Die negativen
Auswirkungen des ▪
Meine-Seite-Denken (Myside thinking) auf das
einzelne Individuum und die Gesellschaft als Ganzes sind erheblich und
tragen dazu bei, dass sich bestehende Polarisierungen, aber auch
Abgrenzungen in verschiedenen "Informationsblasen" mit ihren
Echokammern, in denen nur widerhallt, was die Gruppenidentität stärkt,
immer stärker verfestigen. Und was das eigentlich Besorgniserregende
ist, ist, dass sich die Akteure in diesen sozialen Prozessen meistens
gar kein rechtes Bild davon machen können, warum das so ist. Am Ende
jedenfalls entsteht nach Ansicht von
Stanovich (2020,
S.5) "eine Gesellschaft, die sich scheinbar nicht auf empirisch
nachweisbare Fakten einigen kann."
Hoffnungen, den
Einzelnen sowie die Gesellschaft mit verschiedenen ▪
Standards der Argumentationsintegrität,
▪
Regeln für
rationales Argumentieren, ▪
für vernünftiges Argumentieren im Alltag oder dem ▪
Konzept der kritischen Argumentation auf
den Pfad der ▪ vernunftorientierten Argumentation
zu führen oder dauerhaft darauf zu halten, scheinen vor dem Hintergrund
der gesellschaftlichen Bedeutung des Meine-Seite-Denkens, das eng mit
der Konstruktion von Identitäten verbunden ist, wenig begründet. Und die
Vorstellung, Schule und vor allem der Deutschunterricht könne hier
wirksam entgegensteuern, muss wohl ebenfalls hinterfragt werden, um den
Fokus auf Kompetenzen zu richten, die dem Myside-Bias die rote Karte
zeigen sollen.
Ganz auf verlorenem
Posten aber stehen wir auch nach Ansicht von Keith Stanovich und der
Myside-Forscher*innen nicht.
So sieht
Stanovich (2020a)
durchaus noch sechs verschiedene Möglichkeiten, mit denen wir die Myside
Voreingenommenheit, wenn wir um ihre Bedeutung und Wirkung wissen,
verringern oder auch vermeiden können.
-
Wir müssen
verstehen, "dass wir uns von unseren Gegnern nicht deshalb
unterscheiden, weil wir bestimmte Fakten kennen, die diesen
unbekannt sind, sondern unsere politischen Gegner widersprechen uns
stattdessen wegen legitimer Wertunterschiede." (Stanovich
2020a) Statt in politischen Auseinandersetzungen mit Gegnern immer
um die Fakten und ihren Stellenwert zu ringen, muss sich der Fokus
der Auseinandersetzung auf die den jeweiligen Positionen zugrunde
liegenden verschiedenen Werte richten, die als legitim anerkannt
werden müssen, um auch die Interessen, die sich daraus ergeben als
legitim anzuerkennen.
-
Wir müssen
erkennen, "dass wir selbst widersprüchliche Werte vertreten". (ebd.)
-
Wir müssen zur
Kenntnis nehmen, "dass der Tatbestand der ständigen Einflussnahme
durch soziale Medien eine `Adipositas-Epidemie des Denkens' verursacht".
(ebd.)
So müssen wir uns also darüber im Klaren werden, welche Einflüsse
insbesondere die sozialen Medien dafür haben, dass Myside-Voreingenommenheit bestimmten Sachverhalten gegenüber oder in
bestimmten Situation entsteht und oder verfestigt und kultiviert
wird.
-
Wir müssen zur
Einsicht gelangen, "dass wir den ideologischen
Überzeugungen, die unsere Voreingenommenheit antreiben, nicht
ausreichend auf den Grund gegangen sind. Und dass Basis-Überzeugungen –
ohne dass wir uns dies bewusst machen – durch unsere genetischen
Dispositionen sowie aus unserem sozialen Milieu bewirkt wurden".(ebd.)
-
Wir müssen uns
bewusst machen, "dass Parteienbindungen
voreingenommener machen, als dies zu unseren politischen Themen passt."
Dazu sollten wir versuchen, unsere individuellen
Überzeugungen, die mit denen grundlegenden Positionen politischer Organisationen, wie z.B. politischer Parteien,
übereinstimmen, mit denen wir uns identifizieren abkoppeln. Indem
wir uns damit der von politischen Parteien praktizierten
prinzipienlosen Bündelung von Themen bewusst widersetzten, könnten
wir vermeiden, "Überzeugungen zu aktivieren, die zu einer Myside-Voreingenommenheit
führen". (ebd.)
-
Wir sollten in dem Bewusstsein handeln, uns bei politischen Fragen nicht mit einer spezifischen
Gruppe zu identifizieren und damit auch deren Positionen zu übernehmen.
Ziel ist es dabei, die Einseitigkeit einer entsprechenden
Identitätspolitik zu durchschauen. (vgl.
ebd.)
Im Grunde genommen
läuft die Gegenstrategie Keith Stanovichs auf den Erwerb von Wissen über
die Entstehungsbedingungen, die Wirkungsweise und die Funktion des
Meine-Seiten-Denkens hinaus. Auf diese Weise könnte am Ende eines
solchen Weges stehen, "Gemeinsamkeiten zu finden und aus 'meiner Seite"
so etwas wie 'unsere Seite' zu machen", wie Sebastian
Herrmann 2023, SZ v. 13./14.05.2023) es ausdrückt.
Ob damit allerdings,
wenn es dem eigenen Machterhalt doch so dienlich ist, wirklich gelingen
kann, dass die Gegenseite in einer politischen Auseinandersetzung nicht
als "ignorantes Pack" dargestellt und ihr mit einer
Beilage von Beleidigungen die Fakten vor den Latz zu geknallt wird (vgl.
ebd.), ist
nicht gesagt, aber zumindest wünschenswert.
Aufklärung über das
Meine-Seite-Denken tut in jedem Falle not, auch wenn das
Aufklärungskonzept selbst so manchem wie ein alter Hut vorkommen mag. Es
ist alternativlos, würden manche dazu sagen, im Übrigen auch für alles
institutionelle Lernen, den Deutschunterricht und die fachdidaktischen
Umsetzungen vernunftorientierter Argumentation.
Wenn, in den sozialen
Medien allen voran, die eigene Identität allerdings weiter stets an
erster Stelle steht und man hier wie dort "für die eigene Seite
(streitet), ohne deren Inhalte notwendigerweise zu 100 Prozent zu
vertreten", wenn man "Angehörige der anderen Seite verachtenswert
(findet), obwohl man eigentlich viele Meinungen mit diesen teilt" und
dabei einfach hinnimmt, dass sich "dabei Ansichten aus dem eigenen
Meinungskabinett widersprechen oder einander ausschließen" (vgl.
ebd.),
haben es Gegenstrategien gegen das Meine-Seite-Denken weiter schwer.