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Meine-Seite-Denken (Myside-Bias)

Überblick

Vernunftorientierte Argumentation

 
FAChbereich Deutsch
Glossar RhetorikGeschichteBegriff und TheorieRhetorische Mittel Argumentieren ▪ Didaktische und methodische Aspekte Überblick V
ernunftorientierte ArgumentationÜberblick [ Meine-Seite-Denken (Myside-Bias) Überblick ◄ ▪ Kognitive Verzerrungen Merkmale des Meine-Seite-Denkens Meine Seite-Denken beim Argumentieren Der Myside-Bias der kognitiven ElitenStrategien gegen das Meine-Seite-Denken ] Definitionen und LexikoneinträgeMündliches und schriftliches Argumentieren Partnerorientierung Geltungsansprüche Argumentationsmodelle Typen von Argumentationen Argumentationsstrategien Analyse von Alltagsargumentationen Probleme beim ArgumentierenTextordnungsmuster Häufig gestellte Fragen Bausteine   DiskutierenRede Kommunikationspsychologie Zuhören Feedback ▪ Kommunikationspsychologische Modelle Operatoren im Fach Deutsch
 

Plausible Muster der Alltagsargumentation (Kienpointner 1996)

Modelle der kritischen Argumentation und Diskussion
Überblick
Idealmodell der vernünftigen Argumentation (Habermas)
Regeln für vernünftiges Argumentieren

Vernunftorientierte Argumentation ist unserem gängigen Verständnis nach rational, d. h. sie orientiert sich an allgemein anerkannten Mustern des Denkens und steht, zumindest prinzipiell, auf der Grundlage der Logik.

Wenn Menschen allerdings weder die Fähigkeit noch die Bereitschaft haben, sich mit Argumenten "vernünftig" und rational miteinander auseinanderzusetzen, oder wenn die gesellschaftlichen Verkehrsformen diese Form kommunikativer Problembewältigung strukturell nicht fördern" (vgl. Kopperschmidt 1989, S.15), dann beißen auch die vernünftigsten Argumente auf Granit. Mehr noch:

Dass "gute" Argumente einfach so ▪ überzeugen können, hängt also nicht allein vom guten Willen der Beteiligten ab, sich auch auf andere Argumente einzulassen.

Die vermeintlich besseren Argumente wirken nicht wie rhetorische Vektoren

Es ist, wie der Psychologe Robert G. Abelson (1986) feststellt, geradezu naiv zu glauben, dass plausible Argumente oder Begründungen "wie rhetorische Vektoren (wirken), die Überzeugungen in ihre Richtung bewegen."

Und auch der Gedanke, dass die andauernde Wiederholung einer Vielzahl von Argumenten echte Überzeugungsarbeit leisten könne, sei mit den Erfahrungen, die wir immer wieder machten, nicht in Einklang zu bringen.

Wer nämlich schon einmal versucht habe, "Freunde und Bekannte von ihren scheinbar eigenartigen Bindungen an den Glauben an UFOs, Astrologie, das Leben nach dem Tod, Verschwörungstheorien der Politik oder was auch immer zu befreien", habe sicher feststellen müssen, dass die "Flut vernünftiger Argumente (...) auf völlig taube Ohren (stößt)."

Im Grunde zeigten alle Faktoren, die bei der Überzeugungsarbeit von Bedeutung sind, dass auch gut begründete Argumente weniger überzeugend wirken als die Person und Persönlichkeit dessen, der sie vorbringt. Und oft wirken auch irrationale Momente mit oder bestimmen sogar, was überzeugend wirkt und was nicht.

So bringt, wer sich heute mit Menschen auseinandersetzen will und Überzeugungsarbeit bei jenen leisten will, die gängigen Mustern rechtspopulistischer Argumentation, Verschwörungstheorien oder den sogenannten Stammtischparolen aller Art folgen, sehr schnell in Erfahrung, dass es nicht um das bessere Argument, im Sinne des besseren Wissens geht.

Auch die Vorstellung, dass die Anhänger rechtspopulistischer Positionen einem mehr oder weniger geschlossenen rechten ideologischen System folgen, führt hier nicht weiter. Gewöhnlich denken sie nämlich "nicht viel über allgemeine politische Prinzipien nach und sie nehmen zu bestimmten Themen nur dann Stellung, wenn diese sie persönlich betreffen. Von Thema zu Thema neigen ihre Positionen dazu, inkonsistent zu sein, statt von einer kohärenten politischen Weltanschauung zusammengehalten zu werden, die sie deutlich artikulieren können." (Stanovich 2020a) Wer sich seine Informationen zu den ihn interessierenden Fragen einfach so zusammensucht, ist natürlich ein anderer als der- bzw. diejenige, die sich "berufsmäßig" mit Politik befassen, meistens "tief in Politik involviert und/oder extrem hochgebildet sind und sich ständig in hochkarätige Medienquellen vertiefen." (ebd.)

Vielleicht hilft subversives Argumentieren, mit dem "psychische Verspannungen und Fixierungen" unter Umständen so gelockert werden können, "dass die Dinge vielleicht auch anders sein oder anders gesehen werden können" (Schleichert 1997).

