Neben dem ▪
reformpädagogischen Konzept
des freien Aufsatzes, das die normativen Begrenzungen des
gebundenen Aufsatzes überwand, spielte das
Konzept des sprachgestaltenden Aufsatzes eine wichtige,
zum Teil bis in unsere Zeit deutlich hineinreichende Rolle.
Ausdrucksbildung
und innere Sprachbildung
Anstelle des
ganzheitlich persönlichkeitsfördernden Konzepts der
Reformpädagogen richtete man die Aufmerksamkeit dabei auf die
sprachliche Gestaltung und den "richtigen Ausdruck“.
"Innere
Sprachbildung" war angesagt und mündete schließlich bis heute
"in ein vom Gegenstandsfeld her begründetes Modell des
Aufsatzunterrichts (…), das auf der Annahme basiert, es gäbe für
das Verhältnis von Inhalt und Form Gesetzmäßigkeiten, aus denen
bestimmte Anwendungsformen resultierten.“ (Fix
2006/2208, S.113)
Weil der Mensch
durch die Sprache in ein bestimmtes Verhältnis zur Welt trete,
so die Annahme, unterschied man vier bzw. sechs dieser
Verhältnisse bzw. "Haltungen", denen bestimmte "Stilformen"
entsprechen sollten.
Das Konzept des
sprachgestaltenden Aufsatzes geht auf eine ab Ende der 1920er
Jahre entstehende Gegenbewegung zum freien Schreiben zurück (Seidemann
1927). Sie entwickelte eine
Didaktik der
"Darstellungsarten", "die zum Schema der sogenannten
'traditionellen Aufsatzdidaktik' hinführt. Unterschieden werden
subjektive und objektive Schreibhaltungen: Auf der subjektiven
Seite stehen als Darstellungsarten Erzählung,
Schilderung und Besinnungsaufsatz und auf der
objektiven Seite Bericht, Beschreibung und
Erörterung (Ludwig
1988, S. 440). Die Kernidee ist das sprachgestaltende
Schreiben (ebd. S. 417 ff.) Dabei geht es um ein durch die
Aufsatzformen sprachlich vermitteltes kognitives Verhältnis zur
Welt; kommunikative Aspekte stehen ganz im Hintergrund. Das
Darstellungsarten-Konzept ist bis heute einflussreich und lebt
curricular fort in den sogenannten Schreibformen
(erzählendes, informierendes, argumentierendes usw. Schreiben)."
(Feilke
2017, S.155)
Diese
Auffassung liegt auch dem
systematisierenden Ansatz von Marthaler (1962) zugrunde, der
bei den sachlichen Darstellungsweisen den Bericht,
die Beschreibung und die Abhandlung, bei den
persönlichen Darstellungsweisen die
Erzählung, die Schilderung und die Betrachtung
voneinander abhob.
Dabei ging es
auch darum, offenkundige
Mängel des freien
Aufsatzes zu beseitigen.
-
So erkannte
man, dass man Kinder auch im Hinblick auf ihre Entwicklung
nicht sich selbst überlassen konnte, sondern ihnen alters-
und entwicklungsgerechte Angebote machen musste. Aus diesem
Grunde stellte man auf allgemeinen Erfahrungen beruhende
Texte mit Altersangaben zusammen und versuchte altersgemäße
Themen mit einem lebensweltlichen Bezügen in den
verschiedenen Schreibaufgaben zu berücksichtigen.
Zugleich wurden entwicklungstheoretische Überlegungen zur
Grundlage der bestimmten Altersstufen zugeordneten
Schreibaufgaben gemacht. So sollten "in den unteren Klassen
Beobachtungen aus dem Alltag festgehalten und einfache
Erlebnisse mitgeteilt und - als Phantasieaufsätze - auch
'Lebensmöglichkeiten' ausgedacht" werden. (Gansberg
1914, S.23, zit. n.
Fritzsche 1994, S.267), in der Mittel- und Oberstufe
galt es über all das hinauszusehen und die "von Generationen
überlieferten Erfahrungen" (Gansberg
zit. n.
ebd.) ins Blickfeld zu nehmen.
-
Aber auch der
mangelnde Bezug des freien Aufsatzes zu den zur
Lebensbewältigung in der Gesellschaft zu erwerbenden
Qualifikationen und Kompetenzen brachten das
reformpädagogische fundierte Konzept des freien Aufsatzes
mehr und mehr in die Kritik. Nicht wenigen erschien es als
"Illusion von Schöngeistern" (Fritzsche
1994, S.267), die den Bezug zur Realität verloren
hatten.
