Das
didaktisch-methodische Konzept des ▪
handlungs- und produktionsorientierte
Literaturunterricht bestimmte vor allem seit Mitte der 1980er Jahre bis
zur Jahrtausendwende den literaturdidaktischen Diskurs in Deutschland.
Der so genannte »"PISA-Schock"
kurz nach der Jahrtausendwende, der von den internationalen »Schulleistungsuntersuchungen
(»PISA-Studien
- Programme for International Student Assessment) der »OECD
ausgelöst wurde, die zeigten, dass deutsche Schülerinnen und Schüler
auch bei der Lesekompetenz im internationalen Vergleich
unterdurchschnittlich, verschob auch die Akzente des
literaturdidaktischen Diskurses wieder nachhaltig.
In der Didaktik des Deutschunterrichts vollzog sich eine Wende zu einer
verstärkten Output- bzw. Kompetenzorientierung, die mit einer stärkeren
Fokussierung auf den Umgang mit pragmatischen Texten einherging.
Verbindliche Bildungsstandards wurden dafür festgeschrieben, die von den
Schülerinnen und Schülern erreicht werden sollten.
Dabei ist allerdings immer zu berücksichtigen, dass es, wie
Winkler (2016a,
S.63) betont, "in der Literaturdidaktik fast Tradition (hat),
pädagogische und philologische Zielsetzungen des Literaturunterrichts
gegeneinander auszuspielen. Auch wenn diese Gegensätze in letzter Zeit
nicht mehr so scharf erscheinen (vgl. z. B.
Zabka 2012,
Winkler 2015b),
lässt sich zugespitzt fragen: Sind im Literaturunterricht die
Bedürfnisse und Interessen der Lernenden zentral zu setzen, oder geht es
um literarische Bildung? " Hinzukomme, dass diese fachspezifischen
Auseinandersetzungen nicht kontextfrei erfolgten, sondern in allgemeine
bildungstheoretische und -politische Debatten eingebettet seien.
Der oben beschriebenen Trendwende
zum Trotz
hat man sich weder im literaturdidaktischen Diskurs noch in der
Unterrichtspraxis grundsätzlich vom handlungs- und
produktionsorientierten Literaturunterricht (HPU) wirklich gelöst,
wenngleich die Kritik in dem sich auch gegen sie richtenden
"Verdrängungsprozess innerhalb der didaktischen Forschung" (Heiser
2024, S.12) daran weiterhin im Raum stand.
Dabei waren die Schlüsse, die Didaktiker aus den Ergebnissen der
PISA-Studien gezogen haben, sehr kontrovers. Einige Didaktiker
forderten, "der Deutschunterricht müsse ›eigenaktiver und kreativer
werden‹ (Frederking
et al., 2001, These 2), Literaturwissenschaftler wandten dagegen
ein, "dass gerade die ›Fun-Didaktik‹ des handlungs- und
produktionsorientierten Unterrichts ›Teil der Misere‹ sei, da Texte
produktiv weitergeschrieben werden, ›auch wenn man sie nicht so recht
verstanden hat‹ (Verweyen/Witting,
2001)" (Nickel-Bacon
2006, S.16, pdf)
Heute steckt der HPU, wie
Heiser (2024,
S.14) betont in einer "sehr misslichen Lage". Zwar seien handlungs- und
produktionsorientierte Verfahren in der Praxis immer noch sehr beliebt.
Allerdings habe man keinen "Anschluss an aktuelle
theoretisch-didaktische Positionen gehalten", so dass sich das schon
immer wieder beklagte Theoriedefizit inzwischen noch weiter vergrößert
habe, da es zu einer weitgehenden "Entkoppelung zwischen theoretisch
wenig reflektierter Praxis und literaturdidaktischer Theoriediskussion"
gekommen sei.
