▪ Plausible Muster der
Alltagsargumentation (Kienpointner 1996)
▪
Modelle der kritischen
Argumentation
und Diskussion
▪
Überblick
▪
Idealmodell
der vernünftigen Argumentation
(Habermas)
▪
Regeln für
vernünftiges Argumentieren
Neben anderen wichtigen
Faktoren stehen vor allem auch ▪ kognitive
Verzerrungen unterschiedlicher Art und Tragweite der ▪
vernunftorientierten
Argumentation in der Praxis entgegen.
Kognitive
Verzerrungen treten bei der kognitiven Verarbeitung von Informationen
auf, die wir wahrnehmen oder an die wir uns erinnern und über die wir
Urteile fällen. Allerdings ist uns dabei gar nicht bewusst, dass unserer
"ureigene", allgemeine Sicht der Dinge in erheblichem Maße von ihnen
beeinflusst wird.
Worauf es hier ankommt,
ist: Wir nehmen solche Informationen also meistens nicht
unvoreingenommen auf, sondern verarbeiten sie mit erworbenen Mustern
(mentalen Modellen) und ▪
kognitiven Schemata
bzw. sog. Heuristiken, einer Art mentaler Abkürzungen, die uns dabei
helfen, trotz begrenzten Wissens und eingeschränkter Zeit Entscheidungen
zu treffen und Urteile über Sachverhalte und Personen zu fällen. Daher
neigen wir auch bei unserer Wahrnehmung und beim Urteilen Welt, alles,
was wir erfahren, erleben oder zu hören bekommen, so zu interpretieren,
dass es den Rahmen der Annahmen passt, die wir in unserem Gedächtnis
gespeichert haben.
Eine der wichtigsten
und angesichts der gesellschaftlichen Polarisierungen, die wir heute
überall auf der Welt erleben, folgenreichsten kognitiven Verzerrungen
wird als das ▪
Meine-Seite-Denken (Myside thinking bzw.
als Myside-Bias erforscht. Es gilt ein allgemeines
gesellschaftliches Problem und zugleich handelt sich um eines der am
weitesten verbreiteten und universellsten kognitiven Vorurteile
überhaupt. (vgl.
Stanovich 2020;
S.3)
Um was es im Kern geht:
"Menschen
bewerten Beweise, generieren Beweise und testen Hypothesen auf eine
Art und Weise, die sich an ihren eigenen früheren Überzeugungen,
Meinungen und Einstellungen orientiert."
(Stanovich 2020,
S.2, Hervorh. d. Verf.)
Das Phänomen ist
inzwischen durch zahlreiche Studien belegt und wird auch zur Erklärung
für die kaum mehr zu überwindende politische und gesellschaftliche
Spaltung herangezogen, das wir in so zahlreichen westlichen Ländern in
den letzten Jahren oder Jahrzehnten erleben.
Untersuchungen
haben aber auch gezeigt, "dass Myside-Bias in verschiedenen experimentellen Situationen
zum Ausdruck kommt: Menschen bewerten dieselbe tugendhafte Handlung
positiv, wenn sie von einem Mitglied ihrer eigenen Gruppe begangen wird,
und bewerten eine negative Handlung weniger negativ, wenn sie von einem
Mitglied ihrer eigenen Gruppe begangen wird. Sie bewerten ein
identisches Experiment günstiger, wenn die Ergebnisse ihre früheren
Überzeugungen stützen, als wenn die Ergebnisse ihren früheren
Überzeugungen widersprechen, und bei der Suche nach Informationen wählen
Menschen Informationsquellen aus, die ihre eigene Position
voraussichtlich stützen. Selbst die Interpretation einer rein
numerischen Darstellung von Ergebnisdaten weist in die Richtung der
vorherigen Überzeugung des Probanden. Ebenso werden Urteile über die
logische Gültigkeit durch die früheren Überzeugungen der Menschen
verzerrt." (ebd.)
Auf die politischen Lager und eine diesen Fragen polarisierte Öffentlichkeit bezogen, würden daher auch logisch gültige
Syllogismen,
die zum Schluss kommen "Deshalb sollte
Marihuana legal sein" von liberal gesinnten Personen als richtig und von Konservativen
eher nicht akzeptiert werden. (vgl.
ebd.) Dass
dabei jedes ideologische Lage ihr Verständnis von wissenschaftlichen
Erkenntnissen so verzerrt, wie es zu im und seiner Gruppenidentität
passt (vgl.
Stanovich 2020a, S.2), versteht sich daher fast von selbst.
Bemerkenswert ist dabei
vor allem, dass sich der sogenannte Myside-Bias und auch der Grad seiner
Ausprägung nicht auf Personen beschränkt, die
bestimmte kognitive, soziale oder demografische Merkmale aufweisen.
