Im schulischen Bereich ist die Orientierung an einer eng gefassten, regelorientierten Definition einer "Schulform"
des Essays und der Versuch einer zweifelsfreien Zuordnung von
Textproduktionen zum Genre wenig hilfreich.
Aus diesem Grunde hat
Stadter (2003/2004, S.37) auch zu Recht vorgeschlagen, statt "Schreiben
von Essays" den Terminus "essayistisches
Schreiben" zu verwenden, da dieser "die Vielfalt des Genres"
andeute, "das durch seine Nähe zu
Feuilleton, Charakteristik,
Interpretation, Fachaufsatz, Reisebeschreibung, Predigt usw. zahlreiche
Schreibaufgaben ermöglicht." Zugleich betont sie auch, dass dieses "am
Schreibhandeln orientierte Konzept die Schülertexte vor übersteigerten
Erwartungen, die auf elitären Ansprüchen an den Essay beruhen", bewahren
kann. (ebd.)
Diese Position wird auch von
Hertweck/Langermann/Wuttke (2010, S.25) unterstützt, welche die
"experimentelle Art, sich dem Gegenstand zu nähern und ihn aus verschiedenen
Perspektiven zu betrachten" als strukturbildendes Merkmal des "Denkversuchs"
Essay ansehen, der in der Methode essayistischen Schreibens münde, bei der
es vor allem auf das "Entwickeln der Gedanken vor den Augen des Lesers"
ankomme. Damit schließen sie an die französische Tradition des Essays an.
die von Michel de Montaigne begründet worden ist.(→Michel de Montaigne
(1533-1592): Die französische Tradition des Essay).
Für Fritzsche
(1994, S.117f.) gehören der Essay, der seinen Leser nicht nur
überzeugen, sondern auch geistvoll unterhalten wolle, wie die sich an der
Wissenschaft orientierende erörternde Abhandlung zu den argumentativen
Texten, die er im Umfeld des →erörternden
Schreibens in der Schule verortet.
Der Essay
Einige Kritiker des schulischen Essays schließen sich bis heute den
allseits bekannten Einwänden an, die schon Max
Bense (1952, zit. n.
Fritzsche 1994,
S.117) formulierte, als er betonte, dass "der Essay die am schwierigsten zu
meisternde wie auch zu beurteilende literarische Form darstellt". Die
Argumente, die für und gegen das essayistische Schreiben in der Schule
vorgebracht werden, reflektieren dabei auch die Tatsache, dass der Essay, so
motivierend die Schreibform auch für den einzelnen sein mag, nicht für alle
Schülerinnen und Schüler eine angemessene Form des argumentativen Schreibens
darstellt. Wenn das essayistische Erörtern dem einen "also persönlicher und
weniger trocken, stereotyp und langweilig" vorkommt, ist dem anderen mit der
eher lehr- und lernbaren Orientierung an Schemata des herkömmlichen
Erörterungsaufsatzes eher geholfen, auch wenn letztere wegen inhaltlicher
Überforderung dann "eine hausbackene, biedere schulische E(rörterung)"
abliefern. (Fitzsche
1994, S.117)
Nach
Hertweck/Langermann/Wuttke (2010, S.25) müssen vom Verfasser eines Essays vor allem
die folgenden "Eckpunkte" beachtet werden:
-
Das Thema des Essays muss von Anfang an klar ersichtlich
sein und sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text
hindurchziehen.
-
Gestaltungsmittel des Essays (assoziative Gedankenführung,
Wechsel der Perspektiven, subjektive Sicht, Durchspielen von
Möglichkeiten) müssen funktional dazu dienen, Reaktionen und Denkanstöße
bei dem jeweiligen Leser auszulösen.
Das Anforderungsprofil, das ein Schüler bzw. eine Schülerin beim
Verfassen eines Essays erfüllen muss, ist sehr komplex und stellt Schule und
Unterricht vor neuartige oder zumindest neu zu akzentuierende
Herausforderungen in der Methodik und Didaktik. Dabei
steht immer wieder die Frage im Raum, "inwiefern sich der Essay überhaupt
als unterrichtbar erweist" (Ulmer
2012, S.13, vgl.
Hussong 1982,
S.155) Wird diese Frage unter Heranziehung der entsprechenden
Bildungsstandards und
Kompetenzbereiche und
Kompetenzen erörtert, so kann sie mit den dabei geförderten Kompetenzen
(Sprach- und Schreibkompetenz, Lesekompetenz, kulturelle Kompetenz und
ganzheitliche Persönlichkeitsbildung) ebenso bejaht werden wie mit dem Bezug
auf die Arbeits- und
Anforderungsbereiche
(Afb 1
und Afb
2) (vgl. ebd.,
S.13f.) (→Bezug zu den Bildungsstandards, Ba-Wü)
Eine Didaktik und Methodik des essayistischen Schreibens, das die
besonderen Qualitäten der Schreibform im Rahmen der Kompetenzentwicklung ins
Auge fasst, muss das personal-kreative als auch das argumentativ-diskursive,
sowie das ästhetische Potential der Schreibform entfalten. Dazu gehören u. a.
(vgl. Stadter (2003/2004, S.41ff.)
-
die frühzeitige, schon in der Primarstufe einsetzende und in der
Sekundarstufe I fortzuführende, fächerübergreifende Schreibförderung und
das Einüben unterschiedlicher Schreibrollen
-
"die Einsicht, dass Schreiben etwas mit der Persönlichkeit, den
Erfahrungen und der Sprache des Verfassers zu tun hat" (ebd.,
S.42)
-
offen gestaltete Lernumgebungen, bei denen die schnelle
Stoffvermittlung nicht im Zentrum steht
-
individuelle Betreuung und Beratung durch die jeweilige Lehrkraft
bzw. einen Schreibtrainer
In einer "Sphäre der Ermutigung", wie dies offenbar beim essay-writing
in Großbritannien der Fall ist, sind die Lehrkräfte besonders gefragt. Sie
funktioniert sie dort letzten Endes nicht nur deshalb, "weil Lehrer und
Lehrerinnen selber gerne und gut schreiben, weil sie ausgiebige Korrekturen
und Beratungen leisten und weil Schreiben nicht nur im muttersprachlichen
Unterricht, sondern auch in den übrigen Fächern praktiziert und also solches
entwickelt und bewertet wird." (ebd.,
S.41)
Eine Reihe wohlgemeinter Aufforderungen, so möchte man anfügen, die
angesichts des Belastungsprofils deutscher Lehrerinnen und Lehrer wohl nicht
ohne Weiteres Realität werden können. Wenn heutzutage nicht einmal das "
argumentative Prüfungsschreiben" hinreichend geübt wird, bleiben solche
weitreichenden Überlegungen leicht auf der Strecke.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.12.2023