterricht "zu einem bloßen
Hantieren mit Texten bzw. Textfragmenten (...) und zu einem
Aktionismus (führen)" kann, "dessen Ziele oft nicht nur den
Schüler(innen) unklar bleiben" (Nickel-Bacon
2006, S.17, pdf) entgegenwirken.
Heute sind die Fronten angesichts des seit Ende der 1990er Jahre zu
beobachtenden Methodenpluralismus zwischen Befürwortern und
Kritikern wohl aufgeweicht und die Abwägung der Argumente erfolgt
nicht mehr so "dogmatisch". Und doch ist die Kritik an der vermeintlichen
"Textverstümmelung" (vgl.
Kügler 1996,
S.111), zum Teil unter anderen Vorzeichen, weder ganz von der Hand
zu weisen noch endgültig verstummt. Aus diesem Grunde lassen wir
hier auch dieser Kritik das (vor-)letzte Wort, um die Reflexion über
längst aus verschiedenen Gründen geradezu unverzichtbar gewordenen
Methoden und Verfahren des handlungs- und produktionsorientierten
Literaturunterrichts nicht aus den Augen zu verlieren:
"Die Literaturdidaktik setzt sich an die Stelle der poetischen
Texte, sie spricht nicht für sie, sondern an ihrer Stelle. Genauer
noch: sie spricht an ihrer Stelle zugleich gegen sie. Indem sie
durch ihre gezielten Eingriffe die unverzichtbare Autonomie der
Texte (heute als überholte »Werkästhetik« abgetan) bewußt außer
Kraft setzt, entzieht sie auch die dem Text immanenten
Wirkungsbedingungen, unter denen der Text allein für sich (und damit
auch zum Leser) sprechen kann. Diese Literaturdidaktik bevormundet
die Texte nicht nur, sie entmündigt sie im handelnden Zugriff zur
Rezeptionsfalle für den Schüler-Leser. Ein anderer Leser als der
Schüler-Leser würde sich für dieses Verfahren auch nicht finden
lassen." (Kügler
1996, S.111)
Sicher schießt diese Kritik am "Gruselkabinett schulbezogener
Leseweisen" (ebd.,
S.108) über das Ziel hinaus. Allerdings dürfte das auch von
Spinner (2007/2022, S.70), monierte "allzu sorglose und beliebige
Anwenden kreativer Verfahren" noch nicht völlig aus der Welt sein.