Wenn die ▪ Textwiedergabe das Wesentliche eines Textes in sprachökonomisch
verkürzter Form zusammenfassen soll, dann ist
Frage, was das
Wesentliche eines Textes ausmacht, von zentraler Bedeutung.
So
unverzichtbar die Antwort darauf erscheinen mag, so wenig lässt sich jedoch eine
eindeutige Antwort darauf geben. Was wesentlich ist, liegt eben, wie man
gerne sagt, durchaus auch im Auge des Betrachters.
Das Wesentliche eines Textes ist jedenfalls keine objektive
Texteigenschaft bzw. eine Eigenschaft bestimmter Textelemente.
Es lässt sich auch nicht mit empirischen Methoden der
»Inhaltsanalyse ermitteln. Das, was wir für wesentlich in
einem Text ansehen, ist nichts anderes als ein intrapsychisches
Konstrukt des jeweiligen Lesers, das sich bei der Rezeption
eines Textes bildet und von zahlreichen Faktoren abhängt.
Textrezeption und Textverstehen sind schließlich, vom Rezipienten her
betrachtet, niemals voraussetzungslos.
Nichtzuletzt deshalb werden Texte auch unterschiedlich erfasst, weil sie auf jeweils
unterschiedliche, individuelle
Verstehenshorizonte treffen, die, z. B. ganz allgemein gefasst, das
jeweilige Weltwissen,
Handlungswissen
und vorhandene
konzeptionelle
Deutungsmuster umfassen. (vgl.
Linke/Nussbaumer/Portmann
1994, S.228) Der Leser / Schreiber greift darauf ebenso zurück wie auf
Lese- und Schreiberfahrungen (literale
Prozeduren und
Routinen) und sein Wissen über Texte (Textmuster-
und
Textsortenwissen,
Textstrukturwissen).
Als das allgemeine Ziel beim Zusammenfassen von Texten wird
gemeinhin gesehen, dass bei Schreibaufgaben dieser Art "wichtige von unwichtigen Inhaltselementen zu trennen, das Wichtige
neu zu verknüpfen und
auf einer
abstrakteren Ebene zu reformulieren" ist.
(Steets 2007,
S.84ff., Hervorh. d. verf.) Diese
Reformulierung wird auch als
Rekapitulation bezeichnet.
Das Schreibprodukt Textwiedergabe soll einem Leser - so die
gängige Überzeugung -, "der den Primärtext nicht oder nur
unzureichend kennt, eine möglichst genaue Textkenntnis zu
vermitteln." (ebd.)
Das ist leichter gesagt als
getan. Die
Rekapitulationskompetenz, die ein Schreiber dazu braucht,
fällt schließlich nicht vom Himmel, sondern muss wie andere
Kompetenzen auch erworben und nach und nach vertieft werden. Zu
ihr zählen Fähigkeiten, die zur allgemeinen
Lesekompetenz
und der
Schreibkompetenz zählen.
Die Fähigkeit, das
Wesentliche eines Textes zu erkennen, kann sich nur an
Kriterien
ausbilden, die in schulischen Lernprozessen zu vermitteln sind.
Gerade Schülerinnen und
Schüler tun sich damit häufig schwer. Sie sind oft sehr
verunsichert, weil sie nicht wissen, was sie "weglassen" und was
sie wiedergeben sollen. Erhalten sie in unterrichtlichen
Lernprozessen die Rückmeldung, dass sie sich mit zu
"Nebensächlichem" bei der Textwiedergabe befasst haben,
erscheint ihnen das nicht selten als reine Lehrerwillkür.
(▪
Woher soll ich wissen,
was wichtig und was unwichtig im Text ist?)
Sie haben in der Regel
gerade bei Textzusammenfassungen keine Vorstellung über den
Zweck und den Adressaten ihres Schreibens und arbeiten das
Textmuster, das ihnen die Schreibaufgabe abverlangt, mechanisch
ab, weil sie sich keinen problemlösenden Schreibprozess mit
passenden Schreibzielen zu eigen machen können. Mit dem Finden
von Kriterien dafür, was relevant und was nicht relevant für
einen Text ist, fühlen sie sich alleingelassen.
Die Frage, was in einem Text
wesentlich ist, fällt in den Bereich der Planung des
Schreibprozesses bei der Bewältigung der Schreibaufgabe. In
dieser Phase müssen die Schülerinnen und Schüler selbständig
Relevanzkriterien für den ihnen vorliegenden Primärtext finden.
Dabei können sie sich auf
ihr Weltwissen,
ihr
thematisches Wissen, ihr
Textmuster-
und
Textsortenwissen, ihre Schreiberfahrungen einschließlich
geeigneter
Schreibstrategien bei
Schreibaufgaben zur Textwiedergabe stützen.
Zugleich müssen sie lernen,
sich passende "Relevanzkriterien"
auf zweierlei Weise herzuleiten. Dazu gehört, dass sie diese herleiten
-
"aus dem Text
und seiner Struktur selber, nämlich aus der gegebenen
argumentativen bzw. narrativen Struktur, indem diese zu
größeren und abstrakteren Einheiten begrifflich
zusammengefasst werden (Makrostrukturen)"
-
"aus dem
konkreten Handlungszusammenhang [..], das heißt aus der
eigenen Fragestellung" (Becker-Mrotzek/Böttcher
2011, S.176, Hervorh. d. verf.)
Bei einfachen
Schreibaufgaben nach dem Muster "Verfassen Sie eine
Inhaltsangabe zu dem Text.", die sonst keinen konkreten
Handlungszusammenhang anbieten, ist die erste Variante zur
Generierung von Relevanzkriterien am Zug. Die Feststellung
allein macht die Sache indessen nicht leichter.
Die
Festlegung, dass die Zusammenfassung "dem Primärtext nichts
hinzufügen und nichts Wesentliches weglassen (darf)" (ebd.
S.185) allein reicht jedenfalls nicht, um "Schülern konkrete und
nachvollziehbare Einsichten in das Verfassen, die Struktur und die Funktion
von Zusammenfassungen" (ebd.)
zu vermitteln.
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
16.02.2023