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Bertram, Jochen: Ein würdiges Gedenken, 1988
▪ Dönhoff, Marion Gräfin: Ein verfehltes Kolleg, 1988
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Erlebte Rede - eine "gefährliche Form" - Die Analyse des
Literaturwissenschaftlers Jochen Vogt - 1990
Die
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Rede
Philipp Jenningers 1988 und sein anschließender Rückritt vom Amt
des Bundestagspräsidenten veranlasste »Christoph Bertram
(geb. 1937) zu folgendem
Kommentar:
»Unbeholfen hat Jenninger geredet, aber unehrlich? Eben nicht. Da
findet sich in dem langen Text - so viele seiner schnellen Kritiker haben
ihm wohl nur in Auszügen mitbekommen - kein Wort der Beschönigung für
deutsche Schuld, kein Weg-Erklären des Schrecklichen, dem ein ganzes Volk
zusah. Da wurde eben nicht versucht, die Ächtung der Juden - die erst zur
Verteufelung, dann zu Drangsalierung, zu Verfolgung, schließlich zum
Massenmord führte - nur den Nazi-Verbrechern anzulasten, verbunden mit
vagen Beschwörungen, wir alle seien schuldig geworden.
"Die Schuld", schrieb der Schriftsteller Lothar Baier vor rund
einem Jahr in der ZEIT, "ist zu etwas geworden, was die
Weiterlebenden gern auf sich nehmen, weil es sie nicht niederdrückt,
sondern weil es sie erhebt." Hätte Jenninger das vollbracht, wären
jetzt alle des Lobes voll, und er säße weiter auf dem Präsidentenstuhl
des Bundestages. Statt dessen hat er die Schuld der Deutschen vorgeführt,
hat nicht wegerklärt, sondern uns die hässliche Fratze all jener
gezeigt, die stillhielten, als Mitbürger zu Nicht-Menschen gestempelt
wurden.
Gewiss, es gab Ausnahmen, tapfere Männer und Frauen, auf die Jenninger
nicht zu sprechen kam. Das wäre, weil entlastend, einfach gewesen. Aber
die harte Tatsache bleibt: Die meisten sahen zu, sie ließen geschehen.
Sie empfanden nicht mehr das elementare menschliche Gefühl bei jeder
brutalen Gewaltanwendung gegen Unschuldige - die Empörung. Bei aller
Ungelenkheit der Worte, bei allen unrhetorisch vorgetragenen rhetorischen
Fragen, hat Jenninger sich mit diesem, für die Nachgeborenen
schrecklichsten Problem deutscher Geschichte auseinandergesetzt.
[...]
Nun aber ist die Empörung da. Nicht Jenningers persönliche Integrität,
seine Wortwahl wird angeprangert und seziert - als ob er nicht auch
Anspruch darauf hätte, dass die Hörer und Leser hinter seinen Worten den
sehen, der da gesprochen hat. Als Sprachverwalter der für solche Anlässe
gebotenen Formeln haben die meisten Kritiker sich geübt.
Aber am Ende war dies - bei aller Unbeholfenheit und gerade wegen des
Eklats - ein würdiges Gedenken an den schlimmen Tag vor 50 Jahren.«
(aus: Die Zeit, 18.11.1988, Auszüge)
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Bertram, Jochen: Ein würdiges Gedenken, 1988
▪ Dönhoff, Marion Gräfin: Ein verfehltes Kolleg, 1988
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Erlebte Rede - eine "gefährliche Form" - Die Analyse des
Literaturwissenschaftlers Jochen Vogt - 1990
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023