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Kognitiv-analytische Zugänge

Gattungswissen

Literaturunterricht Zugänge zu literarischen Texten

 
FAChbereich Deutsch
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Kognitiv-analytische ZugängeGattungswissen ist einer der gebräuchlichsten kognitiv-analytischen Zugänge zu literarischen Texten in der Schule. Dementsprechend gehören Gattungsfragen auch zu den Fragen, mit der sich die Literaturdidaktik immer wieder beschäftigt.

Der Gebrauch des Gattungsbegriffs im Literaturunterricht

Wenn in der Schule jenseits des literaturwissenschaftlichen und literaturdidaktischen Diskurses von Literaturgattungen die Rede ist, kann damit zweierlei gemeint sein.

  • Zum einen sind dann die traditionellen Großbereiche der Literatur gemeint. Es gehört zum literarischen Orientierungswissen, dass man Literatur in drei Gattungen einteilen und vor allem ▪ erzählende (epische, narrative), ▪ dramatische und ▪ lyrische Texte auseinander halten kann. Selbst wenn der heuristische Wert dieses gattungstheoretischen Dreiermodells nicht sonderlich groß ist und auch nicht sämtliche literarischen Formen erfassen kann, schafft es doch eine gewisse Ordnung in der nahezu unendlichen Vielfalt literarischer Formen.
    Sehr vereinfacht und verkürzt kann man sagen: ▪ Erzählende Texte stellen Zustandsveränderungen (vgl. Schmid  2005, S.13) dar, erzählen eine Handlung über einen längeren Zeitraum und werden durch einen Erzähler vermittelt (vgl. Stanzel 1979/1989). ▪ Dramatische Texte können auf der Bühne inszeniert werden, zeichnen sich ohne eine vermittelnde (Erzähl-)Instanz durch ihre Unmittelbarkeit aus (vgl. Pfister 1977, S.22). ▪ Lyrische Texte sind oft vergleichsweise kurz und weisen Versform auf.
    Spricht man also in dieser Weise von Gattungen, dann "orientiert" man sich gewissermaßen an der "klassischen" ▪ normativen Gattungstrias, ohne freilich ihre philosophischen und kulturanthropologischen Begründungskontexte zu teilen. Zudem wird die Trias in der Regel um eine vierte Kategorie erweitert, nämlich literarische Gebrauchsformen bzw. literarische Zweckformen (z. B. Autobiographie, Biographie, Brief, Glosse, Leitartikel, Essay, Memoiren, Predigt, Reportage, Tagebuch).

  • Was anderes ist gemeint, wenn der Begriff Gattung zur Bezeichnung bestimmter Gruppen von Texten innerhalb dieser Großgruppen die Rede ist. Was dann genau gemeint ist, hängt oft vom Kontext ab, indem davon gesprochen wird. Auch wenn diese Gruppen also Untergattungen bilden, lassen sie sich aber kaum in einer hierarchischen Ordnung darstellen, da sowohl formale als auch inhaltliche Aspekte dabei herangezogen werden. Derartige Gattungsbegriffe können demnach Textsorten bezeichnen, denen oft bestimmte Merkmale zugeordnet werden (z. B. Kurzgeschichte, Roman, Parabel, Essay, Ballade, Sonett, Satire), es können aber auch historische Genres damit gemeint sein sowie andere auf unterschiedliche Art und Weise abgeleitete Begriffe, mit denen Texte zu Gruppen zusammengefasst werden.

Wie auch immer von Gattungsbegriffen im Literaturunterricht Gebrauch gemacht wird, Gattungsfragen und -zuordnungen sind nie Selbstzweck, sondern sollten vor allem der Verständigung über Literatur dienen.

In der Kommunikation über Literatur müssen sie ihre Brauchbarkeit und ihren Nutzen für das Erschließen und Verstehen von Texten immer wieder am konkreten Beispieltext unter Beweis stellen. Entscheidend ist dabei vor allem, wie die Arbeit mit vordefinierten Kategorien oder die Arbeit zur Kategorisierung bestimmter Texte über Ähnlichkeiten organisiert wird, welchen Stellenwert gattungspoetische Kriterien in den unterrichtlichen Lernprozessen haben und welche Bedeutung Merkmallisten und -katalogen bei Erschließungsprozessen von Literatur zugewiesen werden

Die Konstruiertheit von Gattungen

Seit etwa 1960 hat sich dabei die Erkenntnis durchgesetzt, dass Gattungen nicht unabhängig vom Subjekt verstanden werden können, das diese • konstruiert. Seitdem werden Gattungen als "offene Systeme" gesehen, die nur als "Bündel von unterschiedlichen formalen, strukturellen und thematischen Kriterien beschrieben werden" können (Peter Wenzel, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 5. Aufl. 2013, S. 244)

