Turbulenzen auf einem
schwierigen Feld. Schulischer Literaturunterricht zwischen Hermeneutik
und Diskursanalyse
Gert Egle (2014)
Der schulische Literaturunterricht, so hat es Jürgen
Förster (2002,
S.232) formuliert, steht in einem Spannungsfeld von drei Welten, dessen eine
Welt sie selbst konstituiert: der Welt der Literatur, der Welt der
akademischen Literaturwissenschaft an den Universitäten und der schulischen
Welt, die Literatur zum Gegenstand unterrichtlicher Lehr-/Lernprozesse macht.
Ihre Beziehungen zueinander sind äußerst vielgestaltig, stehen aber, so
Förster weiter, oft in Konkurrenz zu einander und stoßen sich gegenseitig
(voneinander) ab. Während nämlich die Poesie in Frage stelle, "Gegensätze
zum Wissenskult" entwerfe, sich gegenüber Einordnungen sperre, gehen, so
etwas pointierter als in den Ausführungen Försters, vor allem Lehrerinnen
und Lehrer nicht gerade zimperlich mit Literatur um. So würden sie mit allen
in dem komplexen Feld in Erscheinung tretenden Akteuren Literatur "für ihr
Erziehungsgeschäft vereinnahmen und dies in Lehrplänen, Unterrichtshilfen
und Unterrichtseinheiten in Lesebüchern begründen." (ebd.)
Dabei ist das, was in der Schule mit Literatur "getrieben" wird, längst ins
Visier der akademischen Fachwissenschaft geraten und zur Zielscheibe
grundlegender Kritik geworden. So jedenfalls, monieren Vertreter des
universitären Wissenschaftsbetriebs, könne man Literatur auch im Unterricht
nicht mehr sachangemessen behandeln. Abgelehnt werde dabei "das
kulturtragende Bild der Literatur als Sinnangebot und sein theoretisches
Fundament, die Hermeneutik und deren Fixpunkte - Botschaft der Literatur,
Autorität des Autors, Wirklichkeitsbezug des Themas, Perspektive der
Darstellung - als kulturpolitische Mythenbildung oder Literaturlegende" (ebd.)
Dabei berufe sich die neuere Literaturwissenschaft auf nicht-hermeneutische
Konzepte, "die quer liegen zu den institutionenspezifischen
Lesartenproduktionen, sind diese nun werkerschließend, Kontexte
analysierend, interpretierend modelliert oder dialogisch als Kommunikation
zwischen Text und Leser, wie sie in der rezeptionspragmatischen Orientierung
zum Ausdruck kommen und in den unterschiedlichsten produktions- und
handlungsorientierten Konzepten eine spezifische Gestalt angenommen haben."
(ebd.)
Schweres Geschütz wird aufgefahren und entlässt Lehrkräfte, die sich
bemühen, Literatur für schulische Lehr- und Lernprozesse fruchtbar zu
machen, in "Turbulenzen" (ebd.),
aus denen sie, um im Bild solcher Erschütterungen zu bleiben, aber nicht wie
ein Flugzeug unbeschadet hindurchfliegen können. Selbst angeschnallt und
damit in der Hoffnung auf eine sichere Fixierung, erzeugen Turbulenzen
Ängste, weil sie aller wissenschaftlicher Erklärung zum Trotz, stets neu
aufkommen, besonders schlimm dann, wenn ein Flugzeug einem "Luftloch"
absackt. So ergeht es wohl auch einem großen Teil von Lehrkräften, denen
wegen der längst zerbrochenen Geschlossenheit der Literaturdidaktik früherer
Jahre und dem fortschreitenden fachwissenschaftlichen Diskurs und seiner
Moden Orientierung, und damit eben auch Halt, verlorengeht. Ein Blick auf
die Schulwirklichkeit offenbart darüber hinaus weitere Heterogenität, von
den Biografien der Lehrkräfte angefangen, über deren jeweils
unterschiedliche (wissenschaftliche) Sozialisation, ihr grundsätzliches
Verhältnis zur Literatur und ihren verschiedenen Genres bis hin zu
unterschiedlichen pädagogischen Konzepten. (vgl.
ebd., S.232) Wenn
dazu das, was wissenschaftlich und literaturdidaktisch umstritten ist, auf
den Nenner schulischen Umgangs mit Literatur gebracht werden soll, erzeugt
dies, davon ist auszugehen, zunächst einmal Verunsicherung und Angst mit dem
pragmatischen Ausweg, eben so "weiterzuwursteln", wie man es gelernt hat
oder gewohnt ist.