Diese in
gewisser Hinsicht auf pragmatische Nützlichkeit hin
ausgerichtete Kritik am freien Aufsatz schlug sich auch in der
Forderung nach einer sprachlich-stilistischen Gestaltung nieder,
die sich daran orientieren sollte, was in Wissenschaft,
öffentlichen Verlautbarungen und in der Presse gesprochen bzw.
geschrieben wurde.
Die
Kritik am Lebensbezug und an
seinem pädagogisch offenbar
nicht vertretbaren Maß der Selbststeuerung beim Schreiben
rückten im Konzept des sprachgestaltenden Aufsatzes die
Zweckorientierung an außerschulischen Erfordernissen
wieder stärker in den Vordergrund.
Dies führte aber zugleich auch zu einer schematischen Einübung
bestimmter Stilformen, mit denen im Aufsatz das jeweils
besondere Verhältnis zur Wirklichkeit einer jeden Schreibaufgabe
zu bearbeiten war.
Und so war es
bei der sprachgrstaltenden Konzeption Aufgabe der Schülerinnen
und Schüler, "aufgrund der Themenstellung zu erkennen, welche
'Stilform' nötig war, und dann den Aufsatz entsprechend der für
diese 'Stilform' gelernten Normen zu schreiben." (ebd.,
S.268) - Eine 180°-Kehrtwende gegenüber den Ansätzen der
Reformpädagogik.
Marthalers Matrix
der Aufsatztypen (1962)
Einer der
bekanntesten Versuche, die Vielfalt der
schulischen Schreibformen bzw.
Aufsatzformen in eine systematische Ordnung zu bringen, geht auf
Theo
Marthaler (1962) zurück, die konzeptionell auf seinen
Überlegungen zum sprachgestaltenden Aufsatz zurückgehen.
In Form einer
Matrix, die zwei verschiedene
Darstellungsweisen (sachlich, persönlich) drei
verschiedenen
Darstellungsgegenständen (zeitlich, räumlich, gedanklich)
zuordnete, gelangte er zu sechs verschiedenen Aufsatztypen.
Dabei betonte
er ausdrücklich, dass es sich bei diesen Aufsatztypen um
schulische Übungsformen handelte, die in dieser Art und Weise in
der kommunikativen Praxis außerhalb der Schule nicht vorkamen.

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Die
Matrixdarstellung Marthalers, die in der obigen Form ergänzt
wurde, geht von einem jeweils unterschiedlichen Subjekt- bzw.
Objektbezug bei den Darstellungsweisen aus. Bei den
objektbetonten Darstellungsweisen, den sachlichen Aufsätzen
(Bericht, Beschreibung, Abhandlung), "geht
der Schreiber von den Sachverhalten, also von den Objekten aus,
die mit dessen Hilfe dargestellt werden sollen" , bei den
subjektbezogenen Formen (Erzählung, Schilderung, Betrachtung)
"findet der Schreiber seinen Ausdruck in sich selbst als
Subjekt." (Necknig
2009, S.17)
Fritzsche (1994, S.30) betont in seiner Kritik an Marthaler
insbesondere die Tatsache, dass die Gesichtspunkte Zweck und
Ziel den beiden Darstellungsweisen einfach nur zugeordnet
würden, statt einer weiteren kategorialen Differenzierung zu
dienen.
Aller Einwände
zum Trotz war Marthalers Systematisierungsansatz, der auf
ähnlichen Versuchen aus dem 19. und 20. Jahrhundert fußte, mit
seinem Versuch, "die vorhandenen Aufsatzarten zu ordnen, ihnen
einen kommunikativen Zweck zuzuweisen, die geforderte geistige
Leistung anzugeben und den verlangten Stil zu charakterisieren“
(ebd.,
S.31), zumindest für die Aufsatzlehre der 1950er und 1960er
Jahren maßgeblich. Und auch heute ist sein
Klassifizierungsansatz in der schulischen Praxis nicht gänzlich
verschwunden.
Dabei ist
natürlich längst unbestritten, dass die Wirklichkeit eine
wesentlich größere Vielfalt, auch bloß schulischer
Schreibformen, kennt als die von Marthaler aufgeführten sechs
verschiedenen Aufsatzarten. Indessen waren sie aber ursprünglich
auch nur als "Stilübungen" konzipiert, mit denen sich die
Schülerinnen und Schüler sprachlich zur Wirklichkeit in ein
bestimmtes Verhältnis setzen sollten. Dass diese "Stilformen",
mit denen bestimmte Gegenstände inhaltlich und sprachlich
erschlossen werden sollten, nach und nach zu festgefügten, stark
formalisierten und normierten Aufsatzarten wurden, ist
vielleicht nicht zu vermeiden gewesen, entsprach allerdings
nicht den ursprünglichen Intentionen Marthalers.