Wer also annimmt, dass es das Meine-Seiten-Denken nur bei bildungsfernen
oder weniger gebildeten Personen gibt, den "gescholtenen Deppen, die von
nichts eine Ahnung haben", ist nicht nur auf dem Holzweg, sondern Opfer
des eigenen Myside-Bias. Es ist nämlich so: Weder Intelligenz, Bildung oder soziale Stellung verhindern eine solche
Voreingenommenheit oder legen der Grad ihrer Ausprägung fest. (vgl. Stanovich
2021, Preface und Chapter 5:The Myside Blindness of Cognitive Elites,
S.106 Kindle-Version). Und nur weil jemand auf dem einen Gebiet,
sich von dieser Voreingenommenheit leiten lässt, muss er dies auf einem
anderen nicht ebenso tun. Die individuellen Unterschiede und
Ausprägungen des Meine-Seite-Denkens sind groß und ob der zum
Myside-Bias hier oder dort auftritt, ist also kaum vorhersehbar. (vgl. Stanovich
2020)
Das unterstreichen auch die Erkenntnisse, die man im Zusammenhang mit
der vermeintlich festen ideologischen Bindung der Menschen gewonnen hat.
Es hat sich nämlich gezeigt,
"dass die meisten Menschen wenig
ideologisch veranlagt sind. Sie denken nicht viel über allgemeine
politische Prinzipien nach und sie nehmen zu bestimmten Themen nur dann
Stellung, wenn diese sie persönlich betreffen. Von Thema zu Thema neigen
ihre Positionen dazu, inkonsistent zu sein, statt von einer kohärenten
politischen Weltanschauung zusammengehalten zu werden, die sie deutlich
artikulieren können. Studien tendieren zu der Erkenntnis, dass lediglich
Personen Positionen zu bestimmten Themen auf eine Art und Weise
vertreten können, die wie eine Ideologie aussieht, die tief in Politik
involviert und/oder extrem hochgebildet sind und sich ständig in
hochkarätige Medienquellen vertiefen." (Stanovich 2020a)
Der "blinde Fleck" der
kognitiven Eliten
Die Tatsache, dass sich Myside-Bias nicht auf Personen beschränkt, die
bestimmte kognitive, soziale oder demografische Merkmale aufweisen, ist
für die kognitive Elite eine "schlechte" Nachricht. Was ihnen die
Meine-Seiten-Voreingenommenheit ins Stammbuch schreibt, passt nämlich so
gar nicht zu ihrem Selbstverständnis. Menschen, die gut gebildet und in
entsprechenden sozialen Milieus und Funktionen agieren, wollen nicht hören,
dass sie keineswegs weniger voreingenommen als andere Menschen (sind),
wenn sie nach anderen bekannten psychologischen Voreingenommenheiten
befragt werden. (vgl. Stanovich
2021) Sie haben oft einen regelrechten "blinden Fleck" für ihren
eigen Myside-Bias. Auch bei der MySide Blindness
der kognitiven Eliten spielen die Fakten eine geringere Rolle "als die
Frage, wer man ist und zu wem man gehört. Am Ende nistet sich jedes
Lager, jede politische Strömung in seiner Deutung der Dinge ein und
verachtet die Gegenseite als irrationale Bande, an deren Borniertheit
die Fakten abprallen. Ach, wenn die anderen doch nur endlich das Licht
der Realität zulassen würden, so die Stoßgebete jeglicher Lager, dann
könnten die die Probleme der Gegenwart gelöst werden." (Sebastian
Herrmann 2023, SZ v. 13./14.05.2023)
Dabei geht es den kognitiven Eliten wie allen anderen eben auch: Sie glauben, dass zwar ihre
politischen Gegner (wissenschaftliche) Fakten nicht anerkennen,
schließen dies für sich aber gänzlich aus. Allerdings glauben sie auch
nicht, das alles, was in den Medien an Informationen präsentiert wird, Fake News darstellen, sondern nur die, welche von ihren politischen
Gegnern stammen.
So legen alle miteinander Wert auf Wahrheit und Fakten – aber nur, wenn
sie die eigenen Ansichten stützen. (vgl.
Stanovich
2021., S.
IX)
Was sie, so Stanovich
(2020a) erst lernen müssen, ist: Ihren eigenen Myside-Bias zu zähmen, indem
sie erkennten, dass in vielen
Fällen ihre Auffassung, dass bestimmte Fakten (die sie aufgrund des
Rosinenpickens zufälligerweise kennen würden) ihren politischen Gegnern schockierenderweise unbekannt
seien, in Wirklichkeit nur ein
eigennütziges Argument darstelle. Es diene dazu, die Tatsache zu
verschleiern, dass hinter dem umstrittenen Thema, über das sie sprächen,
ein ungelöster Wertekonflikt stecke. Dass
sie sich auf die angebliche
Ignoranz ihrer Gegner konzentrierten, sei eine List, um zu
verschleiern, dass sie lediglich ihre eigenen Wertvorstellungen
durchsetzen wollten – und nicht, dass es bei dem Thema um einen Streit
gehe, der durch mehr Wissen gelöst werden könne. (vgl. Stanovich 2020a)
Wenn
Stanovich (2020)
im ▪
Meine-Seite-Denken (Myside thinking) ein
allgemeines gesellschaftliches Phänomen sieht, müssen aber auch die
"gesellschaftlichen Verkehrsformen" (Kopperschmidt
1989, S.15), die dem vernunftorientierten Argumentieren im Weg stehen,
in den Blick genommen werden.
