teachSam- Arbeitsbereiche:
Arbeitstechniken - Deutsch - Geschichte - Politik - Pädagogik - PsychologieMedien - Methodik und Didaktik - Projekte - So navigiert man auf teachSam - So sucht man auf teachSam - teachSam braucht Werbung


deu.jpg (1524 Byte)

 

Meine-Seite-Denken (Myside-Bias)

Merkmale des Meine-Seite-Denkens

Vernunftorientierte Argumentation

 
FAChbereich Deutsch
Glossar RhetorikGeschichteBegriff und TheorieRhetorische Mittel Argumentieren ▪ Didaktische und methodische Aspekte Überblick V
ernunftorientierte ArgumentationÜberblick [ Meine-Seite-Denken (Myside-Bias) ÜberblickKognitive VerzerrungenMerkmale des Meine-Seite-Denkens Meine Seite-Denken beim Argumentieren Der Myside-Bias der kognitiven ElitenStrategien gegen das Meine-Seite-Denken ] Definitionen und LexikoneinträgeMündliches und schriftliches Argumentieren Partnerorientierung Geltungsansprüche Argumentationsmodelle Typen von Argumentationen Argumentationsstrategien Analyse von Alltagsargumentationen Probleme beim ArgumentierenTextordnungsmuster Häufig gestellte Fragen Bausteine   DiskutierenRede Kommunikationspsychologie Zuhören Feedback ▪ Kommunikationspsychologische Modelle Operatoren im Fach Deutsch
 

Plausible Muster der Alltagsargumentation (Kienpointner 1996)

Modelle der kritischen Argumentation und Diskussion
Überblick
Idealmodell der vernünftigen Argumentation (Habermas)
Regeln für vernünftiges Argumentieren

Neben anderen wichtigen Faktoren stehen vor allem auch ▪ kognitive Verzerrungen unterschiedlicher Art und Tragweite der ▪ vernunftorientierten Argumentation in der Praxis entgegen.

Kognitive Verzerrungen treten bei der kognitiven Verarbeitung von Informationen auf, die wir wahrnehmen oder an die wir uns erinnern und über die wir Urteile fällen. Allerdings ist uns dabei gar nicht bewusst, dass unserer "ureigene", allgemeine Sicht der Dinge in erheblichem Maße von ihnen beeinflusst wird.

Worauf es hier ankommt, ist: Wir nehmen solche Informationen also meistens nicht unvoreingenommen auf, sondern verarbeiten sie mit erworbenen Mustern (mentalen Modellen) und ▪ kognitiven Schemata bzw. sog. Heuristiken, einer Art mentaler Abkürzungen, die uns dabei helfen, trotz begrenzten Wissens und eingeschränkter Zeit Entscheidungen zu treffen und Urteile über Sachverhalte und Personen zu fällen. Daher neigen wir auch bei unserer Wahrnehmung und beim Urteilen Welt, alles, was wir erfahren, erleben oder zu hören bekommen, so zu interpretieren, dass es den Rahmen der Annahmen passt, die wir in unserem Gedächtnis gespeichert haben.

Eine der wichtigsten und angesichts der gesellschaftlichen Polarisierungen, die wir heute überall auf der Welt erleben, folgenreichsten kognitiven Verzerrungen wird als das ▪ Meine-Seite-Denken (Myside thinking bzw. als Myside-Bias erforscht. Es gilt ein allgemeines gesellschaftliches Problem und zugleich handelt sich um eines der am weitesten verbreiteten und universellsten kognitiven Vorurteile überhaupt. (vgl. Stanovich 2020; S.3)

Um was es im Kern geht:

"Menschen bewerten Beweise, generieren Beweise und testen Hypothesen auf eine Art und Weise, die sich an ihren eigenen früheren Überzeugungen, Meinungen und Einstellungen orientiert."

(Stanovich 2020, S.2, Hervorh. d. Verf.)

Das Phänomen ist inzwischen durch zahlreiche Studien belegt und wird auch zur Erklärung für die kaum mehr zu überwindende politische und gesellschaftliche Spaltung herangezogen, das wir in so zahlreichen westlichen Ländern in den letzten Jahren oder Jahrzehnten erleben.