Dabei ist heutzutage wohl kaum mehr umstritten, "dass dichterische und oder literarische Gattungen am besten als historisch-sozial relative Normen der Kommunikation aufzufassen sind, man könnte auch von Kategorisierungen als Zuschreibungen oder Zuweisungen von Sinn sprechen." (Zymner 2010a, S.3)

In der Praxis nutzen nahezu alle Einführungen in die moderne Literaturwissenschaft aus pragmatischen Gründen und ohne normative Absicht bis zu einem gewissen Grade die ▪ klassische Gattungstrias (▪ Epik, ▪ Lyrik und ▪ Drama) als beschreibende Kategorien ohne ihre anthropologischen, philosophischen oder stiltheoretischen Implikationen, die sie als historische Kategorien auszeichnen, zu übernehmen. Ergänzt wird das gattungstheoretische Dreiermodell dabei durch ▪ literarische Zweckformen (z. B. Biographie, Traktat, ▪ Essay, Feuilleton) und diskontinuierliche Texte mit ihren Text-Bild-Kombinationen (z.B.  Bilderbucherzählungen, Comic-Geschichten oder die didaktische Lehrdichtung) oder wenn auch andere Medien einbezogen werden, der (Spiel-)Film.

Während es also die einen gibt, die die ▪ klassische Gattungstrias (▪ Epik, ▪ Lyrik und ▪ Drama) für überholt und wissenschaftlich "abgeräumt" betrachten, bringen sie andere mit einer • kulturanthroplogischen Fundierung wieder ins Spiel und fordern z. B. auf dieser Grundlage im Bereich des Erzählens auf der Grundlage unter Verweis auf die "Strukturähnlichkeit von alltagssprachlichen und literarischen Erzählen" (Pfeiffer 22013, S.60) eine stärkere Verschränkung von Sprach- und Literaturunterricht sowie literarischer Rezeption und Produktion im Sinne des • handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterrichts, um die Erzählfähigkeit zu fördern, die eine "wichtige Voraussetzung für das Verstehen epischer Formen" (ebd.) darstelle.

Gattungswissen und Sinnkontruktion

Unstrittig ist, dass Kenntnisse über • literarische Gattungen ihrem Besitzer gewöhnlich Vorteile bei der • Sinnkonstruktion und bei der mentalen Repräsentation verschaffen. Und dies ist unabhängig davon, wie das Gattungswissen erworben worden ist.

Allerdings weiß man aber auch, dass  erworbenes Fachwissen ganz allgemein "keineswegs immer das Verstehen von Texten fördern, sondern sogar auf Abwege führen können:" (Frederking/Wieser 2015, S.206, vgl. Spinner (2022a, S.164ff.) Dennoch ist und bleibt die • "Textbetrachtung unter Berücksichtung und Reflexion von spezifischen Wissensbeständen" wie "z. B. zeit-, literatur- und mediengeschichtliche Kenntnisse, Gattungs- und Genrewisssen, Wissen über Textsorten und -funktionen, poetologische und ästhetische Asppekte und Wissen um mediale Spezifika" der wichtigste Entwicklungsschritt der auf der Sekundarstufe II vollzogen wird. (Frederking/Wieser 2015, S.180)

Allerdings ist genau die Art und Weise, wie Gattungswissen, Gattungs- und/oder Textsortenmerkmale im Literaturunterricht erworben werden sollen, in der Literaturdidaktik strittig. Zwei Ansätze sind es dabei vor allem, die miteinander konkurrieren: Die so genannte • "Literaturwissenschaftsdidaktik" (Köster 2015, S.60 unter Bezugnahme auf Pflugmacher 2014, S. 157f.) und die so genannte "Literaturdidaktik" (ebd.). Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat die Kompetenzorientierung die Frage nach dem Wissenserwerb zurückgedrängt.

Während sich die "Literaturwissenschaftsdidaktik", wenn sie als "klassische" Gattungsdidaktik auftritt, vor allem an den aus der Fachwissenschaft stammenden • Merkmalkatalogen orientiert und annimmt, dass damit Wesentliches zum Textverstehen beigetragen werde, setzt die "Literaturdidaktik" als genannte Prototypendidaktik (vgl. u. a. Spinner 2006, Köster 2015) an der Ganzheitlichkeit ästhetischer Erfahrung an. die bildliches Denken und das Finden von selbst generierten Ähnlichkeiten mit all ihren dabei auftretenden Unschärfen in den Mittelpunkt rückt.

