Rhetorik ist heute in
aller Munde, ja geradezu eine Modeerscheinung geworden (vgl.
Ueding 2000a, S.
118) Das öffentliche Interesse, das rhetorischen Fragen allerorten
entgegengebracht wird ist außerordentlich hoch und hat die Latte der
Erwartungen, die mit rhetorischer Sprachgestaltung und Sprachanalyse
verbunden werden, sehr hoch gelegt, wenngleich sich auch auf der Ebene
der Populärliteratur eine Flut von Ratgebern tummelt, die vor allem aus
dem Streben nach
Singularität und Selbstoptimierung ein lukratives Geschäft gemacht
hat. Rhetorische Strategien spielen in Politik, Verwaltung und
Wirtschaft, in Massenmedien und im allgemeinen Kulturbetrieb, in
öffentlichen Debatten und Wahlkämpfen, in der Presse und im Fernsehen
ebenso wie im Internet eine außerordentlich wichtige Rolle.
Wissenschaftlich ist
hingegen schon seit langem ein Niedergang der Rhetorik als Fachdisziplin
festzustellen, auch wenn die Rhetorik als Redepraxis natürlich stets
erhalten geblieben ist. Dieser Niedergang, der sich in allen
Nationalkulturen etwas seit den 1930er abspielte und in Deutschland dazu
führte, dass die wissenschaftliche Rhetorik besonders stark an den Rand
gedrängt wurde, war allerdings nicht überall gleich.
In den USA
entwickelte sich mit der New Rhetoric eine neuartige Forschungsrichtung,
die das System der Rhetorik unter den
Rahmenbedingungen
einer ihr gegenüber unbefangener eingestellten wissenschaftlichen
Öffentlichkeit (vgl.
ebd. 2000a, S. 121) ausweitete und auf verschiedene Art und Weise an
Universitäten, Colleges und Schulen institutionalisierte. In Deutschland
suchte man erst seit etwa 1960 den Anschluss an diese bis dahin schon
sehr lebhafte internationale Forschung.
Dabei "(erzeugte)
der wachsende Anspruch einer mündigen Gesellschaft auf
Information und die Durchsichtigkeit aller Entscheidungsprozesse (...) einen zunehmenden Bedarf an Rhetorik in sämtlichen Bereichen der
Wissenschaft."
Was die Rhetorik
anbetrifft, kann man nach Ueding dabei fünf Tendenzen
unterscheiden.
"
-
Die
literaturwissenschaftliche Adaption der historischen
Topik (Curtius), der
rhetorischen Textinterpretation (Lausberg) und der
Figurenlehre (Dubois, Plett);
-
Die
Wiederbelebung der rhetorischen
Argumentationstheorie in der Jurisprudenz (Viehweg, Haft) und Philosophie (Perelman,
M. Meyer) sowie
in der hermeneutischen Diskussion (Gadamer, Habermas,
Blumenberg);
-
Die Entwicklung einer
Rhetorik der Massenmedien und der Werbung
mit psychologischem Schwerpunkt ("New Rhetoric" in den USA);
-
Die
Wiederherstellung der traditionell fächerübergreifenden Konzeption der
Rhetorik in ihrem umfassenden Verständnis als Bildungssystem wie auch
gleichzeitig als Theorie wirkungsbezogener menschlicher Kommunikation, die
in der Angewandten Rhetorik ihre Praxis findet ("Tübinger Rhetorik");
-
(...) Das
breite Feld der Populär-Rhetorik, z. B. Verkäuferschulung,
Manager-Training, die meist auf niedrigem wissenschaftlichem Niveau
rhetorische Sozialtechnologie betreiben."
(Text übernommen mit freundlicher Genehmigung des Autors,
Seminar
für Allgemeine Rhetorik, Wilhelmstraße 50 72074 Tübingen, in
numerische Auflistung gesetzt durch d. Verf. )
In Schule und Unterricht ist die Rhetorik, insbesondere unter dem
Aspekt von Argumentationshandlungen und der Gestaltung von sprachlicher
Kommunikation im Allgemeinen, neben der eher traditionellen
literarischen Rhetorik, zwar auf zahlreichen Gebieten präsent, wird
aber, wenn sie selbst zum Thema unterrichtlicher Lehr- und Lernprozesse
gemacht wird (z. B. in rhetorischen Arbeitsgemeinschaften,
Debattierklubs nach angelsächsischem Vorbild oder in einzelnen
Projekten) von Lehrkräften "in der Regel dilettantisch aufbereitet, da
den Lehrern sowohl die rhetorische Grundausbildung fehlt als auch die
Weiterbildung in den Händen wenig qualifizierter Lehrkräfte liegt." (Ueding
2000a, S. 120)
Das harsche Urteil des Professors für Allgemeine
Rhetorik, dem sich aber im Tenor auch andere anschließen. So beklagen
Kolmer/Rob-Santer
(2002, S.35), dass sich Rhetorik heutzutage "zum größten Teil und in
Einseitigkeit auf die pragmatische Gebrauchsrhetorik des (Sich-)Verkaufens
und gelegentlich auf die Eristik im Jobkampf (beschränkt)." (Kolmer/Rob-Santer
2002, S.35).
Statt auf Schnellkurs-Konzepte rhetorischer
Unterweisung zu setzen, fordern sie daher vor allem von der Schule ein
stärkeres Engagement auf diesem Gebiet, denn auch um Rhetorik persönlichkeitsbildend wirken lassen zu können, brauche es Kenntnis und
Übung. Und: "Der passende Ausbildungsort der Rhetorik liegt damit, in
guter alter Tradition, wieder an den Schulen."