Untersuchungen haben aber auch gezeigt, "dass Myside-Bias in verschiedenen experimentellen Situationen zum Ausdruck kommt: Menschen bewerten dieselbe tugendhafte Handlung positiv, wenn sie von einem Mitglied ihrer eigenen Gruppe begangen wird, und bewerten eine negative Handlung weniger negativ, wenn sie von einem Mitglied ihrer eigenen Gruppe begangen wird. Sie bewerten ein identisches Experiment günstiger, wenn die Ergebnisse ihre früheren Überzeugungen stützen, als wenn die Ergebnisse ihren früheren Überzeugungen widersprechen, und bei der Suche nach Informationen wählen Menschen Informationsquellen aus, die ihre eigene Position voraussichtlich stützen. Selbst die Interpretation einer rein numerischen Darstellung von Ergebnisdaten weist in die Richtung der vorherigen Überzeugung des Probanden. Ebenso werden Urteile über die logische Gültigkeit durch die früheren Überzeugungen der Menschen verzerrt." (ebd.)

Auf die politischen Lager und eine diesen Fragen polarisierte Öffentlichkeit bezogen, würden daher auch logisch gültige Syllogismen, die zum Schluss kommen "Deshalb sollte Marihuana legal sein" von liberal gesinnten Personen als richtig und von Konservativen eher nicht akzeptiert werden. (vgl. ebd.) Dass dabei jedes ideologische Lage ihr Verständnis von wissenschaftlichen Erkenntnissen so verzerrt, wie es zu im und seiner Gruppenidentität passt (vgl. Stanovich 2020a, S.2), versteht sich daher fast von selbst.

Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass sich der sogenannte Myside-Bias und auch der Grad seiner Ausprägung nicht auf Personen beschränkt, die bestimmte kognitive, soziale oder demografische Merkmale aufweisen. Wer also annimmt, dass es das Meine-Seiten-Denken nur bei bildungsfernen oder weniger gebildeten Personen gibt, den "gescholtenen Deppen, die von nichts eine Ahnung haben", ist nicht nur auf dem Holzweg, sondern Opfer des eigenen Myside-Bias. Es ist nämlich so: Weder Intelligenz, Bildung oder soziale Stellung verhindern eine solche Voreingenommenheit oder legen der Grad ihrer Ausprägung fest. (vgl. Stanovich 2021, Preface und Chapter 5:The Myside Blindness of Cognitive Elites, S.106  Kindle-Version). Und nur weil jemand auf dem einen Gebiet, sich von dieser Voreingenommenheit leiten lässt, muss er dies auf einem anderen nicht ebenso tun. Die individuellen Unterschiede und Ausprägungen des  Meine-Seite-Denkens sind groß und ob der zum Myside-Bias hier oder dort auftritt, ist also kaum vorhersehbar. (vgl. Stanovich 2020)

Das unterstreichen auch die Erkenntnisse, die man im Zusammenhang mit der vermeintlich festen ideologischen Bindung der Menschen gewonnen hat. Es hat sich nämlich gezeigt, "dass die meisten Menschen wenig ideologisch veranlagt sind. Sie denken nicht viel über allgemeine politische Prinzipien nach und sie nehmen zu bestimmten Themen nur dann Stellung, wenn diese sie persönlich betreffen. Von Thema zu Thema neigen ihre Positionen dazu, inkonsistent zu sein, statt von einer kohärenten politischen Weltanschauung zusammengehalten zu werden, die sie deutlich artikulieren können. Studien tendieren zu der Erkenntnis, dass lediglich Personen Positionen zu bestimmten Themen auf eine Art und Weise vertreten können, die wie eine Ideologie aussieht, die tief in Politik involviert und/oder extrem hochgebildet sind und sich ständig in hochkarätige Medienquellen vertiefen." (Stanovich 2020a)

