Sexualität ist ein Tabuthema und darum wird das Reden darüber nicht gelernt
- nicht in der Schule, kaum in der Familie, meistens noch nicht einmal mit
dem Menschen, mit dem Sexualität gelebt wird. Das Thema ‘Sexualität’ wird
sogar dann noch oft gemieden, wenn es sich bei dem Gesprächspartner um einen
geliebten, vertrauten Menschen handelt, mit dem eigentlich sonst ‘über
alles’ geredet werden kann.

- Es ist ‘irgendwie unangenehm’;
- es fehlen die Worte oder es sind nur die ‘falschen’ Worte im
Angebot;
- es soll nicht zerredet werden, was ‘man doch fühlen muss ’;
- oder irgendwann ist ein Versuch gemacht worden, ‘darüber’ zu
reden, bei dem man lächerlich gemacht worden ist;
Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass das Reden über Sexualität
vielen Menschen Schwierigkeiten macht.
Redensarten
Sprache ist ein wichtiges Medium der Verständigung von Menschen. Mit
Sprache kann ich mich äußern. Ich kann Probleme benennen, Wünsche
formulieren, darstellen, was ich will und was nicht. Ich kann Fragen stellen
und welche beantworten. Ich kann mich ausdrücken.
Das angestrengte Vermeidenwollen, über Sexualität zu sprechen,
behindert sicherlich. Wie allerdings über Sexualität gesprochen wird, dafür
gibt es kein Rezept.
Es wird leise, heimlich, lieblos, laut, oft schüchtern, nur unter
Freunden und Freundinnen, medizinisch, falsch, spitz, belehrend, geil,
weinend, witzig, gemein, kindisch und kindlich, klug und neunmalklug,
protzig und neugierig über und von Sexualität gesprochen.
Es gibt:
-
die ‘neutrale’ Sprache, die von ‘Geschlechtsverkehr’ redet;
-
die Sprache der Verliebten;
-
die romantische Sprache in Gedichten und Romanen;
-
die Modesprache, die Motorräder und knackige Jungenhintern ‘echt geil’
findet;
-
die medizinische, Schulbuch- und Aufklärungssprache, die von ‘Vagina’,
‘Penis’, möglicherweise im Zuge der Sexualaufklärung sogar von
‘Oralverkehr’ spricht;
-
die Werbesprache, die empfiehlt, sich einen zu ‘noggern’;
-
die Sprache beim Schimpfen, die jemanden als ‘Arschficker’ oder
‘Fotze’ bezeichnet;
-
die ‘Macker-Sprache’, bei der Frauen zu ‘Schnallen’ und ‘Perlen’
werden.
Und dann gibt es noch
-
die Sprache eines 30-jährigen Vaters, der seiner fünfjährigen Tochter
erklärt, wie Kinder gemacht werden;
-
die gemeinsame Sprache des jungen türkisch-deutschen Paares, das ihre
Liebe geformt hat
-
und viele andere Varianten des Redens von Sexualität.
Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Sprache.
Eine Volksgruppe sollte nicht zur Aufgabe ihrer Sprachkultur
gezwungen werden, ein phantasierendes Kleinkind nicht zum ‘ordentlichen
Reden’.
Andererseits nützt Sprache nur, wenn Menschen sich um
Verständlichkeit bemühen. Das Desinteresse aneinander spiegelt sich oft in
der überheblichen Ignoranz der Ausdruckseigenarten von anderen.
Niemand sollte überredet und zum Schweigen gebracht werden.
Jeder Mensch hat ein Einspruchsrecht, wenn er sich falsch verstanden und
interpretiert fühlt:
Wenn ständig der Junge für seine Freundin antwortet;
wenn der Lehrer etwas angeblich ‘mit anderen Worten’ wiedergibt -
aber eigentlich seine Meinung überstülpt; wenn ein Missverständnis eine
Freundschaft belastet.
So, wie mit Worten geschmeichelt und gestreichelt werden kann, kann auch mit
ihnen vergewaltigt werden.
Der vollendete Flirt, das Lob, das zärtliche Flüstern finden andere
Worte als die Beschimpfung, der Herrenwitz und die Herrschaftssprache.
Wenn gutwilliges und gleichberechtigtes Miteinander gewollt ist,
sollte jedenfalls der Mut gefördert werden, selbst zu reden, statt andere
für oder über eineN reden zu lassen. Kommunikationsfähigkeit ist keine Frage
des Intellekts. Das Aneinandervorbeireden, das Missverstehen, die leere
Geschwätzigkeit kommen auch bei denen vor, die Wortgebrauch gewöhnt sind.
Sprache hilft, sich zu verstehen
Wenn Liebe und Sexualität im Spiel sind, hilft Reden manchmal weiter:
Beim Kennen lernen, beim Zeigen und Berichten davon, was wir mögen und was
nicht; wenn sich zwei verabreden wollen; wenn es darum geht, das
Verhütungsmittel auszuwählen; wenn das Telefongespräch die gerade einzige
Möglichkeit ist, mit dem geliebten Menschen in Verbindung zu treten. Aber
Liebe und Sexualität werden längst nicht ‘gut’ durch Reden. Mit Reden können
auch Verletzungen zugefügt werden; in Reden können sich auch
Gedankenlosigkeit und Desinteresse ausdrücken. Sprechen von Sexuellem oder
darüber kann demütigen, beleidigen, unterdrücken, ängstigen.
Das Reden von Sexualität ist zudem keinesfalls das Einzige, was gut gelingen
sollte: Sich verstehen in Liebe und Lust passiert wesentlich im
Zusammenspiel der Gefühle und der Körper, hin und wieder auch ohne Worte.
Schweigen ist keineswegs immer nur das negative Gegenteil von
Reden: Es kann bewusstes Zuhören bedeuten, die Verweigerung von
Kommunikation, Ausdruck von Unsicherheit oder Abwartenwollen, Desinteresse,
Nichtverstehen, Versunkenheit und anderes mehr.
(aus:
U. Sielert, u. Siegfried Keil 1993, S. 35)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.07.2021