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Bausteine

Albert Camus: Prometheus in der Hölle (1956) (Auszüge)

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1946 verfasste »Albert Camus (1913-1960) unter dem Eindruck der furchtbaren Ereignisse des Zweiten Weltkriegs seinen kleinen Essay "Prometheus in der Hölle". Er ist Teil seiner 1954 erschienen Sammlung unter dem Titel »Heimkehr nach Tipasa (französischer Originaltitel L’Été, dt. "Sommer"), die verschiedene autobiographische Essays des französischen Schriftstellers und Philosophen enthält und ist benannt nach einer in der Sammlung enthaltenen Erzählung.

"Was bedeutet uns heutigen Menschen Prometheus? Man könnte zweifellos sagen, dass dieser gegen die Götter sich aufbäumende Rebell das Vorbild des heutigen Menschen sei, und dass dieser Protest, der sich vor Tausenden von Jahren in den Einöden Skythiens1 erhob, heute in einer geschichtlichen Umwälzung zu Ende geht, die ohnegleichen ist. Doch gleichzeitig mahnt uns etwas, dass dieser Verfolgte in uns weiterwirkt und wir noch taub sind für den großen Schrei der menschlichen Revolte, für die er das einsame Signal gegeben hat.

Der heutige Mensch ist wirklich jener, der in unwahrscheinlichen Massen auf der engen Erdoberfläche leidet, der Mensch, der des Feuers und der Nahrung entbehrt und für den die Freiheit ein Luxus ist, auf den man noch warten kann; für diesen Menschen bleibt nur übrig, immer noch etwas mehr zu leiden, wie für die Freiheit und ihre letzten Zeugen jetzt nur übrig bleibt, noch mehr zu schwinden. Prometheus war jener Heros, der die Menschen genügend liebte, um ihnen zugleich Feuer und Freiheit, Technik und Kunst zu schenken. Die heutige Menschheit benötigt und erstrebt einzig das Technische. Sie gelangt zum Ausbruch in ihren Maschinen und hält die Kunst und ihre Ansprüche für ein Hemmnis und ein Zeichen der Knechtschaft. Hingegen ist es für Prometheus kennzeichnend, dass er die Maschine nicht von der Kunst trennen kann. Er glaubt an eine gleichzeitige Befreiung des Körpers und der Seele. Der heutige Mensch glaubt, zuerst den Körper befreien zu müssen, selbst wenn der Geist — vorübergehend - zugrunde ginge. Doch — kann der Geist nur vorübergehend sterben? Kehrte Prometheus wieder, würden die Menschen heute wie die Götter damals handeln: Sie würden ihn an den Felsen schmieden im Namen eben jener Menschlichkeit, deren erstes Symbol er ist. Und die feindlichen Stimmen, die jetzt den Besiegten schmähen würden, wären wieder die der äschyleischen Tragödie2: die Stimmen der Macht und der Gewalt [...].

Der Mensch ist überall, überall sein Schrei, sein Schmerz und sein Drohen. Inmitten so vieler zusammengedrängter Kreaturen bleibt kein Ort für das Zirpen der Grillen. Die Geschichte ist unfruchtbarer Boden, wo kein Heidekraut wächst. Und doch: Der heutige Mensch hat seine Geschichte gewählt, und er konnte und sollte sich nicht von ihr abwenden. Aber statt sie sich untertan zu machen, lässt er sich Tag für Tag von ihr mehr in die Knechtschaft drängen. Hier verrät er Prometheus, diesen Sohn ›mit den kühnen Gedanken und dem leichten Herzen‹. Hier kehrt er zurück zum menschlichen Elend, daraus Prometheus ihn retten wollte. ›Sie sahen, ohne zu sehen, sie hörten, ohne zu hören, den Gestalten des Traumes gleich ...‹

