"Wenn wir argumentieren wollen, sind zunächst Einfallsreichtum und
Phantasie, manchmal auch Geistesblitze gefragt. Die Entwicklung eines Arguments ist ein Prozess der
Entdeckung: Manchmal hat man zunächst die Konklusion im Kopf. Dann muss man
entsprechende Gründe suchen. Manchmal reichen die ersten Gründe nicht aus,
so dass man weitere Gründe auftreiben muss. Ein anderes Mal geht man von
bestimmten Aussagen aus und muss erst noch entdecken, welche Konklusion aus
diesen Aussagen abzuleiten ist. Dann wieder hat man vage Assoziationen, die
sich nur langsam zu einem Argument zusammenfügen. Man beschreitet Irrwege,
korrigiert
sich und macht neue Versuche. Bisweilen hat man morgens beim
Aufwachen ein fertiges Argument im Kopf, das man noch am Vortag nicht hat
zustande bringen können. Es wäre deshalb fatal, wenn wir versuchten, unsere
spontanen Gedanken auf ein Prokrustesbett* aus logischen Regeln zu spannen.
Bei der Entdeckung jener Schlüsse, die wir anschließend zu Argumenten versprachlichen, kann uns die Logik nicht helfen. (G. Frege 1966a: 30f.; W.
C. Salomon 1983: 29-32). […] Sie gibt uns Mittel an die Hand, korrekte
Argumente von unkorrekten zu unterscheiden. Sie bietet keine Abkürzungen zur
Erkenntnis; sie macht die mühsamen Wege der Beobachtung, des Denkens, des
Lernens, des Formulierens und Interpretierens und der wissenschaftlichen
Forschung nicht überflüssig, - wohl aber ein wenig sicherer. […] Ein
korrektes Argument kann falsche Prämissen und eine falsche Konklusion haben;
es kann auch falsche Prämissen und eine wahre Konklusion haben. Aber ein
korrektes Argument kann niemals wahre Prämissen und eine falsche Konklusion
haben. Es erlaubt uns, von wahren Prämissen sicher zu einer wahren
Konklusion überzugehen. Eben das haben wir in unseren Vorüberlegungen als
das Ziel unserer Schlüsse und Argumente erkannt: Es geht jeweils um den
Übergang von etwas, das wir schon wissen oder zu wissen glauben, zu etwas
Neuem. Die Logik verschafft uns kein neues Wissen; aber sie hilft uns,
solche Übergänge zuverlässig zu machen und trügerische, falsche Übergänge zu
erkennen oder von vornherein zu meiden.
(vgl.
Bayer (1999, S. S. 91-93, gekürzt)
* Prokrustesbett: Prokrustes war der Beiname
des Räubers Polypemon in de altgriechischen Sage; Prokrustes presste arglose
Wanderer so in ein Bett, dass er ihnen die überstehenden Glieder abhieb oder
die zu kurzen Glieder mit Gewalt streckte. 1) übertragene Bezeichnung für
eine unangenehme Lage, in die jemand hineingezwungen wird 2) übertragene
Bezeichnung für ein gewaltsames Hineinzwängen in ein bei weitem zu starres
Schema.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023