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Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht

Möglichkeiten und Grenzen gängiger Verfahren im Umgang mit literarischen Texten

Literaturunterricht

 
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Vom bevorzugten didaktisches Paradigma der 1980er und 1990er Jahre zur Trendwende nach dem PISA-Schock 2001

Das didaktisch-methodische Konzept des ▪ handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht bestimmte vor allem seit Mitte der 1980er Jahre bis zur Jahrtausendwende den literaturdidaktischen Diskurs in Deutschland. Der so genannte »"PISA-Schock" kurz nach der Jahrtausendwende, der von den internationalen »SchulleistungsuntersuchungenPISA-Studien - Programme for International Student Assessment) der »OECD ausgelöst wurde, die zeigten, dass deutsche Schülerinnen und Schüler auch bei der Lesekompetenz im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich, verschob auch die Akzente des literaturdidaktischen Diskurses wieder nachhaltig.

In der Didaktik des Deutschunterrichts vollzog sich eine Wende zu einer verstärkten Output- bzw. Kompetenzorientierung, die mit einer stärkeren Fokussierung auf den Umgang mit pragmatischen Texten einherging. Verbindliche Bildungsstandards wurden dafür festgeschrieben, die von den Schülerinnen und Schülern erreicht werden sollten.

Dabei ist allerdings immer zu berücksichtigen, dass es, wie Winkler (2016a, S.63) betont, "in der Literaturdidaktik fast Tradition (hat), pädagogische und philologische Zielsetzungen des Literaturunterrichts gegeneinander auszuspielen. Auch wenn diese Gegensätze in letzter Zeit nicht mehr so scharf erscheinen (vgl. z. B. Zabka 2012, Winkler 2015b), lässt sich zugespitzt fragen: Sind im Literaturunterricht die Bedürfnisse und Interessen der Lernenden zentral zu setzen, oder geht es um literarische Bildung? " Hinzukomme, dass diese fachspezifischen Auseinandersetzungen nicht kontextfrei erfolgten, sondern in allgemeine bildungstheoretische und -politische Debatten eingebettet seien.

Der oben beschriebenen Trendwende zum Trotz hat man sich weder im literaturdidaktischen Diskurs noch in der Unterrichtspraxis grundsätzlich vom handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht (HPU) wirklich gelöst, wenngleich die Kritik in dem sich auch gegen sie richtenden "Verdrängungsprozess innerhalb der didaktischen Forschung" (Heiser 2024, S.12) daran weiterhin im Raum stand.

Dabei waren die Schlüsse, die Didaktiker aus den Ergebnissen der PISA-Studien gezogen haben, sehr kontrovers. Einige Didaktiker forderten, "der Deutschunterricht müsse ›eigenaktiver und kreativer werden‹ (Frederking et al., 2001, These 2), Literaturwissenschaftler wandten dagegen ein, "dass gerade die ›Fun-Didaktik‹ des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts ›Teil der Misere‹ sei, da Texte produktiv weitergeschrieben werden, ›auch wenn man sie nicht so recht verstanden hat‹ (Verweyen/Witting, 2001)" (Nickel-Bacon 2006, S.16, pdf)

Heute steckt der HPU, wie Heiser (2024, S.14) betont in einer "sehr misslichen Lage". Zwar seien handlungs- und produktionsorientierte Verfahren in der Praxis immer noch sehr beliebt. Allerdings habe man keinen "Anschluss an aktuelle theoretisch-didaktische Positionen gehalten", so dass sich das schon immer wieder beklagte Theoriedefizit inzwischen noch weiter vergrößert habe, da es zu einer weitgehenden "Entkoppelung zwischen theoretisch wenig reflektierter Praxis und literaturdidaktischer Theoriediskussion" gekommen sei.

Möglichkeiten und Grenzen des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts

Auch von den Kritikern wird im Allgemeinen eingeräumt, dass die Vorzüge des HPU vor allem im Bereich der Motivation liegen. Die Kritik daran und auch empirische Untersuchungen (u. a. »Hattie-Studie 2009) haben den geltend gemachten Anspruch der grundsätzlichen Überlegenheit handlungs- und produktionsorientierter gegenüber kognitiv-textanalytischen Methoden auf der Grundlage einer riesigen empirischen Datenbasis evidenzbasiert als vermeintliche "Selbstläufer" für literarisches Lernen entzaubert.

So hat die Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie (2009), in der er die Ergebnisse von vielen hundert Metaanalysen zu schulischen Lernstandserhebungen ausgewertet hat, fest, dass es bei den Einflussfaktoren auf Schülerleistungen weiterhin stark auf die Lehrperson ankomme. Dies zeige sich sehr deutlich im Vergleich mit offenen Lernformen, jahrgangsübergreifendem Unterricht, außerschulischem Lernen, problemorientiertem Unterricht und auch Team Teaching. Eckhard Klieme (2010, zit. n. Steffens 2011, S.27) zieht daraus den Schluss, dass solche Verfahren für den Aufbau "intelligenten Wissens" nur relevant seien, "(...) wenn sie mit klarer Strukturierung und herausfordernden, kognitiv aktivierenden Inhalten einhergehen." Was Klieme im Anschluss an Hattie für die Lernwirsamkeit von indivuellem Lernen im Unterricht feststellt, dass solche Lehr- und Lernformen "offenbar der strukturellen Einbettung und einer Ausbalancierung mit anderen Lehr- und Lernstrategien (bedürfen)" (ebd.), hat die Kompetenzorientierung seit dem PISA-Schock nachhaltig beflügelt und auch mit dazu beigetragen, dass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren gegenüber hermeneutisch-interpretierenden und textanalytischen Verfahren im Literaturunterricht mehr und mehr in die Defensive gedrängt worden sind.