Der "blinde Fleck" der kognitiven Eliten

Die Tatsache, dass sich Myside-Bias nicht auf Personen beschränkt, die bestimmte kognitive, soziale oder demografische Merkmale aufweisen, ist für die kognitive Elite eine "schlechte" Nachricht. Was ihnen die Meine-Seiten-Voreingenommenheit ins Stammbuch schreibt, passt nämlich so gar nicht zu ihrem Selbstverständnis. Menschen, die gut gebildet und in entsprechenden sozialen Milieus und Funktionen agieren, wollen nicht hören, dass sie keineswegs weniger voreingenommen als andere Menschen (sind), wenn sie nach anderen bekannten psychologischen Voreingenommenheiten befragt werden. (vgl. Stanovich 2021) Sie haben oft einen regelrechten "blinden Fleck" für ihren eigen Myside-Bias. Auch bei der MySide Blindness der kognitiven Eliten spielen die Fakten eine geringere Rolle "als die Frage, wer man ist und zu wem man gehört. Am Ende nistet sich jedes Lager, jede politische Strömung in seiner Deutung der Dinge ein und verachtet die Gegenseite als irrationale Bande, an deren Borniertheit die Fakten abprallen. Ach, wenn die anderen doch nur endlich das Licht der Realität zulassen würden, so die Stoßgebete jeglicher Lager, dann könnten die die Probleme der Gegenwart gelöst werden." (Sebastian Herrmann 2023, SZ v. 13./14.05.2023)

Dabei  geht es den kognitiven Eliten wie allen anderen eben auch: Sie glauben, dass zwar ihre politischen Gegner (wissenschaftliche) Fakten nicht anerkennen, schließen dies für sich aber gänzlich aus. Allerdings glauben sie auch nicht, das alles, was in den Medien an Informationen präsentiert wird, Fake News darstellen, sondern nur die, welche von ihren politischen Gegnern stammen. So legen alle miteinander Wert auf Wahrheit und Fakten – aber nur, wenn sie die eigenen Ansichten stützen. (vgl. Stanovich 2021., S. IX)

Was sie, so Stanovich (2020a) erst lernen müssen, ist: Ihren eigenen Myside-Bias zu zähmen, indem sie erkennten, dass in vielen Fällen ihre Auffassung, dass bestimmte Fakten (die sie aufgrund des Rosinenpickens zufälligerweise kennen würden) ihren politischen Gegnern schockierenderweise unbekannt seien, in Wirklichkeit nur ein eigennütziges Argument darstelle. Es diene dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass hinter dem umstrittenen Thema, über das sie sprächen, ein ungelöster Wertekonflikt stecke. Dass sie sich auf die angebliche Ignoranz ihrer Gegner konzentrierten, sei eine List, um zu verschleiern, dass sie lediglich ihre eigenen Wertvorstellungen durchsetzen wollten – und nicht, dass es bei dem Thema um einen Streit gehe, der durch mehr Wissen gelöst werden könne. (vgl. Stanovich 2020a)

Wenn Stanovich (2020) im ▪ Meine-Seite-Denken (Myside thinking) ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen sieht, müssen aber auch die "gesellschaftlichen Verkehrsformen" (Kopperschmidt 1989, S.15), die dem vernunftorientierten Argumentieren im Weg stehen, in den Blick genommen werden.

Ist das Meine-Seite-Denken irrational?

Für Stanovich ist das Meine-Seite-Denken ein Denkfehler (thinking error), wie bei anderen auf Voreingenommenheit beruhenden kognitiven Verzerrungen, die in bestimmten Situationen auftreten. (vgl. Stanovich 2020, S.5)

Warum wir selbst jedoch das Myside-Phänomen, wenn es um uns selbst als Individuen geht, nicht so ohne Weiteres als Denkfehler ansehen, liegt daran, dass sich Mvside-Bias in unseren Interaktionen im Privaten wie auch im öffentlichen  gesellschaftlichen und politischen Diskurs so stark verankert hat, dass sich das Meine-Seite-Denken auf die "gesellschaftlichen Verkehrsformen" (Kopperschmidt 1989, S.15) kommunikativer Problembewältigung strukturell längst nachhaltig ausgewirkt hat.