Dass sich hinter den neuen Entwicklungen, die Literatur stärker auf die
Bedingungen hin befragt, unter denen das Wissen darüber erzeugt wird, auch
neue Spielräume im schulischen Umgang mit Literatur eröffnen, die den
schulischen Literaturunterricht vom viel zu eng gewordenen Korsett der
hermeneutischen und werkimmanenten Interpretation befreien, tritt dabei
zunächst einmal in den Hintergrund.
Damit Lehrkräfte diese "Heterogenität"
wirklich "als eine Chance" begreifen können, wie
Förster (2002,
S.233) meint, muss sich sicher sehr viel ändern. Dazu gehört sicherlich, den
Anspruch des Leitmusters hermeneutischer Praxis zurückzuweisen, den in einem
literarischen Text vermeintlich manifestierten, intendierten Sinn im
Bezugsfeld von Autor, Werk und Leser tatsächlich ermitteln zu können, Ihr
Ziel, das in einem poetischen Text Enthaltene, aber nicht explizit
Ausgesprochene aussprechen zu können, entspricht zudem einem Weltbild, das
zwischen den Polen Autor, Werk und Leser "die Vorstellung einer sinnvollen
Ordnung" (ebd,
S.237), die in einer multipolaren, in unterschiedlichster Weise miteinander
vernetzten und globaler Sinnhaftigkeit entbehrenden Welt eigentlich keinen
Platz hat.
Unter diesem Blickwinkel werden auch die "Spielräume" klarer, von denen
schon die Rede war, wenn Literatur nicht mehr zur Sinnstiftung herhalten
muss. Wenn unter postrukturalistischer Perspektive "Texte keine Bedeutung
von »innen« (haben), sondern lediglich aufgrund konventioneller Regelungen
in bestimmten historischen und sozialen Kontexten" (ebd.,
S.240), dann wird der Umgang mit literarischen Texten auch von der Aufgabe
befreit, die Textbedeutung im Wesen des Textes selbst zu suchen. Stattdessen
wird in poststrukturalistischen Ansätzen der Blick darauf gerichtet, wie und
unter welchen Bedingungen die Zuschreibungen zustande kommen, die einem Text
im Laufe seiner Produktions- und Rezeptionsgeschichte widerfahren.
Damit
wird, so stellen
Köppe/Winko (2008, S.98) heraus, auch die "Möglichkeit der
Rekonstruktion einer stabilen Bedeutung verneint." Das ist also der Wind aus
der Fachwissenschaft, der herkömmlicher Praxis des Literaturunterrichts
mitten ins Gesicht bläst, wenn gegen einen Erkenntnisbegriff Front gemacht
wird, "der vor allem im interpretationsleitenden Konzept der Autorintention
verortet wird." (ebd.)
Und wer will, kann spüren, dass dieser Wind aus allen Richtungen immer
wieder die gleiche Botschaft bläst: "Die Suche nach dem Sinn oder der
Bedeutung »hinter« den Texten" ist, so die These, "ein uneinlösbares
Unterfangen [...], das die Literatur in prinzipieller Weise, moderne
Literatur aber auch in historischer Hinsicht verfehlt" (ebd.)
Die moderne Literatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts jedenfalls sperre
sich mehr oder weniger erfolgreich gegen diese Art von Sinnsuche und
entlarve damit auch das gängige "Objektivitätsideal", mit seiner "Fixierung
auf Rationalität und Wahrheit" als "»Machtstrategien«".
Wenn Texte also
"nicht als eigenständige, Bedeutung tragende Größen" angesehen werden können
(ebd.,
S.102), kann auch die schulische Literaturarbeit nicht mehr, jedenfalls
nicht mit der bisher geübten Dominanz, nach einer "substanziierbaren
Sinnhaftigkeit" (Förster
2002, S.245) im Text Ausschau halten, sondern sollte sich den
"literarischen Gegenständen in ihrer sprachlichen, rhetorischen,
diskursiven, im engeren Sinne ihrer poetischen und ästhetischen
Verfasstheit" (ebd.)
nähern und sich dabei dafür interessieren, wie "kulturell geprägte
Denkmuster, Verhaltensweise, soziale Praktiken und deren institutionelle
Verankerung [...] an der Konstitution von »Sinn« beteiligt sind". (ebd.,
S.245)
Die »Diskursanalyse
»Michel Foucaults
(1926-1984) hat diesen postrukturalistischen Denkansatz begründet. Dabei
steht der Diskursbegriff im Zentrum, den Foucalt in seinen Schriften selbst
freilich "bewusst uneinheitlich verwendet hat"
Köppe/Winko
(2008, S.99), indem er "eine weite, unklare und eine engere,
wissensoziologische Begriffsverwendung" (ebd.)
vorgab.
