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Vernunftorientierte Argumentation

Überblick

Argumentieren

 
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Plausible Muster der Alltagsargumentation (Kienpointner 1996)

Modelle der kritischen Argumentation und Diskussion
Überblick
Idealmodell der vernünftigen Argumentation (Habermas)
Regeln für vernünftiges Argumentieren

Im Alltagsleben geben wir eigentlich immer wieder unsere Meinung kund.

Wir positionieren uns, sagt man heute oft und meint damit,

  • dass wir Stellung dazu nehmen, ob uns etwas passt oder nicht passt,

  • dass wir uns für das eine oder andere aussprechen,

  • dass wir Entscheidungen begründen oder

  • dass wir uns uns schlicht mit jemandem über einen bestimmten Sachverhalt streiten

Wir positionieren uns, indem wir uns mit Argumenten auf etwas beziehen, was ist, oder auf etwas, was sein soll.

Allerdings vertrauen wir, wenn wir uns über etwas Strittiges mit anderen auseinandersetzen, keineswegs ausschließlich auf die Kraft  des besseren Argumentes, um andere von unserer Position zu überzeugen oder uns von der Position eines anderen überzeugen zu lassen.

Häufig sind gehen wir nämlich mit einer ausgesprochen hohen Voreingenommenheit (bias) in solche Auseinandersetzungen, deren Ursachen und Wirkungsweise uns überhaupt nicht bewusst ist. Dabei hat das sogenannte "Meine-Seite-Denken" (Myside Bias), das der Psychologe »Keith E. Stanovich und andere untersucht haben, eine unglaublich große Bedeutung für die Art und Weise, wie wir Informationen verarbeiten. Wir neigen nämlich, wenn wir etwas wahrnehmen, uns an etwas erinnern, denken oder urteilen mal mehr, mal weniger zu »kognitiven Verzerrungen unterschiedlicher Art. Einige der von der Psychologie untersuchten kognitiven Verzerrrungen erscheinen uns ▪ beim Argumentieren als besonders relevant.

In jedem Fall ist es wohl so, dass die Existenz von Vorurteilen bzw. die Voreingenommenheit, mit der Menschen Informationen verarbeiten, ganz unabhängig vom Bildungsniveau, von Intelligenz und geistigem Horizont (level of actively open-minded thinking) ist. (vgl. Stanovich, The Bias that divides us

 

Im Alltag etwas Selbstverständliches

Was so selbstverständlich zu unserer alltäglichen Kommunikation gehört, muss, so kommt es vielen vor, eigentlich nicht gelernt werden. Natürlich ist uns dabei schon mehr oder weniger bewusst, dass die Art und Weise, wie wir argumentieren, irgendwoher kommt.

Und in der Tat: Selbst heranwachsende Kinder bauen schon vorschulisch ▪ Grundkompetenzen beim Argumentieren auf: Sie stellen auf der Grundlage ihrer erworbenen Werte- und Normenkenntnis, ihres Weltwissens und Argumentationsstrukturwissens sowie der "Fundorte für mögliche Argumente" (Topik) einfache argumentative Begründungs- und Rechtfertigungszusammenhänge her. So verweist Feilke (2010a, S.155f.) u. a. auf eine Studie von Völzing (1981) zum vorschulischen Argumentationserwerb zwei- bis vierjähriger Kinder, die zeigte, dass "anders als in der ▪ Entwicklungspsychologie – etwa bei Piaget – gedacht, (...) Kinder schon früh in der Lage (sind), eigene strittige Handlungen zu rechtfertigen, Gründe für Behauptungen anzugeben und anderes mehr", ja "schon Vierjährige bemühen ohne Probleme Oma und Opa für ▪ Autoritätsargumente gegenüber den Eltern und auch darüber hinaus steht ihnen ohne spezielle Förderung das Feld der Topoi zu Gebote." (ebd., Hervorh. d. Verf.)

So nehmen wir an, dass wir uns im Laufe der Zeit eben eine Meinung zu einer Sache gebildet haben, Erfahrungen gemacht haben, die wir dann in Auseinandersetzungen mit anderen über einen Sachverhalt oder ein Problem einbringen. Was wir genau tun, wenn wir in dieser Art und Weise also argumentieren, machen wir uns gewöhnlich nicht viele Gedanken.

Wenn wir uns positionieren, vertrauen wir darauf, dass das, was in unserem sozialen Umfeld als plausibel gilt, uns dabei hilft, den eigenen Standpunkt zu vertreten und gegebenenfalls auch bei Widerspruch zu behaupten. Dabei wissen wir aus Erfahrung, dass es uns trotz der schlagkräftigen Argumente, die wir vorbringen, nicht immer gelingt, einen anderen von unserem Standpunkt zu überzeugen. Ob und wie wir damit umgehen können, dass unsere Argumente nicht durchdringen, ist dabei eine Sache, die zwar auf einem anderen Blatt steht, aber zum Argumentieren auch dazugehört. Vielleicht empfinden wir es sogar als eine Kränkung, wenn man uns offenkundig "nicht richtig zuhört" und ziehen daraus den Schluss, dies dem anderen als Vorwurf entgegenzuhalten. Argumentieren ist auch unserem Alltagsverständnis nach eine komplexe Angelegenheit, die gedankliche, sprachliche, soziale und emotionale Aspekte hat.

