Die
▪ literarische Charakteristik
ist eine schriftliche Form der Texterschließung, deren Ziel ein vertieftes
Textverständnis ist. Ihre Besonderheit ist dabei die intensive,
schreibaufgabenspezifische Beschäftigung mit den fiktionalen Figuren, deren
Eigenheiten und Handlungsweisen einen Zugang zum Verständnis des Textes schaffen
und der Verständigung darüber schaffen sollen.
Als ▪ schulische Schreibform
kann sie als eigenständige Form, diesen Erschließungsprozess organisieren und
dokumentieren. Sie kann aber auch, insbesondere in der Sekundarstufe II, in
komplexer angelegte Schreibaufgaben zur ▪
Interpretation oder ▪ Erörterung
literarischer Texte eingebettet sein. Hier ist die literarische Charakteristik im Arbeitsbereich
▪
Textinterpretation
eingeordnet, weil ihre spezifische Zielsetzung, nämlich die Herausarbeitung
von aufeinander bezogenen Aussagen über das Äußere, die psychischen
Dispositionen, soziale Lage usw. immer auch eine Interpretationsaufgabe
darstellt, die über das reine Erfassen von beschreibenden Textinhalten
hinausreicht. Im Rahmen der literarischen Charakteristik geht es um
die Erfassung von wesentlichen Merkmalen und Eigenschaften einer oder
mehrerer
Figuren
in einem literarischen Text. Dabei soll auch herausgearbeitet werden, wie
die einzelnen Merkmale und Eigenschaften aufeinander bezogen sind.
Das Charakterisieren einer literarischen Figur muss stets mit einem klaren
Textbezug erfolgen. Was über eine Figur bei der literarischen Charakteristik
also ausgesagt wird, muss sich plausibel auf den Text stützen.

Person, Figur, Typus oder individueller Charakter
Wenn eine Figur in einem fiktionalen Text charakterisiert werden soll, muss
nicht nur herausgearbeitet werden, welche Eigenschaften eine Figur besitzt,
sondern vor allem wie die
einzelnen die Figur charakterisierenden Merkmale und Eigenschaften aufeinander
und das gesamte dargebotene Geschehen bezogen sind.Im Kontext von
Schreibaufgaben zur literarischen Charakteristik tauchen immer wieder vier
Begriffe auf, die in der Literaturwissenschaft keineswegs einheitlich verwendet
werden. Dementsprechend kann und soll an dieser Stelle auch nicht der Versuch
unternommen werden, diese Begriffe eindeutig zu definieren und klar voneinander
abzugrenzen. Stattdessen wollen wir ihre Verwendung im Kontext teachSam
erklären. S
Wenn wir im Alltag von Charakter sprechen, meinen wird damit üblicherweise
eigentümliche Eigenschaften und Eigenarten eines Menschen und sprechen in diesem
Zusammenhang auch von den Charakterzügen eines Menschen, die wir bestimmten
Einzelpersonen oder Personengruppen zuschreiben. Der Begriff steht dann für das
Gefüge ererbter oder erworbener Eigenschaften und Verhaltensweisen, die den
einzelnen Menschen als von anderen unterschiedliches Individuum erscheinen
lassen. In der Alltagssprache spricht man dabei häufig auch von der
Persönlichkeit oder dem Wesen eines Menschen.

Lange war auch die Charakterologie
ein anerkanntes Teilgebiet der Psychologie. Dabei ging man davon aus, dass
jedes Individuum eine in seinem Wesen verankerte unveränderliche Eigenart
besitzt, die seinen Charakter ausmacht. Heutzutage sind solche
Überlegungen überholt, auch wenn die Frage nach der Einzigartigkeit der
Persönlichkeit und ihrer charakteristischen Verhaltensmuster die ▪
Persönlichkeitspsychologie noch immer beschäftigt. (vgl.
Zimbardo/Gerrig 2004,
S.601ff.)
In der Literaturwissenschaft umgrenzen die Begriffe Person, Figur,
Charakter und Typus das Feld, wenn von dem Charakter literarischer Figuren
gesprochen wird.
-
Dabei verwenden wir
die Begriffe Person und Figur im Kontext der Analyse und Interpretation
literarischer Texte weitgehend synonym. sprechen z. B. von der Personen-
oder Figurenrede, vom Personen- oder Figurenverzeichnis, von der
Charakterisierung einer (literarischen) Figur oder (literarischen) Person.
Soviel soll aber
zumindest angedeutet werden, wenn die Begriffe Person und Figur mitunter
abgegrenzt werden: Person (lat. persona = Maske des Schauspielers) steht
dann für den Mensch als geistiges Einzelwesen, im Drama z. B. zur
Bezeichnung des Schauspielers mit Körper und Stimme (dramatis personae).
Figur (lat. figura = Gebilde, Gestalt) hingegen wird verwendet, wenn die
literarische Figur als Kunstfigur als vom Autor geschaffene Figur gemeint
ist.
Charakter |
Typus |
Individualisierte Figur in
einem erzählenden oder dramatischen Text
-
weist eine Vielzahl von
Merkmalen in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht auf
-
Merkmale können auch
widersprüchlich sein
Beispiele:
Maria Stuart,
Konsul Buddenbrook,
Nathan der Weise
|
Nicht-individualisierte Figur
in einem epischen oder dramatischen Text
-
gr. typos = Abbild,
Muster, Schlag
-
weist nur die Merkmale
auf, die ihn einer bestimmten Gruppe zugehörig erscheinen lassen
Beispiele: Der
Geizige, der Gelehrte, der Schürzenjäger, der Morgenmuffel |
Dabei ist die Frage, ob ein Autor in seinem Werk eine Figur oder einen
individuell ausgeprägten Charakter gestaltet, auch in ihrem literatur- und
sozialgeschichtlichen Kontext zu sehen, denn die Bedeutung, die dem einen oder
anderen verliehen wurde, spiegelt nicht nur epochenspezifische Welt- und
Menschenbilder, sondern auch innerliterarische bzw. genre- oder gattungsbezoge
Bezüge. So ist es beispielweise im naturalistischen Drama konzeptionell
unabdingbar, dass auf der die möglichst perfekte Wirklichkeitsillusion
erzeugende Bühne Charaktere zeigt, während z. B. das absurde Drama, das die
Existenz menschlicher Individualität negiert, keine Charaktere brauchen kann.
-
In jedem Fall soll das Herausarbeiten und Darstellen von bestimmten
Merkmalen, die eine Figur charakterisieren, kein Selbstzweck sein, das mit dem
Ziel betrieben wird, alles dafür in einem Text Vorhandene strukturiert
aufzulisten.
-
Ebenso wenig soll damit angestrebt werden, eine Figur quasi aus dem
Werkkontext herauszulösen und zu "behandeln, als sei diese ein lebender Mensch." (ISB
(Hg.), 2010, Bd. 2, S.364)
Wird eine Figur eines literarischen Textes
charakterisiert, dann soll sie damit also nicht veranschaulicht, verlebendigt oder
geschildert werden, sondern als eine "Kunstfigur" erfasst und beschrieben
werden. (vgl.
ebd.)
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
29.06.2020
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