Das literaturgeschichtliche Wissen gehört im •
Literaturunterricht zu den sehr
gebräuchlichen ▪
kognitiv-analytischen Zugänge zu
literarischen Texten. Da heute die Epochenzentrierung als didaktisch
überholt gilt, sprechen wir hier nicht mehr von literarischem (Epochen)Wissen,
wie dies noch
(2022a)
tut, sondern nur von literaturgeschichtlichem oder literarhistorischemn
Wissen.
Kognitiv-analytische Zugänge basieren
dabei auf verschiedenen mentalen Prozessen, mit denen literarische Texte in
ihrer ästhetischen
Gestalt untersucht, ihrer Wirkung beurteilt und in bestimmte Kontexte
eingeordnet werden können. Sie beruhen auf
deklarativem und
prozeduralen
Wissen, das in vorangegangen Lernprozessen erworben worden ist.
Im Gegensatz zu dem •
Wissen um die Gestaltungsmerkmale bzw. Konventionen von Texten bzw.
Medien steht mit dem literaturgeschichtlichen Wissen das •
Wissen um Entstehungs-, Produktions- sowie Rezeptionskontexte
im Mittelpunkt (vgl.
Frederking/Wieser
(2015, S.206f.), das in der Sekundarstufe II vermittelt
werden soll.
Mit diesem
deklarativen
Wissen kann ein Text in seinen literarhistorischen
Entstehungskontext eingeordnet werden und anhand von Kriterien
bestimmten Epochenbegriffen zugeordnet werden. Ähnlich wie beim ▪ Gattungswissen
besitzt ein Rezipient, der über Kenntnisse in •
Literaturgeschichte
allgemein und über • literarische
Epochen verfügt,
durchaus
Vorteile bei der •
Sinnkonstruktion
und bei der mentalen Repräsentation. Und dies ist auch hier unabhängig
davon, wie das literaturgeschichtliche Wissen
erworben worden
ist.
Allerdings
ist heute literaturdidaktisch unstrittig, dass ein reflektierter Umgang
mit literarhistorischen Wissensbeständen Epochenkonstrukten die
hegemoniale Deutungshoheit über literarhistorische Zusammenhänge
grundsätzlich absprechen muss. (vgl. Kepser/Abraham
42016, S.58)
Dazu kommt noch, dass die Fachwissenschaft
vielfach auch den •
Ordnungscharakter von Epochenbegriffen
zur
Beschreibung der literarischen Entwicklung aufgegeben oder zumindest grundlegend relativiert
hat.
Unter den Schlagworten "Random access" (Wellbery 2007,
S.21) und "Entdeckungschneisen" und "Erkundungsrouten" (Nutz
2002, S.7) sind, neben anderen, zwei Ansätze auf den Weg gebracht
worden, die in der Literaturdidaktik für größere Aufmerksamkeit gesorgt
haben.
Der •
Random-Access-Ansatz will dabei eine Spurensuche im Bereich der
Literaturgeschichte initiieren und zu bewusst "eine Geschichte (...)
erzählen (...) viele Geschichten" in Bezug zueinander setzen und
damit "unterschiedlichen Typen von Neugierde, voneinander abweichenden
Mustern Raum (...) geben" und "unterschiedliche – und oft dissonante –
Resonanzen vernehmbar (...) machen. (Wellbery 2007,
S.21). Dabei will sie den Leserinnen und Lesern das Setzen eigener Wegmarken
und Konfigurationen durch die Literaturgeschichte ermöglichen. (vgl.
ebd., S.24) Immer geht es eher darum zu erkunden, statt zu
katalogisieren.
Ein
didaktisches Konzept, das sich ganz bewusst nicht auf die traditionellen
Erzählungen
der
Literaturgeschichte stützt, hat Maximilian
Nutz (2002,
S.6) entwickelt.
Als • "»Erinnerungsarbeit"
auf der Grundlage von ausgewählten "Schneisen" und " Entdeckungsrouten" im Umgang mit der literarisch-kulturellen
Tradition soll in Formen des entdeckenden Lernens das •
kulturelle Gedächtnis aktiv
angeeignet" werden. Um zu
verhindern, dass die Schülerinnen und Schülern die
literaturgeschichtlichen Gegenstände nicht nur als "fern und fremd"
erführen, sondern dazu noch als "abgeschlossenes Bildungswissen, dessen
Konstruktcharakter sie sich nicht durchschauen und das sie sich zudem
nur reziptiv aneignen können", setzt das Konzept darauf, den "Umgang mit
der im kollektiven Gedächtnis bewahrten literarischen Tradition" (ebd.,
S.8) subjektiv bedeutsam zu machen.
Ab welcher Jahrgangsstufe literaturgeschichtliches Wissen erworben
werden soll, wird in den curricularen Vorgaben der Länder durchaus
unterschiedlich festgelegt. Manche fangen damit wie Bayern schon
in der 9. Klasse an. Hier sollen sich die Schülerinnen und Schüler mit
der Literatur des • Barock
(1600-1720) befassen, eine Jahrgangsstufe weiter mit der
Literatur
des Sturm und Dang (1760-1785) und der
▪
Aufklärung
(1720-1785) und der Literatur des
▪
Sturm und Dang
(1760-1785). In etlichen anderen Bundsländern erfolgt
dies deutlich später, mitunter auch ohne dass irgendwelche historischen
Schwerpunkte gesetzt werden (vgl.
