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Jean-Jaques Rousseau: Die beste Abhandlung über die natürliche Erziehung

Robinsonmotiv/Robinsonade

 
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[289] Ein und derselbe Naturtrieb belebt die verschiedenen Fähigkeiten des Menschen. Der Tätigkeit des Körpers, welcher sich zu entwickeln bemüht ist, reiht sich jetzt die Tätigkeit des Geistes an, der sich zu unterrichten sucht. Anfangs sind die Kinder nur in fortwährender Bewegung, sodann werden sie neugierig, und diese Neugierde ist, sobald sie gut geleitet wird, die Triebfeder in dem Alter, bei dem wir jetzt angelangt sind. Laßt uns nur stets die der Natur entspringenden Neigung von denen, die in Vorurteilen ihre Quelle haben, unterscheiden. Es gibt eine Wißbegierde, die sich nur auf den Wunsch gründet, für gelehrt zu gelten; es gibt indes auch eine andere, die aus einer dem Menschen angebornen Neugierde entsteht und sich über alles, was ihn nah oder fern interessieren kann, erstreckt. Die angeborene Sehnsucht nach Wohlsein und die Unmöglichkeit, dieselbe völlig zu befriedigen, treiben den Menschen an, unaufhörlich neue Mittel zur Stillung derselben aufzusuchen. Dies ist das erste Prinzip der Mißbegierde, ein dem menschlichen Herzen natürliches Prinzip, dessen Entwicklung indes mit der Entfaltung unserer Leidenschaften und unserer Einsichten stets gleichen Schritt hält. Stellt euch einen Philosophen vor, der mit seinen Instrumenten und Büchern auf eine wüste Insel verbannt ist und mit Sicherheit weiß, daß er daselbst den Rest seiner Tage einsam zubringen muß. Er wird sich schwerlich noch um das Weltsystem, um die Gesetze der Anziehungskraft, oder um die Differenzialrechnung kümmern. Vielleicht wird er in seinem ganzen Leben kein einziges Buch wieder aufschlagen; aber nie wird er es unterlassen, seine Insel auch bis auf den letzten Winkel zu durchsuchen, wie groß sie auch immer sein möge. Laßt uns deshalb von unserem ersten Unterricht solche Kenntnisse fernhalten, an denen der Mensch von Natur kein Interesse findet, und uns auf diejenigen beschränken, deren Aneignung uns der Naturtrieb wünschenswerth macht.

[327] Ich hasse die Bücher; sie lehren uns nur über Dinge reden, die man nicht versteht. Es wird erzählt, daß Hermes die Elemente der Wissenschaft auf Säulen eingegraben habe, um seine Entdeckungen vor einer neuen Sintflut zu schützen. Wenn er sie jedoch den Köpfen der Menschen richtig eingeprägt hätte, so würden sie sich durch mündliche Überlieferung erhalten haben. Gut vorbereitete Gehirne bilden die Monumente, auf welchen sich die menschlichen Kenntnisse am sichersten eingraben lassen.

Sollte denn kein Mittel vorhanden sein, die große Anzahl der in so vielen Büchern zerstreuten Lehren zusammenzustellen und so zu vereinen, daß sie einem gemeinsamen Zweck dienen, der leicht kenntlich und interessant zu verfolgen wäre und selbst dieses Alter anzuspornen vermöchte? Könnte man eine Lage ausfindig machen, in welcher alle natürlichen Bedürfnisse des Menschen in einer auch dem Geist eines Kindes wahrnehmbaren Weise klar hervorträten, und in welcher sich gleichzeitig die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse nach und nach mit derselben Leichtigkeit entwickelten, so müßte man an einer lebendigen und ungekünstelten Schilderung dieses Zustandes, seine Einbildungskraft gleich zuerst zu üben suchen.
Feuriger Philosoph, ich sehe schon, wie die deinige sich entzündet. Doch gib dir keine vergebliche Mühe! Diese Lage ist schon gefunden, sie ist geschildert und, ohne dir unrecht zu tun, weit besser, als du selbst sie würdest zu schildern vermögen, wenigstens, mit mehr Wahrheit und Einfachheit. Müssen wir denn durchaus einmal Bücher [328] haben, nun, so gibt es eins, welches uns meinem Erachten nach die vorzüglichste Abhandlung über naturgemäße Erziehung an die Hand gibt. Dieses Buch soll mein Emil zuerst lesen; allein soll es lange Zeit hindurch seine ganze Bibliothek und stets einen hervorragenden Platz in derselben behalten. Es wird der Text sein, welchem alle unsere Unterhaltungen über naturwissenschaftliche Stoffe nur als Kommentar dienen sollen. Es wird bei unseren Fortschritten den Prüfstein unserer Urteilskraft abgeben und, solange unser Geschmack nicht verstorben ist, wird uns seine Lektüre beständig Unterhaltung gewähren. Und wie heißt nun dieses Wunder von Buch? Ist es Aristoteles? Ist es Plinius? Ist es Buffon? Nein, es ist Robinson Crusoe.