Ist das Meine-Seite-Denken irrational?
Für Stanovich ist das
Meine-Seite-Denken ein Denkfehler (thinking error), wie bei anderen auf
Voreingenommenheit beruhenden kognitiven Verzerrungen, die in bestimmten
Situationen auftreten. (vgl.
Stanovich 2020,
S.5)
Warum wir selbst jedoch das
Myside-Phänomen, wenn es um uns selbst als Individuen geht, nicht so ohne
Weiteres als Denkfehler ansehen, liegt daran, dass sich Mvside-Bias in
unseren Interaktionen im Privaten wie auch im öffentlichen
gesellschaftlichen und politischen Diskurs so stark verankert hat, dass
sich das Meine-Seite-Denken auf die "gesellschaftlichen Verkehrsformen"
(Kopperschmidt
1989, S.15) kommunikativer Problembewältigung strukturell längst
nachhaltig ausgewirkt hat.
Wenn das
Meine-Seiten-Denken jene Argumente, Beweise und Schlussfolgerungen
stärker gewichtet, wenn sie mit früheren Überzeugungen übereinstimmen,
und weniger stark, wenn sie das nicht tun, erscheint dies allerdings nur auf den
ersten Blick falsch.
In Wahrheit ist es das aber
auch nicht. Es ist
nämlich ausgesprochen rational, wenn wir bei der der Bewertung von
Dingen, Sachverhalten oder Behauptungen und Begründungen auf eigene,
schon früher gebildete Überzeugung zurückzugreifen und diese zur
Bewertung aus unserem Gedächtnis abrufen.
Schließlich sind die
Informationen, die wir erhalten, gewöhnlich auch nicht hundertprozentig
zuverlässig. Daher müssen wir stets auch unser Wissen heranziehen, um
die Glaubwürdigkeit neuer Informationen zu bewerten.
Dabei geht es
darum, ausgehend von der durch die neuen Informationen entstehenden
veränderten
Datenlage, die Diskrepanz zwischen dem Alten und dem Neuen wahrzunehmen
und zu beurteilen. Dabei wird gewöhnlich festgestellt, ob die Diskrepanz
eventuell so groß ist, dass einem ernsthaft
Zweifel an ihrer Relevanz aufkommen.
Gegen diese kognitive Strategie,
die damit das Fremde und Neue entweder integriert oder zurückweist, ist
solange eigentlich nichts einzuwenden, solange das, was man schon vorher
glaubt, auf echtem Wissen (real knowledge)
gründet und kein
unbegründetes Wunschdenken (desire) darstellt, dass etwas wahr
ist.
Was eine solche Situation
zu einer macht, die von unangemessener Myside-Voreingenommenheit geprägt
ist, hängt davon ab, welchen Stellenwert eine Person ihren Vorannahmen
bei der Bewertung gibt.
-
So kann man davon ausgehen, dass das, was man
glaubt bzw. für wahr hält, auf früher gebildeten Annahmen beruht
(überprüfbare Überzeugung, testable belief
(Anderson)).
-
Man kann aber auch einfach eine früher entstandene und im Gedächtnis
gespeicherte feste Überzeugung (beliefs) auf die neue Situation oder
Datenlage projizieren (distal belief),
weil man das eben so wahrhaben möchte, auch wenn es dafür keine
hinreichenden Beweise gibt.
Es
sind die "beliefs" der zweiten Art, die als feste und nahezu
unerschütterliche Überzeugungen (convictions) oft in hohem Maß affektiv
"aufgeladen" und mit der eigenen Identität in Verbindung gebracht
werden, die die eigentlich problematischen Phänomene des
Meine-Seite-Denkens bzw. des Myside-Bias hervorbringen.
Dabei können sie
auf Werten oder auch auf parteiischen Standpunkten beruhen.
Im Kern geht
es dabei stets darum, "dass Menschen Überzeugungen und nicht
überprüfbare Überzeugungen auf neue Beweise projizieren, die sie
erhalten. So entsteht am Ende eine Gesellschaft, die sich scheinbar
nicht auf empirisch nachweisbare Fakten einigen kann. (vgl.
Stanovich 2020,
S.5)
▪
Plausible Muster der
Alltagsargumentation (Kienpointner 1996)
▪
Modelle der kritischen
Argumentation
und Diskussion
▪
Überblick
▪
Idealmodell
der vernünftigen Argumentation
(Habermas)
▪
Regeln für
vernünftiges Argumentieren
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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