Hatties Studienergebnisse bedeuten allerdings nicht, dasshandlungs- und produktionsorientierte Verfahren im Unterricht keine Lernwirksamkeit entfalten können. Wichtig ist für ihn vor allem, "dass die Lernenden wissen, zu welchem Zweck eine bestimmte Aufgabe zu bearbeiten ist und welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit ihre Arbeitsergebnis als angemessen bzw. gelungen gelten kann." (Heiser 2024, S.349)Schwierig sei es aber durchaus, wenn keinerlei Rahmen gesteckt werde, innerhalb dessen Arbeiten zu gestalten seien bzw. wenn jede individuelle Ausgestaltung als automatisch "gut" eingestuft werde. Daher fordert Heiser im Anschluss an Hattie: "Ein transparentes Vorgehen im Sinne der Hattie-Studie verlangt dagegen, dass auch für produktiv-literarästhetische Ausarbeitungen Vorgaben gemacht werden und dass zusätzlich mindestens grob festgelegt ist, in welchem Verhältnis bestimmte Teilleistungen zueinander stehen." (ebd.)

So müsste den Schreibenden, die einen Brief einer Romanfigur verfassen sollten, vorher klar sein, welche Anforderungen die Textsorte Brief bzw. das Briefformat stelle und und ob die Sprache der Romanfigur nachgeahmt werden soll oder nicht. Ebenso müssten sie wissen, wie groß ihre Freiraum bei der Gestaltung sei, ob sie z.B. nur vorhandene Lücken ausfabulieren oder auch bewusst von der Vorlage abweichen dürften. Zudem müssten die Schüler*innen nach Hattie auch in der Lage sein darüber zu reflektieren, welche didaktischen Absichten mit einer Aufgabe hauptsächlich verfolgt würden. So mache es am Beispiel des oben genannten Briefs eben einen klaren Unterschied, wenn das Briefformat als solches gelernt und eingeübt werden soll oder die Perspektive der Romanfigur im Vordergrund stehe. Diene die produktionsorientierte Aufgabe hingegen am Anfang einer Unterrichtseinheit eher dazu einen ersten persönlichen Zugang zum Text zu schaffen, würden allerdings andere Maßstäbe gelten.

Für Heiser (2024, S.350) steht jedenfalls fest, dass die Hattie-Studie keineswegs die Lernunwirksamkeit der handlungs- und produktionsorientierten Verfahren nachgewiesen habe, sondern stattdessen "einige pragmatische Anregungen" dafür geliefert habe, "wie HPU-Aufgabensettings formal geplant sein müssen, um eine hohe Wirksamkeit entfalten zu können."

Zumindest eines dürfte damit aber klar geworden sein, was Andreas Helmke (2017, S.8) in einem Interview zur Hattie-Studie formuliert hat: "Wir sollten lernen, uns von Schwarzweiß- Bildern zu verabschieden, nach dem Motto: entweder radikal schülergelenkter Unterricht, verbunden mit selbstgesteuertem Lernen und dem Lehrer in einer Rückzugsrolle – oder radikal lehrerzentrierter und -gesteuerter Unterricht, mit Schülern, die schweigend zuhören. Das sind beides Extremformen, ja Karikaturen. Unterschiedliche Bildungsziele und Kompetenzen erfordern natürlich einen guten Mix, eine angemessene Balance von Instruktion und Konstruktion, von eher lehrer- und eher schülergelenkten Phasen des Unterrichts. Zudem sollten bestimmte Arbeitstechniken bewusst eingeübt werden."

So kann man sicher bei der Abwägung der Vor- und Nachteile Nickel-Bacon (2006, S.19f., pdf) der drei wichtigsten Verfahren im Umgang mit literarischen Texten in der Schule folgen, zum Schluss kommen, "dass die Aktivierung von textbezogenem Vorwissen, wie sie zentral für das Textverstehen ist, gezielter durch hermeneutische Verfahren (Selbst- und Weltwissen) bzw. durch das textanalytische Methodenrepertoire (Sprach- und Literaturwissen) erfolgt, während das Interesse an der ganz persönlichen Beschäftigung mit einzelnen literarischen Texten am ehesten gefördert wird durch die subjektzentrierten Aufgaben des produktionsorientierten Unterrichts."