Wenn man im Alltag ▪ plausibel argumentieren will, kann man auf unterschiedliche ▪ Argumentationsmuster zurückgreifen, die in der Gesellschaft allgemein oder in einer bestimmten sozialen Gruppe gewöhnlich akzeptiert werden. Wir tun dies dabei meist intuitiv und machen uns wenig Gedanken darüber, ob die Argumentation, die wir vortragen, insgesamt schlüssig ist. Ziel des ▪ partnerschaftlichen Argumentierens ist, etwas salopp ausgedrückt, dass der der jeweilige Partner (Adressat, Publikum) die vorgebrachten Argumente akzeptiert und am Ende "glaubt". (vgl. Kolmer / Rob-Santer 2002, S.148).  

Und doch kann man auch das Argumentieren im Alltag an bestimmten Regeln orientieren, wenn man vernunftorientiert, d. h. rational argumentieren und mit seinen Argumenten in der Kommunikation überzeugen will. Nach Manfred Kienpointner (1996, S.23) "(versuchen) die Sprecher A und B (...) einander rational zu überzeugen, wenn sie Argumente unter den jeweils gegebenen realen Bedingungen in bestmöglicher Weise gebrauchen, um eine Einigung in beiderseitigem Interesse herbeizuführen. Zumindest sollen sie aber einen ausgewogenen Interessenausgleich anstreben."

Generell können ▪ zehn Regeln für das rationale Argumentieren aufgestellt werden, die auf Eemeren/Grootendorst (1992) zurückgehen. Sie verdeutlichen, auf welche Art und Weise ▪ Geltungsansprüche beim Argumentieren ▪ einlösbar formuliert und auf ihre Gültigkeit überprüft werden können.

Um Alltagsargumentationen nicht mit unrealistischen Anforderungen zu überfrachten, schlägt Manfred Kienpointner (1996, S.21) einen Mittelweg vor, den er in einem ▪ 7-Punkte-Programm für vernünftiges Argumentieren im Alltag niederlegt hat.

  1. Orientierung an gemeinsamem Alltagswissen statt spezielles Fachwissen

  2. Keine (explizite) Offenlegung sämtlicher Voraussetzungen der eigenen Argumentation

  3. Orientierung an einer überparteilichen Ausdrucksweise

  4. Belebung durch emotionale Färbung

  5. Fruchtbarer Austausch auch bei ungleich verteilten Rollen

  6. Bestmögliches Ergebnis in einer vorgegebenen Zeit

  7. Klarheit über die Ursachen der weiteren Uneinigkeit

Ein anderes Modell haben Groeben/Christmann (1999, S.48, Hervorh. d. Verf) mit ihren elf "Standards der Argumentationsintegrität" entwickelt, die für ein partnerschaftliches Argumentieren unerlässlich sind. Eine integre Argumentation kann dabei auf verschiedene Art und Weise gestört bzw. unterbunden werden. Dazu zählen

  1. Stringenzverletzung

  2. Begründungsverweigerung

  3. Wahrheitsvorspiegelung

  4. Verantwortlichkeitsverschiebung

  5. Konsistenzvorspiegelung

  6. Sinnentstellung

  7. Unerfüllbarkeit

  8. Diskreditieren

  9. Feindlichkeit

  10. Beteiligungsbehinderung

  11. Abbruch

Nichtpartnerschaftliches Argumentieren, das auf solchen Verletzungen der Argumentationsintegrität beruht, verwendet gewöhnlich ▪ eristische Argumentationstechniken, die die argumentative Auseinandersetzung im Sinne einer reinen "Effizienzrhetorik" (Kienpointner 2005, S.11) an einem ▪ Sieg-Niederlage-Modell orientiert und im Rückgriff auf unterschiedliche Techniken aus dem ▪ rhetorischen Giftschrank (Weidenmann 1975, S.89) verschiedene Formen ▪ unfairen Argumentierens praktiziert.

Über die Alltagsargumentation hinaus: An öffentlichen Diskursen teilhaben

Argumentieren kann aber auch in einem anderen Kontext als den oben beschriebenen Alltagssituationen betrachtet werden.

Dann geht es z. B. darum, welche Bedeutung das Argumentieren für die Teilhabe an wichtigen politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Entwicklungen besitzt. Damit ist freilich nicht gemeint, einfach im Internet "Meinung abzusondern", sondern sich an einer weitgehend vernunftorientierten Auseinandersetzung über kontroverse Fragen zu beteiligen.

Wer zu argumentieren versteht, so die Annahme, kann, entsprechendes Wissen und andere Faktoren vorausgesetzt, Diskurse verfolgen und sich unter Umständen aktiv daran beteiligen. Ohne Argumentation keine Teilhabe, so könnte man das Ganze zuspitzen.