In späteren
Jahren freilich war vor allem die "angebliche Trennbarkeit von
objektiv-sachlichem und subjektiv-persönlichem Schreiben" (Fix
2008, S.90) Anlass dafür, dass die zu sehr schematisierten
Darstellungsformen Marthalers in der Aufsatzdidaktik fast in der
Versenkung verschwunden sind, und das obwohl sich die Praxis des
Aufsatzunterrichts kaum änderte.
So betont Fix (ebd.),
dass in heutigen Bildungsplänen zwar Elemente des so genannten
freien, kreativen und produktiven Schreibens hinzugekommen
seien, welche vor allem die Schilderung ersetzt hätten, zugleich
finde man aber "immer noch in erster Linie Aufsatzarten, die
Marthalers Einteilung in individuell-subjektive Erlebnissprache
und objektive Sachsprache nur leicht modifizieren: Abhandlung
und Betrachtung werden unter dem Etikett der linearen und
kontroversen Erörterung geführt, ergänzt wurden noch die
Inhaltsangabe und die Interpretation sowie verschiedene
Unterarten (in der Grundschule vor allem die Bildergeschichte
als Form der Erzählung." (vgl. auch:
ISB (Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.13ff.)
Schulisches
Schreiben als Drill textmusterkonformem Schreibens
In der
Unterrichtspraxis führte die Orientierung an diesen Aufsatzarten
zu stereotypem Drill textsortenkonformem Schreibens.
Dabei wurde
meistens das
deklarative Wissen über bestimmte
Textsortenmerkmale eindeutig wichtiger genommen als
Textsortenwissen/Textmusterwissen,
das sich als
Handlungswissen zur Problemlösung (=Problemlösewissen)
versteht (vgl.
ebd
) oder, wie es
Fritzsche (1994, S.32) ausdrückt, als
"Erschließungsinstrumente" für Inhalte, die "dem genauen
Wahrnehmen und Verstehen" von "äußerer Wirklichkeit",
"Meinungen, Gedanken, Vorstellungen" und "Texten" dienen.
Rückbesinnung auf
Elemente des sprachgestaltenden Aufsatzunterrichtes?
Auch wenn die
traditionelle Aufsatzehre mit ihren starren Kategorien zu Recht
in die Kritik geriet, ist offenbar in den letzten Jahren eine
Tendenz zu spüren, die "die
Leistungen des klassischen Aufsatzunterrichts"
(ISB (Hg.) (2010), Neues Schreiben, Bd.1, S.14) wieder
stärker würdigt.
So wird sogar
von einer "Rückbesinnung" (ebd.)
auf die Tatsache gesprochen, "dass junge Menschen in der
modernen Leistungsgesellschaft auf schriftliche Examina
vorbereitet werden müssen".
Überhaupt
hätten die (Text-)Normen und ihre Einhaltung an Bedeutung
gewonnen, "wie sie (auch) an schulspezifischen Textsorten geübt
werden können."
Und schließlich
griffen auch "Schreiblehrer immer wieder auf das große Reservoir
konventioneller Schreibmethoden zurück (z. B. zum Auffinden und
Ordnen von Inhalten, zum Gliedern von Texten, zum Variieren von
Satzbau und Vokabular) - auch wenn sie Aufbauprinzipien und
stilistische Fragen im Einzelfall nicht vorschreiben, sondern
mit ihren Schülerinnen und Schülern 'aushandeln'." (ebd.)
Ja selbst die
lange Zeit als unverzichtbar geltende kommunikative Einbettung
von Schreibaufgaben ist einer sehr flexiblen Schreibpraxis
gewichen, die mit Blick auf schwächere Schüler davon absieht.
Nicht zuletzt
aber erfahre die herkömmliche Aufsatzehre aber auch deshalb eine
Neubewertung, weil das Beharren auf einer konzeptionellen
Schriftlichkeit besonders viele Deutschlehrer unter den
Bedingungen einer allgemeinen und sehr weit greifenden
Media-literacy für sich einzunehmen versteht. (vgl. auch:
Fix
2006/2008, S.115)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.11.2022
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