Inzwischen sind die lange verhärteten Fronten zwischen beiden Ansätzen wohl wieder etwas durchlässiger geworden. In der schulischen Praxis dürfte heute ohnehin mit • Merkmallisten und -katalogen sehr • pragmatisch und flexibel umgegangen werden, so dass insbesondere einer normativen Gattungszuschreibung ein Riegel vorgeschoben ist.

Trotzdem darf es nicht verwundern, wenn auch ▪ normative Gattungskonzepte und der ▪ Umgang mit historischen Gattungen und systematischen Gattungsbegriffen aus literaturdidaktischen Gründen noch immer eine wichtige Rolle in der Schule spielen. Sie bestimmen nämlich den Diskurs im ▪ Handlungsfeld Literatur wesentlich mit, weil "ohne ihre Kenntnis eine souveräne Teilhabe daran kaum möglich ist. Nominalistische Definitionsversuche, wie man sie zuweilen in der Literaturwissenschaft antrifft, sind dafür aber nicht nötig." (Abraham/Kepser 22006, S.34)

Beide Ansätze haben jedenfalls in der schulischen Praxis im ▪ Handlungsfeld Literatur, in dem Schülerinnen und Schüler gewöhnlich einen anderen Umgang mit Literatur "erleben" als im privaten Umfeld, ihren Platz. Beide gehören  zum ▪ kompetenzorientierten Literaturunterricht, auch wenn dieser aus unterschiedlichen Gründen stärker zu den Prinzipien der klassischen Gattungsdidaktik zu tendieren scheint. Der Begriff der ▪ literarischen Kompetenz sperrt sich auch prinzipiell gegen einseitige Vereinnahmung.

Gattungswissen und Bildungsstandards

Die Bedeutung von Gattungswissen wird auch in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 18.10.2012) (BISTA-AHR-D 2012) herausgehoben. Im Kompetenzbereich Sich mit literarischen Texten auseinandersetzen wird betont, dass sich die Schülerinnen und Schüler literarische Texte "unter reflektierter Nutzung von fachlichem Wissen" » Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife, S.18) erschließen können. Weiter heißt es: "Sie verfügen über ein literaturgeschichtliches und poetologisches Überblickswissen, das Werke aller Gattungen umfasst, und stellen Zusammenhänge zwischen literarischer Tradition und Gegenwartsliteratur auch unter interkulturellen Gesichtspunkten her." (ebd.)

  • Auf dem • grundlegenden Niveau sollen sie "ihr Textverständnis argumentativ durch gattungspoetologische und literaturgeschichtliche Kenntnisse über die Literaturepochen von der Aufklärung bis zur Gegenwart stützen" (• Lit-3)

  • Auf dem • erhöhten Niveau sollen sie im Rahmen eines breiter gefächerten Wissens um verschiedene Kontexte, die für die Texte herangezogen werden können, "den besonderen poetischen Anspruch und die ästhetische Qualität literarischer Texte vor dem Hintergrund ihrer Kenntnisse in den Bereichen Poetologie und Ästhetik erläutern" (• Lit-12)

Um den Erwerb von Gattungswissen in einem kumulativen Lernprozess zu gewährleisten, ist in der Fachdidaktik auch ein Entwicklungsmodell präsentiert worden. Danach entwickelt sich das Gattungswissen von einer unreflektiert-restriktiven, über eine formalisiert-schemaorientierten hin zu einer flexibel-historischen Stufe, die aber von den meisten Schülerinnen und Schülern nicht erreicht wird. (vgl. Kämper-van den Boogaart 22008, S. 31)

Was dabei herauskommen kann, wenn Schülerinnen und Schüler auf der formalisiert-schemaorientierten Stufe stehen bleiben, sind z. B. im Zusammenhang mit der Interpretation von • Kurzgeschichten Formulierungen wie "Dies ist eine Kurzgeschichte, also [!] wird die Alltagswelt kritisch betrachtet. Als Kurzgeschichte hat auch diese Erzählung ein offenes Ende, das gibt mir, dem Leser, zu denken.« (ebd., S. 32) Solche Aussagen zeigen, dass "die vorschnelle Applikation von Wissen über eine Textsorte, Gattung, Epoche etc. auf einen Text in der Hoffnung, damit das Verstehen zu beschleunigen, (...) die Spezifika des einzelnen Textes häufig in den Hintergrund treten (lässt)." (Frederking/Wieser 2015, S.206)