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Leubner/Saupe/Richter (2016, S.264) sehen durchaus die in der Kritik am HPU immer wieder betonten Gefahren ("ziellose Spielerei" "vorschnelle Vereindeutigung" literarischen Lesens, unangemessener Zeitaufwand für die damit zu erreichenden Ergebnisse). Zugleich sind auch davon überzeugt, dass sie sich vermeiden lassen, wobei sie auch nicht für jede Lerngruppe geeignet und auch nicht für jeden Text notwendig seien.

Dafür haben Leuber/Saupe (2016, S.112-115) drei Grundsätze formuliert, mit denen handlungs- und produktionsorientierte Methoden mit der ihnen gebührenden didaktischen Reflexion im Literaturunterricht eingesetzt werden können:

Bei der Passung von Text und Methode geht es darum, Texte, die einen ausreichend großen, aber nicht zu großen Deutungsspielraum lassen, auf die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler abzustimmen. Dies muss gut reflektiert werden, weil Texte mit einem besondern großen Deutungsspielraum wie z. B. moderne Parabeln, insbesondere auch die Parabeln Franz Kafkas, ohne entsprechendes Wissen (biografisches Wissen, Gattungswissen, kontextuelles Wissen etc.) oder den Vergleich von Deutungsansätzen im Anschluss an die Primärrezeption in verschiedenen Sozialformen der Anschlusskommunikation, die Tendenz besteht, dass die Schülerinnen und Schüler, ihre Sekundärtexte ausschließlich auf der Grundlage ihrer Schemata der Alltagswahrnehmung oder ihrer Medienerfahrungen verfassen. Im umgekehrten Fall, wenn die Texte einen zu geringen Deutungsspielraum lassen, bleibt den Schülerinnen und Schülern kaum etwas anderes, als das Vorgefundene auf diese oder jene Art nur zu reproduzieren.

Damit Schülerinnen und Schüler bei ihrer produktionsorientierten Bearbeitung von literarischen Texten sich auch tatsächlich auf die wesentlichen Textelemente beziehen, müssen, zumindest bei komplexeren und schwierigeren Texten bestimmte Textelemente und -strukturen analysiert werden, die auch als Aufgaben der Sekundärtextproduktion vorgeschaltet sein können. Wer z. B. eine Geschichte weitererzählen soll, muss im Grunde analysiert haben, wie der Text seine Geschichte bis dahin erzählt und was er darüber erzählt hat, um sich nicht in textferne Schlussvarianten zu versteigen. Solche textanalytischen Aufgaben stellen sich dann allerdings nicht, "wenn sich die handlungs- oder produktionsorientierte Arbeit auf eine Einstimmung oder Hypothesenbildung richtet." (ebd.)

Die Schülerproduktionen sollen am Ende im Vergleich miteinander und im Vergleich mit dem Original reflektiert werden. Im Unterrichtsgespräch ist dabei zu überprüfen, ob sich die Schülertexte sich in angemessener Weise auf den literarischen Primärtext bezieht und die eigene "Lösung" insofern plausibel ist. Aus der Metakommunikation über die Sekundärtextgestaltungen lassen sich auch Ansätze für die Überarbeitung der eigenen Sekundärtextgestaltung gewinnen. Zumindest problematisch erscheint uns indessen die von Leubner/Saupe vorgeschlagene Frage für die Anschlusskommunikation, welcher der von den Schüler*innen gestalteten Sekundärtexte am besten zu dem Primärtext passe. Hier wird nämlich im Nachhinein die Autorität des Primärtextes bemüht, an der sich solche kreativen Formen literarischen Schreibens in der Schule nicht unbedingt orientieren sollten, wenn sie die weniger "gelungenen" Lesarten, die den Sekundärtexten der Schüler*innen zugrunde liegen, nicht im Nachhinein entwerten soll. Besser ist hier wohl einfach nach dem Wie zu fragen: Wie hat der Schüler bzw. die Schülerin X den Ausgangstext "verstanden"?

Trotz allem, betont Heiser (2024, S.13), sei auch für die neueren Literaturdidaktiken typisch, dass sie  die handlungs- und produktionsorientierten Methoden im Grunde genommen für historisch überwunden sehen, da "die Ziele und Methoden des HPU ohnehin nicht mit den Anforderungen von Kompetenzorientierung im Sinne der PISA-Studie in Einklang zu bringen seien."

Wenn, diese Polemik sei am Ende erlaubt, objektive Messbarkeit und verstärkte Akzentuierung die allein seligmachenden Kriterien für die Wahl von Unterrichtsmethoden werden, dann wird damit der HPU mit seinen Implikationen "abgeräumt" oder konzeptionell so weit "entkernt", dass nur noch die Fassade stehen bleibt, um Schülerinnen und Schüler unter Ausnutzung seiner motivationalen Vorteile auf des Terrain der Vermessung ihrer Fähigkeiten zu locken. Ein gewisses "Unbehagen" angesichts "der Umkodierung ästhetischer Sensibilität in eine überprüfbare Teilkompetenz" (Kämper-van den Boogart/Pieper 2008, S.46) bleibt eben immer noch "angesichts der hochgeschätzten Eigendynamik von Kreativität"

Kreativ Schreiben (Schulische Schreibformen)
Produktive Textarbeit

Surfbrett Kreatives Schreiben

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 17.09.2024

   
 

 
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