Ist das Nacherzählen "out"?
Im Alltag kommt es heutzutage nicht unbedingt allzu oft vor, dass
wir jemandem eine Geschichte nacherzählen, die wir irgendwo gehört,
gerade gelesen, vor kurzem im Fernsehen, im Kino oder Theater
gesehen haben.
Selbst wenn wir Aufforderungen bekommen wie "Erzähl mal, wie war
der Roman!" wissen wir, dass damit in der Regel nicht gemeint ist,
die Geschichte möglichst textgetreu, dazu noch in möglichst in
vielen anschaulich erzählten Einzelheiten zu Gehör zu bringen.
Stattdessen will das Gegenüber in der Regel nur ein paar
Informationen über den Inhalt und ein Urteil darüber, wie das Buch
einem gefallen hat und gegebenfalls warum.
Und auch Eltern haben die Rolle der Märchennacherzähler in einer
Zeit, in der Bücher überall verfügbar sind, aufgegeben und sind beim
abendlichen Vorlesen gelandet.
So gesehen ist das Nacherzählen von Geschichten in einer medialen
Welt, in der die Originalgeschichte kaum ein oder zwei Mausklicks
weit entfernt ist, heute alles andere als angesagt.
Die Nacherzählung unterscheidet sich von anderen schulischen
Schreibformen des Erzählens
Der Ausgangspunkt einer ▪ Nacherzählung
ist verglichen mit anderen ▪ schulischen
Schreibformen des (schriftlichen) Erzählens ein anderer.
-
Im Gegensatz zur
Erlebniserzählung
liegt der Nacherzählung kein eigenes Erlebnis zugrunde, über das
erzählt werden soll.
-
Ebenso wenig geht
der Erzählimpuls von einem Bild aus, dessen
Bildgeschichte (auch:
Bildergeschichte) erzählt oder weitererzählt werden soll.
-
Und eine reine
Phantasiegeschichte, frei erfunden und oft weit entfernt von
der Realität und dem wirklichen Leben, soll ebenfalls nicht
erzählt werden.
Die Nacherzählung
bewegt sich im im Kontext des
textnahen Lesens
und zielt u. a. auf die Verbesserung der Kompetenzen beim sinnerfassenden
Lesen. In ihrer schriftlichen Form lieg sie zwischen Textaneignung
und Interpretation.
Reproduzierendes Nacherzählen in der Schule nur in Ausnahmefällen
Früher, als man sich wenig Gedanken darüber machte, ob ▪
schulische
Schreibformen einen Bezug zur künftigen Lebenspraxis von
Schülerinnen und Schülern hat, stand das mündliche und schriftliche
Nacherzählen allerdings hoch im Kurs. Das Hautargument: Wer dem
sprachlich-literarischen Muster einer meist mündlich vorgetragenen
Vorlage möglichst textgetreu und mit zahlreichen Einzelheiten folgen
kann, der verbessert neben seiner Konzentrationsfähigkeit vor allem
sein Sprachvermögen. (vgl.
Fritzsche 1994, S.139)
Heute hält man in der Schule wenig vom traditionellen Nacherzählen "als 'bloße'
Gedächtnisübung' und papageienhafte(n) 'Nachsagen' (Sennlaub 1980)" (ebd.).
Moderne Formen des Nacherzählens in der Schule
Heutzutage begegnet einem die Nacherzählung in einem meist
gestalterisch angelegten, kreativen Schreibprozess, der die
"sklavische" Bindung an den nachzuerzählenden Text im Sinne von
Texttreue überwunden hat und sie stärker kommunikativ ausrichtet.
Man kann z. B. nach Frommer (1984) noch drei weitere Formen der
Nacherzählung unterscheiden, bei denen es nicht mehr darauf ankommt,
ob sie dem Ausgangstext inhaltlich und sprachlich weitgehend
entsprechen, sondern darauf wie sie ihren Bezug darauf gestalten:
- aneignende Nacherzählung
Dabei kann sich der Verfasser bzw. die Verfasserin die Vorlage
weitgehend willkürlich zu eigen machen und sie so verändern, wie
es seinem eigenen Textverständnis entspricht.
-
partnergerichtete Nacherzählung
Bei diesem Typ soll sich die Nacherzählung an einem vorgegebenen
Adressaten orientieren und z. B. dessen Auffassungsvermögen und
Interesse berücksichtigen.
- literarische Nacherzählung
Hier soll der Verfasser
/ die Verfasserin der Nacherzählung bewusst selbst gewählte
sprachliche Mittel zur Gestaltung seiner Nacherzählung
verwenden.
Textproduktive Verfahren beim Nacherzählen
Außer den genannten Nacherzählungstypen lassen sich auch
bestimmte textproduktive Verfahren beim ▪
kreativen
Schreiben zur Nach- und Umgestaltung in schriftlicher Form
vorgelegter Texte (▪
produktive Textarbeit) als
Formen der Nacherzählung auffassen, auch wenn es sich dabei eher um
einen Umerzählungsvorgang handelt. Weil es bei diesen Umerzählungen
mehr auf die gestalterischen Fähigkeiten des Verfassers ankommt, hat
man das dabei entstehende Textprodukt auch
umgestaltende Nacherzählung (N. Menzel 1984) genannt.
Wenn dabei die Perspektive des Erzählers verändert werden soll,
kann man auch von einer
perspektivisch-umgestaltenden Nacherzählung sprechen.
Solche nacherzählenden Umgestaltungen können sehr vielfältig sein
und mit unterschiedlichen Schreibaufträgen verbunden werden, die bis
hin zur Travestie
oder Parodie
gehen können. (vgl.
Fritzsche 1994, S.140)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
28.06.2024
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