Ob es allerdings wirklich "die Verengung des Blickes" (ebd.) aufheben und lehren kann, "Ideologie von außen zu betrachten" (ebd.), wenn "man oft einfache Erklärungen an die Stelle von Wundern und Mythen"(ebd.) setzt und "Unmenschlichkeit beim Namen (nennt), statt sie mit einem religiösen oder ideologischen Schleier zu überdecken" (ebd.), ist zumindest zweifelhaft.

Die alltäglich gewordene kognitive Verzerrung: Das Meine-Seite-Denken

Wer die Möglichkeiten und Grenzen vernunftorientierter Argumentation "vernünftig" einschätzen will, kommt nicht umhin, sich auch mit bestimmten ▪ kognitiven Verzerrungen, die unser alltägliches Handeln in vielen Bereichen maßgeblich bestimmen, und ▪ Problemen der moralischen Argumentation sowie ihren gesellschaftlichen Folgen zu beschäftigen.

In den extrem polarisierten Gesellschaften, wie wir sie heute immer wieder auf der Welt erleben, sehen wir uns einer Situation gegenüber, die eine vernunftorientierte Verständigung zwischen den Lagern immer stärker verunmöglicht.

Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken daher mehr und mehr die Prozesse dieser "Lagermentalität". Und dabei geht es weniger darum, welches Lager recht hat oder um die vermeintlichen Folgen einer katastrophalen gesellschaftlichen Abkehr vom Konzept der Wahrheit (vgl. Stanovich 2020), sondern um die wachsende Bedeutung kognitiver »Verzerrungen (cognitive bias), insbesondere dem sogenannten ▪ Meine-Seite-Denken (Myside thinking).

Unsere Neigung zu ▪ kognitiven Verzerrungen verschiedener Art ist wissenschaftlich in zahlreichen Experimenten und Studien belegt. Dabei können gewöhnlich in einem Bereich mehr und in einem anderen Bereich weniger zu solchen Verzerrungen tendieren.

Neben anderen Verzerrungen steht vor allem das ▪ Meine-Seite-Denken (Myside-Bias) (Stanovich 2021) dem Ideal ▪ vernunftorientierter Argumentation entgegen, das letzten Endes in argumentativen Auseinandersetzungen auf das bessere Argument vertraut.

Zugleich ist es wohl der maßgebliche Grund dafür, dass die kognitiven Schemata, mit denen wir ansonsten durch ▪ Wissenszuwachs, ▪ Feinabstimmung, ▪ Umstrukturierung und ▪ Integration die nötigen Anpassungen an die Realität vornehmen, sich nur noch im sozialen Rahmen eines bestimmten "Lagers" "weiterentwickeln" und Informationen, die von unserer sozial konstruierten Normalität abweichen, überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden.

Wenn Stanovich (2020) im ▪ Meine-Seite-Denken (Myside thinking) ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen sieht, müssen aber auch die "gesellschaftlichen Verkehrsformen" (Kopperschmidt 1989, S.15), die dem vernunftorientierten Argumentieren im Weg stehen, in den Blick genommen werden.

In jedem Fall ist das Meine-Seite-Denken ein allgemeines gesellschaftliches Problem und zugleich handelt sich um eines der am weitesten verbreiteten und universellsten kognitiven Vorurteile überhaupt. (vgl. Stanovich 2020; S.3)

Für Stanovich (2020, S.2) stellt sich das Phänomen in aller Kürze wie folgt dar: "Menschen bewerten Beweise, generieren Beweise und testen Hypothesen auf eine Art und Weise, die sich an ihren eigenen früheren Überzeugungen, Meinungen und Einstellungen orientiert."

Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass sich der sogenannte Myside-Bias mit seinen ▪ typischen Merkmalen nicht auf Personen beschränkt, die bestimmte kognitive, soziale oder demografische Merkmale aufweisen. Weder Intelligenz, Bildung oder soziale Stellung verhindern eine solche Voreingenommenheit oder legen der Grad ihrer Ausprägung fest. (vgl. Stanovich 2021, Preface und Chapter 5:The Myside Blindness of Cognitive Elites, S.106  Kindle-Version). Das Meine-Seiten-Denken gibt es eben nicht nur bei bildungsfernen oder weniger gebildeten Personen, sondern ▪ auch bei den kognitiven Eliten. Allerdings: Die kognitiven Eliten wollen dies gewöhnlich nicht wahrhaben.

Ihnen geht es wie allen anderen eben auch: Sie glauben, dass zwar ihre politischen Gegner (wissenschaftliche) Fakten nicht anerkennen, schließen dies für sich aber gänzlich aus. Allerdings glauben sie auch nicht, das alles, was in den Medien an Informationen präsentiert wird, Fake News darstellen, sondern nur die, welche von ihren politischen Gegnern stammen.

So legen alle miteinander Wert auf Wahrheit und Fakten – aber nur, wenn sie die eigenen Ansichten stützen. (vgl. ebd., S. IX)

Plausible Muster der Alltagsargumentation (Kienpointner 1996)

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 17.12.2023

  
 

 
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