Born/Kämper-van den Boogaart 32019, S.101f.).
Stets
ist die Vermittlung von literaturgeschichtlichem Wissen aber
an die prinzipielle Problematisierung des Epochenbegriffs selbst
gebunden. Dafür spricht auch, dass bis in die Abituraufsätze hinein
festzustellen ist, dass Schülerinnen und Schüler mit ihrem
deklarativen
Wissen über Epochen sehr schematisch umgehen und die gelernten
Epochenmerkmale "als fixe Schemata" nutzen, "die den Beschreibungs- und
Deutungsprozess top-down determinieren". (ebd.)
Ein Stück weit liegt dieser Schematismus allerdings auch in der
Natur der Sache: •
Top-down-Prozesse
der Verarbeitung gehören nämlich zu den mentalen Prozessen, die beim
▪
Lesen und der •
Sinnkonstruktion und der Bedeutungserzeugung im Umgang mit literarischen
Texten stattfinden und die •
Inferenzbildung bei literarischen Texten stützen. Allerdings
konkurrieren gerade auch im Bereich des Lesens verschiedene
•
globale Modelle
miteinander, die die Bedeutung von ▪
Top-Down- und
Bottom-up-Prozessen beim Textverstehen unterschiedlich
akzentuieren.
Dennoch muss man wohl den beschriebenen Tendenzen der "Übergeneralisierung"
(ebd.)
durch diese Art des Umgangs mit dem literaturgeschichtlichen Kontext
entgegenwirken, damit Schülerinnen und Schüler ihren Interpretationen
kein "schlagwortartiges Merkwissen [... ] aufpfropfen." (Spinner
2022a, S.175)
Besonders ungünstig scheint ein didaktisches Vorgehen zu sein, bei dem
"im Unterricht entsprechende Merkmale an einem paradigmatischen Text
vorgeführt und dann als epochale gelernt werden." (Born/Kämper-van
den Boogaart 32019, S.101f.)
In jedem Fall dürfte ein solches Vorgehen dazu führen, dass weitere
Lektüreprozesse "affirmativ zum Vorwissen angelegt" sind. Kann man die
gelernten Epochenmerkmale aus dem Gedächtnis abrufen, läuft man also
durchaus Gefahr, dass Texte beim Lesen nicht nur ausschließlich so
gelesen werden, wie es die Epochenmerkmale nahe legen, sondern auch die
• Sinnkonstruktion
(bei der Anreicherung der •
Textbasis zu einem •
Situationsmodell) ausschließlich darüber versucht wird, nach dem
Muster: "Was man über die Epochen gelernt hat, muß das von den Texten
eigentlich Gemeinte sein.« (Fingerhut
2006, S. 146)
Die
Bedeutung von literaturgeschichtlichem (Epochen-) Wissen wird auch in den
▪
Bildungsstandards im
Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (KMK
18.10.2012) (BISTA-AHR-D
2012) betont. Im
▪
Kompetenzbereich
▪
Sich mit literarischen
Texten auseinandersetzen wird eingefordert, dass sich die
Schülerinnen und Schüler literarische Texte • "unter reflektierter
Nutzung von fachlichem Wissen" (»Bildungsstandards
im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife,
S.18) erschließen können.
•
Weiter heißt es: "Die Schülerinnen
und Schüler
erschließen sich literarische Texte von der Aufklärung bis zur Gegenwart
und
verstehen das Ästhetische als eine spezifische Weise der Wahrnehmung,
der Gestaltung und der Erkenntnis. Sie verfügen über ein
literaturgeschichtliches und poetologisches Überblickswissen, das Werke
aller Gattungen umfasst, und
stellen Zusammenhänge zwischen literarischer Tradition und
Gegenwartsliteratur auch unter interkulturellen Gesichtspunkten her." (ebd.)
Wie
Born/Kämper-van den Boogaart (32019, S.92) darstellen,
wird damit normativ impliziert, dass die Lektüre von Werken "von der
Aufklärung bis zur Gegenwart" obligatorische Standards darstellen, die
mittelalterlichem frühneuzeitliche und die Barockliteratur aber
offensichtlich herausfallen sollen. Allerdings gehen auch hier die
Bundesländer durchaus getrennte Wege und überlassen es mit
entsprechenden Formulierungen (Can-Do-Sätzen) dem Schulcurriculum
oder der einzelnen Lehrkraft, ob sie auch die aus der Obligatorik
herausgenommenen Epochen zum Unterrichtsgegenstand machen wollen. Auch
das von den Bildungsstandards geforderte Überblickswissen bleibt im
Grunde sehr vage, da nicht eindeutig formuliert sei, ob das
erforderliche Wissen Ergebnis individueller Lektüreerfahrungen sein soll oder einen eher lexikalischen, deklarativen Charakter haben
soll, dessen mentale Repräsentationen bei Bedarf abgerufen werden
können. (vgl.
ebd., S.93).
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
31.07.2024