Robinson Crusoe, auf seiner Insel, allein, des Beistandes seiner Mitmenschen beraubt, von allen künstlichen Werkzeugen und Hilfsmitteln entblößt, und trotzdem für seinen Unterhalt und seine Erhaltung sorgend, ja, sich sogar eine Art Wohlbefinden verschaffend: das ist sicherlich ein Gegenstand, der jedem Alter Interesse einflößen muß und den man den Kindern durch tausenderlei Mittel anziehend machen kann. Hier finden wir die wüste Insel, auf die ich anfangs nur gleichnisweise hinwies, verwirklicht. Dieser Zustand ist, wie ich gern einräume, freilich nicht der des gesellschaftlichen Menschen und wird wahr scheinlich nicht der Zustand Emils werden, aber er soll ihm als Maßstab zur Beurteilung aller übrigen dienen. Das sicherste Mittel, sich über Vorurteile zu Erheben und sein Urteil von den wahren Verhältnissen der Dinge leiten zu lassen, besteht darin, daß man sich an die Stelle eines völlig auf sich allein angewiesenen Menschen versetzt und über alles so urteilt , wie dieser Mensch mit Rücksicht auf seinen eigenen Nutzen selbst darüber urteilen muß.

Dieser Roman, von allen nebensächlichen Zutaten befreit, mit Robinsons Schiffbruch in der nähe seiner Insel beginnend und mit der Ankunft des Schiffes, welches zu [329] seiner Rettung erscheint, schließend, wird Emil während des ganzen Zeitabschnittes, von welchem hier die Rede ist, zugleich Unterhaltung wie Belehrung verschaffen. Ich will, daß ihm der Kopf darüber schwindle, daß er sich unaufhörlich mit seinem Schloß, seinen Ziegen und Pflanzungen beschäftige; daß er nicht aus Büchern, sondern an den Dingen selbst, alles, was man in einem ähnlichen Fall wissen muß, bis ins einzelne lerne; daß er sich selbst für einen zweiten Robinson halte, daß er sich in Felle gekleidet, mit einer großen Mütze auf dem Kopf, einem furchtbaren Säbel an der Seite, kurz in dem ganzen grotesken Aufzug der Figur erblicke, nur den Sonnenschirm ausgenommen, dessen er nicht bedürfen wird. Ich will, daß er sich über die Maßregeln, die etwa er griffen werden könnten, wenn sich dieser oder jener Mangel bei ihm einstellte, beunruhige, daß er das Verfahren seines Helden prüfe und untersuche, ob derselbe nichts unterlassen habe und ob er nichts hätte besser machen können; daß er seine Fehler genau bemerke und sich dieselben zunutze mache, damit er in einer ähnlichen Lage nicht auch in dieselben verfalle; denn unzweifelhaft wird er sich mit dem Gedanken tragen, einst eine ähnliche Niederlassung zu gründen. Das ist das einzige richtige Luftschloß in diesem glücklichen Alter, in welchem man kein anderes Glück kennt Erlangung des durchaus Notwendigen und die Freiheit.

Was für eine Hilfsquelle eröffnet diese törichte Leidenschaft doch einem geschickten Manne, der es verstanden hat, sie nur hervorzurufen, um Nutzen aus ihr zu ziehen! Das Kind, voller Begierde, sich ein Magazin für seine Insel anzulegen, wird beim Lernen größeren Eifer entfalten als der Lehrer beim Unterrichten. Es wird alles, was nützlich ist, wissen wollen, aber auch nur dies wissen wollen. Ihr werdet jetzt nicht mehr nötig haben, es anzuleiten, sondern werdet es vielmehr beständig zurückhalten müssen. Laßt uns übrigens Eile anwenden, es auf dieser Insel einzurichten, solange [330] sich sein Glück noch darauf beschränkt, denn schon naht der Tag, wo es, wenn es überhaupt dort noch leben will, doch nicht allein wird auf ihr leben wollen, und wo Freitag, welcher ihm jetzt noch kein großes Interesse einflößt, ihm nicht mehr lange genügen wird.

(aus: Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Band 1, Leipzig [o.J.], S. 7.
Erstdruck: Den Haag [recte Paris] 1762. Erste deutsche Übersetzung von einem Anonymus: Berlin u.a. 1762. Der Text folgt der Übersetzung durch Hermann Denhardt; zeno.org)

Campe, Robinson der Jüngere im Projekt Gutenberg

Baustein: Strukturierte Texterfassung als Vorarbeit für die Textwiedergabe

 Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 26.12.2023

    
   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie heraus, worin Rousseau (1712-1778) den pädagogischen Wert der Robinson Geschichte sieht.

  2. Welche Grenzen und Möglichkeiten sehen Sie heute für ein derartiges Modell der "natürlichen" Erziehung?

 
 
 

 
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