Titzmann
(1991, S.406, zit. n.
ebd.,
S.101) hat als kleinsten gemeinsamen Nenner für den mittlerweile inflationär
verwendeten Begriff "Diskurs" folgende Definition formuliert, die wir hier
in der Fassung von
Köppe/Winko
(2008, S.101) wiedergeben: "Unter »Diskurs« wird ein »System des Denkens
und Argumentierens« verstanden, das durch einen gemeinsamen
»Redegegenstand«, durch »Regularitäten der Rede« und durch »Relationen zu
anderen Diskursen« bestimmt ist." Daraus folgt, so
Köppe/Winko
(2008, S.101), dass Diskurse "also keine Einzeltexte oder Textgruppen
(sind), sondern Komplexe, die sich aus Aussagen und den Bedingungen und
Regeln ihrer Produktion und Rezeption in einem bestimmten Zeitraum
zusammensetzen." Ob ein Text zu einem Diskurs gehört oder nicht, hängt dabei
davon ab, ob er die Regeln des Diskurses befolgt und "zum spezifischen Thema
des Diskurses Wissenselemente" beiträgt. (Baasner
2005, S,137)
Diskursanalytisch gesehen sind Texte "»Knotenpunkte« im Netz
verschiedener Diskurse" (Köppe/Winko
(2008, S.102), die keine festen Grenzen haben und nicht auf eine
außertextliche Wirklichkeit verweisen, "sondern auf Sprache, mithin auf
andere Texte und Diskurse" (ebd.),
die allein den (intertextuellen) Kontext darstellen, den die
Diskursanalyse berücksichtigt. Literarische Texte haben in einem Diskurs
"nichts spezifisch Literarisches, sondern sind beliebige Texte, die sich
einem Thema widmen." (Baasner
2005, S.143)
Entsprechend geht es bei der Diskursanalyse auch nicht
darum, quasi über die Hintertüre "durch Einbettung in einen geeigneten
Kontext »die Bedeutung« eines Textes interpretativ zu erschließen." (Köppe/Winko
2008, S.104) Stattdessen ordnet die literaturwissenschaftliche
Diskursanalyse "die Inhalte literarischer Texte in thematisch verbundene
Kontexte ein und bestimmt so ihre Abhängigkeit oder ihre Abgrenzung von
vorhandenen Diskursen". (Baasner
2005, S.146)
Indem Texte bzw. "Textpassagen durch die Identifikation relevanter Diskurse
in einen erhellenden historischen Bezug gestellt werden und Verbindungen
aufgezeigt, die zwischen Figuren, Bildern oder Handlungselementen in einem
oder mehreren literarischen Texten und zeitgenössischen diskursiven
Einheiten bestehen" (ebd.),
lässt sich "z. B. die Abhängigkeit der literarischen Texte von bestimmten
zeitgenössischen Diskursen belegen." (ebd.)
Pädagogisch legitimiert erscheint der diskursanalytische Umgang mit
Literatur dabei allemal, wenn man einem Literarunterricht, der sich daran
orientiert, die Potenz zuschreibt, auf diesem Weg Schülerinnen und Schüler
dazu zu befähigen, "die prinzipielle Relativität eigener oder fremder
Sinnzuweisungen auf ihre Grundlagen hin zu durchschauen." (Förster
2002, S.245)
Dass die Diskursanalyse naturgemäß, wie bei den
hermeneutischen Verfahren eben auch, nicht den "Normalleser" im Blick hat,
sondern "mit wenigen Ausnahmen allein die dezidiert theoriegeleitete rezipierenden, professionellen Leser, meist aus dem akademischen Umfeld" (Köppe/Winko
(2008, S.104), macht die Sache für die (schulische) Literaturdidaktik
auch nicht unbedingt einfacher, wenngleich es auch für den
Literaturunterricht in der Schule brauchbare Modelle postrukturaler
Lektürepraxis gibt, die "quer zum hermeneutischen Einsammeln von Sinn
(stehen)" (Förster
2002, S.241)
Ob, und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt der eingangs
geschilderten Turbulenzen mit ihren Folgen für Lehrkräfte und Schüler
angelangt, sich Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik letzten Endes
aber wirklich "auf ein Diskursmodell einlassen muss", das auf der Annahme
beruht, "dass Literatur nur eine Wissensmenge ist" (Baasner
2005, S,137), kann hier jedenfalls nicht beantwortet werden.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
24.07.2024