Ja, ein Abend in der Provence3, die vollkommene Linie eines Hügels, der Geschmack von Salz genügt, um zu erkennen, dass alles neu zu schaffen ist. Wir haben das Feuer neu zu erfinden, die Werkstätten neu zu erbauen, um den Hunger des Körpers zu beschwichtigen. Attika, die Freiheit und ihre Ernten, das Brot der Seele, sind für später. [...] und werden wir die Kraft haben, das Heidekraut zum Blühen zu bringen? Auf diese Frage, die sich in unserm Jahrhundert erhebt, glaubt man die Antwort des Prometheus zu hören. [...]  Wenn es wahr ist, dass das Heil in unseren Händen liegt, so werde ich die aufgeworfene Frage dieses Jahrhunderts bejahen, wegen dieser überlegten Kraft, dieses eingeweihten wissenden Mutes, den ich immer wieder in einigen meiner Freunde erkenne. [...] Die Männer, von denen ich spreche, sind ebenfalls Söhne der Gerechtigkeit. Auch sie leiden in ihrer Bewusstheit um alle. Sie wissen, dass es keine blinde Gerechtigkeit gibt, dass die Geschichte ohne Augen ist und dass man ihre Gerechtigkeit zurückweisen muss, um ihr, soweit es möglich ist, die Gerechtigkeit zu unterstellen, die der Geist besitzt. In diesem Sinne kehrt Prometheus in unserm Jahrhundert wieder.

Die Mythen leben nicht aus sich selbst. Sie warten darauf, dass wir sie verkörpern."

(Quelle: Mythos Prometheus. Texte von Hexte von Hesiod bis Rene Char, hrsgg. v. Wolfgang Storch und Burghard Damerau, Leipzig 1995: Reclam Verlag, S. 144ff.)

Worterklärungen:

1 Skythien: Als Skythen werden einige der Reiternomadenvölker bezeichnet, die ab etwa dem 8./7. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland und der Ukraine von der unteren Wolga und dem Kuban bis zum Dnister bewohnten.
2 äschyleische Tragödie: Der Prometheus-Stoff hat seinen literarischen Niederschlag in zahlreichen Werken seit der Antike gefunden. Die Stoffgeschichte nimmt dabei ihren Ausgang von »Aischylos' (525 v. Chr. - 456 v. Chr.) tragischer »Trilogie, "die den Empörer, den gefesselten und den befreiten Prometheus behandelte" (Frenzel 1976, S.611) Von dieser Trilogie ist nur der Teil »"Der gefesselte Prometheus" erhalten geblieben.
3 Provence: Die »Provence ist ein historisches Gebiet im Südosten von Frankreich.[1] Sie liegt am Mittelmeer zwischen Rhônetal und Italien

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Gert Egle. zuletzt bearbeitet am: 19.11.2024

    
   Arbeitsanregungen:

Vergleichen Sie die Bedeutung, die Prometheus in Goethes • Prometheus-Hymne besitzt mit der Bedeutung des Prometheus-Mythos in dem Essay von Albert Camus.

Beantworten Sie im Zusammenhang damit die folgenden Fragen:

  • Was thematisiert Goethes Gedicht in Bezug auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott?
  • Welche Haltung vertritt Prometheus in Goethes Gedicht gegenüber Zeus und den Göttern?
  • Inwiefern kommt dabei die  Selbstbestimmung und Schöpferkraft des Menschen zur Sprache?
  • Was macht für Camus Mythos von Prometheus für den modernen Menschen bedeutsam?

  • Welche Rolle spielt bei Camus in diesem Zusammenhang das Leiden von Prometheus?
  • Welche Rolle spielt der Begriff der Rebellion bei Camus? Wie unterscheidet sich diese Rebellion von der bei Goethe?
  • In welcher Beziehung steht Prometheus in beiden Texten zur Macht, sei es zu den Göttern oder zu seiner eigenen Existenz?

  • Welche sinnbildliche Bedeutung besitzt Prometheus für die Menschen in den beiden Texten?
 
 
 

 
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