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Jeder hat heutzutage bei uns Bilder vom Krieg und von Menschen im
Krieg im Kopf. Die ganz Alten hierzulande und viele hundert deutsche
Soldaten, die im Ausland ihren Dienst in sogenannten "Friedensmissionen"
in Afghanistan, Mali oder sonstwo leisten, haben ihn unmittelbar erlebt,
viele Millionen andere glauben, ihn zu kennen durch die Bilder, die
ihnen durch die Medien vermittelt werden.
Wer Wolfgang Borcherts
Kurzgeschichte »Die
Küchenuhr« liest, die wird je nachdem, wie stark diese inneren Bilder
sind und welche Dynamik sie entfalten, sie schon nach den ersten Zeilen
mitnehmen, wenn er sich in die weitere Geschichte vertieft.
So kann es sein, dass man sich versetzt glaubt nach »Dresden
in die unmittelbare »Zeit
nach dem Feuersturm vom 14. Februar 1945, nach »Homs
in das vom jahrelangen Bürgerkrieg geschundene
Syrien oder in
das »jeminitische »Sa’da,
das die von »Saudi-Arabien
angeführte Militärallianz 2015 als Ganzes zu einem "militärischen" Ziel
erklärt und im Bombenkrieg verwüstet hat. Und unter und zwischen oder
auch ohne solche realitätsbezogenen Bilder können sich noch
"Kriegseindrücke" aus einschlägigen Hollywood-Blockbustern oder
virtuellen War-Games mengen.
Wolfgang Borchert hat seine Geschichte knapp zwei Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1947 verfasst und im selben Jahr wurde
sie in der Hamburger Allgemeinen Zeitung erstmals veröffentlicht.
Borchert, der wie kaum ein anderer als Autor die so genannte "Stunde
Null" repräsentiert, deren Menschen im ausgebombten und kriegszerstörten
Deutschland er in etlichen Kurzgeschichten und vor allem seinem
Heimkehrer-Drama "Draußen vor der Tür“ eine Stimme gab, starb noch im
gleichen Jahr im Alter von 26 Jahren an den Folgen seiner
Kriegsverletzungen, die er sich während mehrerer Einsätze an der Front
zugezogen hatte, wohin er, wenn er während des Krieges nicht wegen des
Verdachts auf Selbstverstümmelung und wegen Briefen, die angeblich
"heimtückisch“ gegen den NS-Staat und die Partei Hitlers gerichtet
waren, im Gefängnis saß, solange zur "Frontbewährung" abkommandiert
wurde, bis man ihm wegen Erfrierungen an beiden Füßen, Anfällen von
Gelbsucht und Fleckfiebers "Frontdienstuntauglichkeit" attestierte und
ihn wieder wegen "Wehrkraftzersetzung“ für neun Monate in
Untersuchungshaft steckte. Danach: Noch einmal "Strafaufschub zwecks
Feindbewährung", französische Kriegsgefangenschaft und Flucht daraus
nach Hamburg, wo er, ohne auf seinen gesundheitlichen Zustand Rücksicht
zu nehmen, auf dem Krankenlager unablässig schreibt und mit seinen
Werken einen regelrechten "Borchert-Rummel" auslöst. Kaum ein Autor hat
den Nerv seiner Zeit so getroffen, wie Wolfgang Borchert. Allerdings
bleiben im gerade mal zwei Jahre zum Schreiben seiner Werke, die oft
ohne ihren Gehalt auch nur annähernd zu erfassen oft einfach als
"Trümmerliteratur" bezeichnet werden.
Das Bild, das Borcherts Geschichte an ihrem Anfang erzeugt, ist, ein
Blick in bzw. auf ein "ganz altes Gesicht" (Z. 1f., 2, 61, Hervorh. d.
Verf.) eines jungen Mannes (Antithese),
der gerade mal zwanzig Jahre alt ist. Das Gesicht, das nicht zu einem
jungen Mann passt, der sich ansonsten noch so bewegt, wie das junge
Leute dieses Alters tun, fällt auch den Menschen sofort auf, als er auf
sie zukommt und sich zu ihnen auf die Bank setzt. Dem jungen Mann
scheint regelrecht ins Gesicht geschrieben zu sein, was er erlebt hat
und so erwähnt es auch der Erzähler erneut, als er berichtet, der junge
Mann "setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank." (Z.
2f.) Sein um Jahre gealtertes Gesicht spricht Bände und dennoch kommen
die Erlebnisse, die es bewirkt haben, zwischen den Banknachbarn, erwähnt
werden eine Frau mit einem Kinderwagen (Z. 14f.) und ein Mann (Z. 14,
25), nicht zur Sprache.
Der junge Mann beginnt zu reden, ohne angesprochen worden zu sein oder
ohne dass sonstige positiven Signale zur Aufnahme einer Kommunikation
von den anderen gesendet worden sind. Was er sagt, bewegt ihn offenbar
so, dass er es einfach aussprechen muss.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023