Auch von den
Kritikern wird im Allgemeinen eingeräumt, dass die Vorzüge des HPU
vor allem im Bereich der Motivation liegen. Die Kritik daran und
auch empirische Untersuchungen (u. a. »Hattie-Studie
2009) haben den geltend gemachten Anspruch
der grundsätzlichen Überlegenheit handlungs- und
produktionsorientierter gegenüber kognitiv-textanalytischen Methoden
auf der Grundlage einer riesigen empirischen Datenbasis
evidenzbasiert als vermeintliche "Selbstläufer" für literarisches
Lernen
entzaubert.
So hat die Studie
des neuseeländischen Bildungsforschers John
Hattie
(2009), in der er die Ergebnisse von vielen hundert Metaanalysen
zu schulischen Lernstandserhebungen ausgewertet hat, fest, dass es
bei den Einflussfaktoren auf Schülerleistungen weiterhin stark auf
die Lehrperson ankomme. Dies zeige sich sehr deutlich im Vergleich
mit offenen Lernformen, jahrgangsübergreifendem Unterricht,
außerschulischem Lernen, problemorientiertem Unterricht und auch
Team Teaching. Eckhard
Klieme (2010,
zit. n.
Steffens 2011, S.27) zieht daraus den Schluss, dass solche
Verfahren für den Aufbau "intelligenten Wissens" nur relevant seien,
"(...) wenn sie mit klarer Strukturierung und herausfordernden,
kognitiv aktivierenden Inhalten einhergehen." Was Klieme im
Anschluss an Hattie für die Lernwirsamkeit von indivuellem Lernen im
Unterricht feststellt, dass solche Lehr- und Lernformen "offenbar
der strukturellen Einbettung und einer Ausbalancierung mit anderen
Lehr- und Lernstrategien (bedürfen)" (ebd.),
hat die Kompetenzorientierung seit dem PISA-Schock nachhaltig
beflügelt und auch mit dazu beigetragen, dass handlungs- und
produktionsorientierte Verfahren gegenüber
hermeneutisch-interpretierenden und textanalytischen Verfahren im
Literaturunterricht mehr und mehr in die Defensive gedrängt worden
sind.
Hatties
Studienergebnisse bedeuten allerdings nicht, dasshandlungs- und
produktionsorientierte Verfahren im Unterricht keine Lernwirksamkeit
entfalten können. Wichtig ist für ihn vor allem, "dass die Lernenden
wissen, zu welchem Zweck eine bestimmte Aufgabe zu bearbeiten ist
und welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit ihre
Arbeitsergebnis als angemessen bzw. gelungen gelten kann." (Heiser
2024, S.349)Schwierig sei es aber durchaus, wenn keinerlei Rahmen
gesteckt werde, innerhalb dessen Arbeiten zu gestalten seien bzw.
wenn jede individuelle Ausgestaltung als automatisch "gut"
eingestuft werde. Daher fordert Heiser im Anschluss an Hattie: "Ein
transparentes Vorgehen im Sinne der Hattie-Studie verlangt dagegen,
dass auch für produktiv-literarästhetische Ausarbeitungen Vorgaben
gemacht werden und dass zusätzlich mindestens grob festgelegt ist,
in welchem Verhältnis bestimmte Teilleistungen zueinander stehen." (ebd.)
So müsste den Schreibenden, die einen Brief einer Romanfigur
verfassen sollten, vorher klar sein, welche Anforderungen die
Textsorte Brief bzw. das Briefformat stelle und und ob die Sprache
der Romanfigur nachgeahmt werden soll oder nicht. Ebenso müssten sie
wissen, wie groß ihre Freiraum bei der Gestaltung sei, ob sie z.B.
nur vorhandene Lücken ausfabulieren oder auch bewusst von der
Vorlage abweichen dürften. Zudem müssten die Schüler*innen nach
Hattie auch in der Lage sein darüber zu reflektieren, welche
didaktischen Absichten mit einer Aufgabe hauptsächlich verfolgt
würden. So mache es am Beispiel des oben genannten Briefs eben einen
klaren Unterschied, wenn das Briefformat als solches gelernt und
eingeübt werden soll oder die Perspektive der Romanfigur im
Vordergrund stehe. Diene die produktionsorientierte Aufgabe hingegen
am Anfang einer Unterrichtseinheit eher dazu einen ersten
persönlichen Zugang zum Text zu schaffen, würden allerdings andere
Maßstäbe gelten.