Wer argumentiert,

  • ist in der Lage, notwendige Kritik an unseren "schnellen, aber irrtums- und verführungsanfälligen Intuitionen" zu leisten

  • kann mit Argumenten sein eigenes Weltbild konstruieren, Zusammenhänge erklären und Voraussagen treffen, sowie das eigene Wissen dadurch erweitern, dass bestimmte Hypothesen widerlegt werden

  • kann sich "angesichts der unvermeidlichen Unsicherheit und Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis" einen kritischen Standpunkt bewahren

  • kann mit seiner Kritik u. U. bestimmte Irrtümer und Vorurteile aufbrechen

  • setzt sich in Konflikten relativ friedlich mit anderen Meinungen auseinander

  • lernt sich in andere Vorstellungen einzufühlen und "fremde Positionen nicht einfach als fremd und böswillig abzulehnen, sondern ihre Begründungen nachzuvollziehen.“ (Klaus Bayer 1999, S.65f.)

Wie können möglichst alle Menschen ihre Argumente in öffentliche Diskurse einbringen?

Darüber, welche individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, dass möglichst alle Menschen ihre Argumente in die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Diskurse einbringen können, gibt es keine einhellige Meinung. Und auch über die dabei verfolgten Argumentationsziele gehen die Meinungen auseinander.

In seinem Idealmodell kritischer Argumentation setzt er den Akzent darauf, dass nur eine Kommunikation, die auf freiwillige, gewaltlose, gleichberechtigte und vernünftige Konsensherstellung zielt, letzten Endes auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit die Vergesellschaftung der Individuen ermöglicht.

Die Kritik am herrschaftsfreien Diskurs und seinen Kriterien betont hingegen, dass dieses Idealmodell "in jeder Hinsicht utopische Anforderungen an Sachwissen, Logikkenntnisse, Selbstkontrolle, Selbsterkenntnis und Durchhaltevermögen der Diskussionsteilnehmer" stelle und "außerdem herrschaftsfreie gesellschaftliche Institutionen" (Kienpointner 1996, S. 20) voraussetze, die es in der Realität nicht gibt.

Ferner wird auch hervorgehoben, dass Argumentation immer auch Machtausübung darstelle, weil sie auf den unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Weltbildern der Menschen beruhe. Denn: "Wer argumentiert, der tritt nicht nur für seine Ansichten in der gerade aktuellen Diskussion ein, sondern für das Weltbild, das ihm selbst nützt“ (Klaus Bayer 1999, S.65f.). Daraus ergibt sich nach Bayer der Schluss: "Wer argumentiert, übt Macht aus; [...] Eine gänzlich herrschaftsfreie Interaktion zwischen Menschen als evolutionär entstandenen und deshalb unvermeidlich miteinander konkurrierenden Lebewesen ist allerdings gar nicht denkbar." (ebd., S.67)

  • Weder die gutgemeinten Vorschläge und Modelle, mit denen eine rationale Argumentation geführt werden sollte, noch das utopische Modell der kritischen Argumentation können allerdings darüber hinwegtäuschen, "dass in realen öffentlichen Diskursen in den zeitgenössischen Industriegesellschaften mit kapitalistischer Orientierung die [...] Effizienzrhetorik dominiert, die einseitig am Erfolg ausgerichtet ist." (Kienpointner 2005, S.13) Das hat zur Folge, dass "die psychologischen Dispositionen und Charakterzüge von Personen, die in einer an Konkurrenz und Durchsetzung eigener Interessen orientierten Gesellschaft aufgewachsen sind" (ebd.) ebenso wie die "gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen von argumentativen Texten" (ebd.) einer rationalen, auf die Klärung "strittige(r), konkurrentielle(r) Wissenselemente durch verbale Interaktion" (Ehlich, Konrad (1993/42010 S.53) zielenden Argumentation, die auf wechselseitiges Überzeugen hin angelegt ist, entgegenstehen.

  • Auch der Politolinguist Josef Klein hält, zumindest was das Argumentieren im öffentlichen Raum angeht, wenig von einer Position, "die  Argumentieren als ausschließlich konsensorientiert verstehen will." (Klein 2017, S.36) Für ihn ist "ein Verfahren, strittige Positionen durch Rückgriff auf kausale bzw. konklusive Beziehungen sprachlich zu stützen oder anzugreifen und Streit auf diese Weise friedlich auszutragen – gelegentlich mit dem Ergebnis, einen Konsens zu finden, nicht selten aber mit dem Ergebnis, dass der Dissens bleibt oder dass der Streit sogar eskaliert."

Plausible Muster der Alltagsargumentation (Kienpointner 1996)

Modelle der kritischen Argumentation und Diskussion
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Idealmodell der vernünftigen Argumentation (Habermas)
Regeln für vernünftiges Argumentieren

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 17.12.2023

   
   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie heraus: Worin bestehen die Unterschiede zwischen dem Alltagsverständnis von Argumentieren und seiner philosophischen bzw. soziologischen Betrachtung.

  2. Erläutern Sie: Inwiefern ist Argumentation stets Machtausübung?

  3. Diskutieren Sie die Frage: Ist der Mensch von Natur aus ungeeignet für einen herrschaftsfreien Diskurs?

 
  
 

 
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