Wenn das Meine-Seiten-Denken jene Argumente, Beweise und Schlussfolgerungen stärker gewichtet, wenn sie mit früheren Überzeugungen übereinstimmen, und weniger stark, wenn sie das nicht tun, erscheint dies allerdings nur auf den ersten Blick falsch.

In Wahrheit ist es das aber auch nicht. Es ist nämlich ausgesprochen rational, wenn wir bei der der Bewertung von Dingen, Sachverhalten oder Behauptungen und Begründungen auf eigene, schon früher gebildete Überzeugung zurückzugreifen und diese zur Bewertung aus unserem Gedächtnis abrufen.

Schließlich sind die Informationen, die wir erhalten, gewöhnlich auch nicht hundertprozentig zuverlässig. Daher müssen wir stets auch unser Wissen heranziehen, um die Glaubwürdigkeit neuer Informationen zu bewerten.

Dabei geht es darum, ausgehend von der durch die neuen Informationen entstehenden veränderten Datenlage, die Diskrepanz zwischen dem Alten und dem Neuen wahrzunehmen und zu beurteilen. Dabei wird gewöhnlich festgestellt, ob die Diskrepanz eventuell so groß ist, dass einem ernsthaft Zweifel an ihrer Relevanz aufkommen.

Gegen diese kognitive Strategie, die damit das Fremde und Neue entweder integriert oder zurückweist, ist solange eigentlich nichts einzuwenden, solange das, was man schon vorher glaubt, auf echtem Wissen (real knowledge) gründet und kein unbegründetes Wunschdenken (desire) darstellt, dass etwas wahr ist.

Was eine solche Situation zu einer macht, die von unangemessener Myside-Voreingenommenheit geprägt ist, hängt davon ab, welchen Stellenwert eine Person ihren Vorannahmen bei der Bewertung gibt.

  • So kann man davon ausgehen, dass das, was man glaubt bzw. für wahr hält, auf früher gebildeten Annahmen beruht (überprüfbare Überzeugung, testable belief (Anderson)).

  • Man kann aber auch einfach eine früher entstandene und im Gedächtnis gespeicherte feste Überzeugung (beliefs) auf die neue Situation oder Datenlage projizieren (distal belief), weil man das eben so wahrhaben möchte, auch wenn es dafür keine hinreichenden Beweise gibt. 

Es sind die "beliefs" der zweiten Art, die als feste und nahezu unerschütterliche Überzeugungen (convictions) oft in hohem Maß affektiv "aufgeladen" und mit der eigenen Identität in Verbindung gebracht werden, die die eigentlich problematischen Phänomene des Meine-Seite-Denkens bzw. des Myside-Bias hervorbringen.

Dabei können sie auf Werten oder auch auf parteiischen Standpunkten beruhen.

Im Kern geht es dabei stets darum, "dass Menschen Überzeugungen und nicht überprüfbare Überzeugungen auf neue Beweise projizieren, die sie erhalten. So entsteht am Ende eine Gesellschaft, die sich scheinbar nicht auf empirisch nachweisbare Fakten einigen kann. (vgl. Stanovich 2020, S.5)

Plausible Muster der Alltagsargumentation (Kienpointner 1996)

Modelle der kritischen Argumentation und Diskussion
Überblick
Idealmodell der vernünftigen Argumentation (Habermas)
Regeln für vernünftiges Argumentieren

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 17.12.2023

  
 

 
ARBEITSTECHNIKEN und mehr
Arbeits- und Zeitmanagement Kreative Arbeitstechniken Teamarbeit ▪ Portfolio ● Arbeit mit Bildern  Arbeit mit Texten Arbeit mit Film und VideoMündliche Kommunikation Visualisieren PräsentationArbeitstechniken für das Internet Sonstige digitale Arbeitstechniken 

 
  Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International License (CC-BY-SA)
Dies gilt für alle Inhalte, sofern sie nicht von
externen Quellen eingebunden werden oder anderweitig gekennzeichnet sind. Autor: Gert Egle/www.teachsam.de
-
CC-Lizenz