Für Heiser
(2024, S.350) steht jedenfalls fest, dass die Hattie-Studie
keineswegs die Lernunwirksamkeit der handlungs- und
produktionsorientierten Verfahren nachgewiesen habe, sondern
stattdessen "einige pragmatische Anregungen" dafür geliefert habe,
"wie HPU-Aufgabensettings formal geplant sein müssen, um eine hohe
Wirksamkeit entfalten zu können."
Zumindest eines dürfte damit aber klar geworden sein, was Andreas
Helmke (2017,
S.8) in einem Interview zur Hattie-Studie formuliert hat: "Wir
sollten lernen, uns von Schwarzweiß- Bildern zu verabschieden, nach
dem Motto: entweder radikal schülergelenkter Unterricht, verbunden
mit selbstgesteuertem Lernen und dem Lehrer in einer Rückzugsrolle –
oder radikal lehrerzentrierter und -gesteuerter Unterricht, mit
Schülern, die schweigend zuhören. Das sind beides Extremformen, ja
Karikaturen. Unterschiedliche Bildungsziele und Kompetenzen
erfordern natürlich einen guten Mix, eine angemessene Balance von
Instruktion und Konstruktion, von eher lehrer- und eher
schülergelenkten Phasen des Unterrichts. Zudem sollten bestimmte
Arbeitstechniken bewusst eingeübt werden."
So kann man sicher
bei der Abwägung der Vor- und Nachteile
Nickel-Bacon (2006, S.19f., pdf) der drei wichtigsten Verfahren im
Umgang mit literarischen Texten in der Schule folgen, zum Schluss
kommen, "dass die Aktivierung von textbezogenem Vorwissen, wie sie
zentral für das Textverstehen ist, gezielter durch hermeneutische
Verfahren (Selbst- und Weltwissen) bzw. durch das textanalytische
Methodenrepertoire (Sprach- und Literaturwissen) erfolgt, während
das Interesse an der ganz persönlichen Beschäftigung mit einzelnen
literarischen Texten am ehesten gefördert wird durch die
subjektzentrierten Aufgaben des produktionsorientierten
Unterrichts."
Für
größere (740px) und
große Ansicht (1200px) bitte an*klicken*tippen!
Leubner/Saupe/Richter (2016, S.264) sehen durchaus die in der
Kritik am HPU immer wieder betonten Gefahren ("ziellose Spielerei"
"vorschnelle Vereindeutigung" literarischen Lesens, unangemessener
Zeitaufwand für die damit zu erreichenden Ergebnisse). Zugleich sind
auch davon überzeugt, dass sie sich vermeiden lassen, wobei sie auch
nicht für jede Lerngruppe geeignet und auch nicht für jeden Text
notwendig seien.
Dafür haben
Leuber/Saupe (2016, S.112-115) drei Grundsätze formuliert, mit
denen handlungs- und produktionsorientierte Methoden mit der ihnen
gebührenden didaktischen Reflexion im Literaturunterricht eingesetzt
werden können:
Bei der
Passung von Text und Methode
geht es darum, Texte, die einen ausreichend großen, aber nicht zu
großen Deutungsspielraum lassen, auf die Fähigkeiten der
Schülerinnen und Schüler abzustimmen. Dies muss gut reflektiert
werden, weil Texte mit einem besondern großen Deutungsspielraum wie
z. B. moderne Parabeln, insbesondere auch die Parabeln Franz Kafkas,
ohne entsprechendes Wissen (biografisches Wissen, Gattungswissen,
kontextuelles Wissen etc.) oder den Vergleich von Deutungsansätzen
im Anschluss an die Primärrezeption in verschiedenen Sozialformen
der Anschlusskommunikation, die Tendenz besteht, dass die
Schülerinnen und Schüler, ihre Sekundärtexte ausschließlich auf der
Grundlage ihrer Schemata der Alltagswahrnehmung oder ihrer
Medienerfahrungen verfassen. Im umgekehrten Fall, wenn die Texte
einen zu geringen Deutungsspielraum lassen, bleibt den Schülerinnen
und Schülern kaum etwas anderes, als das Vorgefundene auf diese oder
jene Art nur zu reproduzieren.