Als Weg aus diesem Dilemma wird dabei auf die Notwendigkeit der Prozeduralisierung des Gattungswissens verwiesen, das im besten Fall das Gattungswissen unmittelbar für die eigenständige Interpretation verwendet. (vgl. Spinner 2022a, S.169)  Für die Gattung der Kurzgeschichte könnte das z. B. bedeuten, das Identifizieren bestimmter Textsortenmerkmale wie Aussparungen oder Andeutungen als eine von diesen Merkmalen ausgehende Aufforderung zu verstehen, die auf der Textebene dargestellte Alltagssituation in einen textexternen größeren Zusammenhang zu stellen. (vgl. Nickel-Bacon 2008, S. 74)

Spinner (2022a, S.181) schlägt im Vergleich zu den obigen Schüleräußerungen in gewisser Hinsicht  einen umgekehrten Weg vor. Statt die jeweilige Geschichte auf der Grundlage eines schematisierten Gattungswissens zu deuten, könnten Analyseaufgaben geeignete gattungstypologische Informationen, z.B. Definitionen, als Kontextmaterial beigefügt werden. Die Aufgabe bei dieser Kontextarbeit bestünde dann darin zu untersuchen, ob und inwieweit die Definition auch auf den konkreten Text zutrifft. Auf diese Weise wird das Gattungswissen Teil der • schulischen Kontextarbeit.

Der Vorzug dieses Verfahren ist, dass das als Kontextmaterial präsentierte Gattungswissen nicht von vornherein normativ und die eigene Interpretation steuernd genutzt wird, sondern in Bezug auf einen bestimmten Text wird seine Geltung erörtert. Natürlich werden auf diese Weise wieder • Merkmalkataloge ins Spiel gebracht.

Der Umgang mit Gattungswissen in Handlungsrollen des Handlungsfelds Literatur

Eine Möglichkeit mit der man Gattungswissen im Literaturunterricht nutzen kann, besteht darin, die jeweiligen Gattungen oder Textsorten in Beziehung zu denen zu setzen, die sonst im ▪ Handlungsfeld Literatur (vgl. Abraham/Kepser 42016, S.27, 36) üblich sind (vgl. Gansel/Gansel 2006, S.60).

Daraus entsteht die didaktische Aufgabe, entsprechende Angebote für Handlungs-, Schreibrollen oder sonstigen medialen Gestaltungsrollen als • Zugänge zu und einen Umgang mit Literatur anzubieten, in denen dieses Wissen kommunikativ von Bedeutung ist. Werden Aufgaben so gestaltet, dass sie für das Handlungs- bzw. Sozialsystem Literatur typisch sind, dann dann brechen sie, davon sind die beiden Autor*innen überzeugt, "einmal mehr einen 'musealen' Umgang mit Literatur auf, und holt sie ins 'wirkliche Leben' hinein." (ebd.)

Die Arbeit mit Gattungen und Textsorten im Literaturunterricht sollte daher "ihre Rolle in der Mediengesellschaft (...) prüfen und sie in Verbindung zu jenen Textsorten bzw. -formaten (...) setzen, die im Zusammenhang mit den Handlungsrollen des Literatursystems stehen (literarische Produktion, Distribution, Rezeption/Verarbeitung)." (ebd., S.62) Was das konkret bedeuten kann, haben sie am • Beispiel des Pop-Romans demonstriert.

Für den Umgang mit literarischen Textsorten und Gattungen in der Schule bedeutet dies indessen nicht, dass der ▪ hermeneutische Ansatz als besonderer "Verstehens- und Auslegungsprozess" und als "die theoretische Basis jeglicher Interpretation" und ihrer verschiedenen Zugänge und Umgangsweisen von Literatur (vgl. Becker/Hummel/Sander 22018, S.193) und die Analyse literarischer Texte mit ihren Strukturen hinfällig sind.

Allerdings verlieren das Gattungswissen als deklaratives Wissen und die Gattungen "ihren autonomen Status, indem eine Anschlusskommunikation zu den anderen Teilsystemen hergestellt wird" (Gansel/Gansel 2006, S.65). Auf diese Weise werden Verbindungen zu Texten bzw. Textsorten hergestellt, die wie z. B. Klappentext, Pressemitteilung, Rezension, Homepage, Kommentar, Werbetexte oder auch eine TV-Show "nicht zum 'Kern' des Literatursystems gehören, bisher in Verbindung mit 'Literatur' nur in Ausnahmefällen in die Arbeit einbezogen und unter dem Begriff »Sachtexte« subsummiert werden." (ebd., S.65)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 31.07.2024

 
 

 
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