Damit Schülerinnen
und Schüler bei ihrer produktionsorientierten Bearbeitung von
literarischen Texten sich auch tatsächlich auf die
wesentlichen Textelemente
beziehen, müssen, zumindest bei komplexeren und schwierigeren Texten
bestimmte Textelemente und -strukturen analysiert werden, die auch
als Aufgaben der Sekundärtextproduktion vorgeschaltet sein können.
Wer z. B. eine Geschichte weitererzählen soll, muss im Grunde
analysiert haben, wie der Text seine Geschichte bis dahin erzählt
und was er darüber erzählt hat, um sich nicht in textferne
Schlussvarianten zu versteigen. Solche textanalytischen Aufgaben
stellen sich dann allerdings nicht, "wenn sich die handlungs- oder
produktionsorientierte Arbeit auf eine Einstimmung oder
Hypothesenbildung richtet." (ebd.)
Die
Schülerproduktionen sollen am Ende
im Vergleich miteinander und im Vergleich mit dem Original
reflektiert werden. Im Unterrichtsgespräch ist dabei zu
überprüfen, ob sich die Schülertexte sich in angemessener Weise auf
den literarischen Primärtext bezieht und die eigene "Lösung"
insofern plausibel ist. Aus der Metakommunikation über die
Sekundärtextgestaltungen lassen sich auch Ansätze für die
Überarbeitung der eigenen Sekundärtextgestaltung gewinnen. Zumindest
problematisch erscheint uns indessen die von Leubner/Saupe
vorgeschlagene Frage für die Anschlusskommunikation, welcher der von
den Schüler*innen gestalteten Sekundärtexte am besten zu dem
Primärtext passe. Hier wird nämlich im Nachhinein die Autorität des
Primärtextes bemüht, an der sich solche kreativen Formen
literarischen Schreibens in der Schule nicht unbedingt orientieren
sollten, wenn sie die weniger "gelungenen" Lesarten, die den
Sekundärtexten der Schüler*innen zugrunde liegen, nicht im
Nachhinein entwerten soll. Besser ist hier wohl einfach nach dem
Wie zu fragen: Wie hat der Schüler bzw. die Schülerin X den
Ausgangstext "verstanden"?
Trotz allem, betont
Heiser
(2024, S.13), sei auch für die neueren Literaturdidaktiken
typisch, dass sie die handlungs- und produktionsorientierten
Methoden im Grunde genommen für historisch überwunden sehen, da "die
Ziele und Methoden des HPU ohnehin nicht mit den Anforderungen von
Kompetenzorientierung im Sinne der PISA-Studie in Einklang zu
bringen seien."
Wenn, diese Polemik
sei am Ende erlaubt, objektive Messbarkeit und verstärkte
Akzentuierung die allein seligmachenden Kriterien für die Wahl von
Unterrichtsmethoden werden, dann wird damit der HPU mit seinen
Implikationen "abgeräumt" oder konzeptionell so weit "entkernt",
dass nur noch die Fassade stehen bleibt, um Schülerinnen und Schüler
unter Ausnutzung seiner motivationalen Vorteile auf des Terrain der
Vermessung ihrer Fähigkeiten zu locken. Ein gewisses "Unbehagen"
angesichts "der Umkodierung ästhetischer Sensibilität in eine
überprüfbare Teilkompetenz" (Kämper-van
den Boogart/Pieper 2008, S.46) bleibt eben immer noch
"angesichts der hochgeschätzten Eigendynamik von Kreativität"
▪
Kreativ Schreiben
(Schulische Schreibformen)
▪
Produktive
Textarbeit
•
Surfbrett Kreatives
Schreiben
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.09.2024